Nils Neuwald – Die Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten: Eine kriminologische Untersuchung für Deutschland und Europa – Rezensiert von: Karsten Lauber

Neuwald, Nils (2018); Die Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten: Eine kriminologische Untersuchung für Deutschland und Europa; 167 Seiten, Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-86676-551-1, 19,90 €

1.    Thema

„Nach G20-Gipfel: Hamburg führt Kennzeichnungspflicht für Polizisten ein“ (Schäfer 2018).

Neben der Polizeibeschwerdestelle zählt die Kennzeichnungspflicht zu den kontrovers diskutierten Themen, wenn es um Übergriffe[1] durch Polizisten geht. Seitens der Gegner einer Kennzeichnungspflicht wird häufig das Argument eines Generalverdachts gegen die Polizei herangezogen und insgesamt verwundert es nicht, dass die Diskussionen eher kriminalpolitisch oder emotional statt wissensbasiert geführt werden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist die „wissenschaftliche Auseinandersetzung“ (S. 19) mit der Kennzeichnungspflicht. Dabei soll insbesondere die Situation in Deutschland sowie in ausgewählten europäischen Ländern beschrieben und ins Feld geführte Argumente „identifiziert und überprüft“ (S. 20) werden. Explizit stellt der Autor auf eine Aktualisierung der inzwischen veralteten Publikationen ab (S. 30). In diesem Sinne versteht sich die Arbeit „vordergründig als Evaluations- und Wirkungsforschung“ (S. 20).

2.    Autor

Nils Neuwald ist als Erster Polizeihauptkommissar Fachkoordinator der Fachgruppe Recht und Verwaltung am Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum in Neustrelitz (Mecklenburg-Vorpommern). Die vorliegende Monografie basiert auf der kriminologischen Masterarbeit, die der Autor im Wintersemester 2017/2018 an der Universität in Hamburg einreichte. Für die Buchfassung wurden Aktualisierungen berücksichtigt, die sich nach Abgabe der Masterarbeit ergaben, so dass beispielsweise die o. a. Pläne in Hamburg bereits berücksichtigt sind (vgl. S. 81).

3.    Aufbau

Das Inhaltsverzeichnis kann dem Katalog der Deutschen Nationalbibliothek entnommen werden.

4.    Inhalt

Ziel der Arbeit ist die Beantwortung von fünf Forschungsfragen sowie von sechs einfach formulierten Hypothesen (S. 31). Im Ergebnis soll ein europäischer Überblick über den Umsetzungsstand zur Kennzeichnungspflicht gewonnen werden, um darauf aufbauend Argumente pro und contra einer Kennzeichnungspflicht zu erheben und zu analysieren. In die bemerkenswert umfangreiche schriftliche Erhebung wurden insbesondere Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen, Polizeigewerkschaften, Parteien, staatliche Institutionen sowie Literatur (insbesondere Parlamentsdrucksachen) einbezogen. Auffällig ist, dass bei der systematischen Analyse der Fachzeitschriften die MschrKrim und das Kriminologische Journal fehlen. Die Befragung der in die Erhebung einbezogenen Staatsanwaltschaften hat den Anspruch der „Repräsentativität“ (S. 37), allerdings überzeugt die (kurze) Darstellung der Stichprobenziehung nicht. Es bleibt unklar, weshalb sich beispielsweise weder eine bayerische Staatsanwaltschaft noch eine Staatsanwaltschaft aus Ostdeutschland in dem Sample wiederfindet. Demgegenüber ist NRW mit 19 Staatsanwaltschaften überrepräsentiert. Dies ist spätestens dann problematisch, wenn bei der Beantwortung von Hypothese 6, d.h. in Bezug auf die Frage nach Racheakten gegen Polizisten, festgestellt wird, dass in „Deutschland keine diesbezüglichen Vorfälle festgestellt werden“ konnten (S. 112). Ebenso wenig ist beispielsweise das Ergebnis der Prüfung der Hypothese 4 mit der Antwort „Es kam in Deutschland zu keinem signifikanten Anstieg bei der Anzeigenerstattung“ (S. 111) überzeugend. Bei der Beantwortung der Frage, inwieweit Beamte als Täter oder Zeugen nicht ermittelt werden können (vgl. S. 63) weist der Autor auf die 30 befragten Staatsanwaltschaften hin und nennt dabei im folgenden Absatz auch die StA München I mit dem Hinweis, „[d]ie StA München I gab an, dass […]“. Hier könnte der Eindruck entstehen, dass nun doch die Einbeziehung einer bayer. Staatsanwaltschaft erfolgte. Erst die Quellenangabe verdeutlicht, dass es sich bei dieser Aussage nicht um ein Befragungsergebnis handelt, sondern um die Einbeziehung eines Dokuments aus einer Expertenanhörung im Jahr 2011 (vgl. S. 63, 164).

Einleitend weist Neuwald auf die Historie der Kennzeichnungspflicht hin, die bis ins Jahr 1848 zurückreicht. Unbeantwortet bleibt leider die Frage, weshalb die nach dem 2. Weltkrieg teilweise vorhandene Kennzeichnung von Polizisten wieder abgeschafft wurde. Im Anschluss folgt ein Überblick über die Entwicklung der Kennzeichnungspflicht, die in den 1970er Jahren an Fahrt aufnahm. Danach schließt sich die Wiedergabe der Rückläufe aus den o.a. Erhebungen an, so dass die Positionen der unterschiedlichen Akteure deutlich werden. Für Zusammenschlüsse von Juristen, wie beispielsweise die „Neue Richtervereinigung“ (S. 48), hätte sich eine eigene Kategorie angeboten. Sie finden sich nun als Menschen- und Bürgerrechtsorganisation wieder (vgl. S. 45 ff).

Nach diesem Kapitel folgt die Analyse von 13 wesentlichen Argumenten gegen die Kennzeichnungspflicht (vgl. dazu das Inhaltsverzeichnis). Der Umfang von 12 Seiten lässt erahnen, dass die Auseinandersetzung kurzgefasst und mitunter etwas plakativ bleibt: „Der Vorwurf des Generalverdachts […] ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen“ (S. 70), führt der Autor an. An dieser Stelle überzeugt Arzt in seiner Stellungnahme zur Anhörung im Innenausschuss der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg mehr, in dem er darauf hinweist, dass [n]icht pauschales Misstrauen gegen Polizeivollzugsbeamtinnen […] Hintergrund einer (namentlichen) Kennzeichnung [ist], sondern die Grundsätze der Transparenz und der Überprüfbarkeit staatlichen Handelns im demokratischen Rechtsstaat“ (Arzt 2018: 4). Er nimmt dabei Bezug auf ein Urteil des VG Frankfurt am Main, wonach „die namentliche Bekanntheit jedes Amtsträgers zu den ‚Eigenarten des Beamtenverhältnisses‘ zählt“ (Arzt 2018: 4). Gerade bei den rechtlichen Ausführungen des Autors bleibt vorhandene juristische Literatur und Rechtsprechung zu wenig berücksichtigt. Bei der Frage nach negativen Auswirkungen auf die Motivation der Polizeibeschäftigten nimmt Neuwald u. a. Bezug auf zwei Masterarbeiten, eine Befragung der Gewerkschaft der Polizei und weitere, nicht näher beschriebene Erhebungen, so dass sich durchaus ein Hinweis auf noch unzureichende Forschung angeboten hätte. Positiv hervorzuheben ist, dass die zitierte Masterarbeit aus der DHPol öffentlich zugänglich ist und zum Download zur Verfügung steht (vgl. S. 68, 148). Der an sich flüssig, da prägnant formulierte Text verleitet jedoch auch zu Vereinfachungen, die dann eher Fragen aufwerfen, statt sie zu beantworten. Beispielsweise wenn es um Strafanzeigen und Verurteilungen geht. Dass „keine der Anzeigen […] zu einer strafrechtlichen Verurteilung“ (S. 74) geführt hat, berücksichtigt nicht andere Arten der Verfahrenserledigung. Auch die Anzahl von Strafanzeigen gegen Polizisten bzw. deren Identifizierung auf der Grundlage einer Kennzeichnungspflicht ist erst dann aussagekräftig, wenn die Art der Verfahrenserledigung berücksichtigt wird (vgl. S. 74).

Auf den Seiten 75 bis 104 folgt die Beschreibung des aktuellen Umsetzungsstandes auf der Ebene von Bund und Ländern sowie in ausgewählten europäischen Ländern. Hier wird deutlich, dass sich die Kennzeichnungspflicht in den europäischen Staaten in einer wie auch immer ausgestalteten Form etabliert hat. Demgegenüber ist die Kennzeichnungspflicht in Deutschland noch unbefriedigend geregelt. Bei der Bundespolizei sowie den Länderpolizeien in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg (siehe Reaktionsschluss), Niedersachsen, NRW, Saarland und Sachsen gibt es bis dato keine individuelle Kennzeichnung. Bei seinen Ausführungen zur Situation in Deutschland rekurriert der Autor auf die staatliche Polizei des Bundes und der Länder. Dass der Polizeibegriff im Einheitsprinzip, u.a. in Baden-Württemberg und Sachsen, weiter gefasst ist und beispielsweise auch die Kommunen als Ortspolizeibehörden (mit gemeindlichem Vollzugsdienst als Außendienst) einschließt, bleibt bei polizeiwissenschaftlichen[2] Arbeiten immer wieder unbeachtet – so auch hier. Angesichts des Umfangs der unterschiedlichen Regelungen in den Bundesländern und den europäischen Staaten hätten sich tabellarische Übersichten angeboten. Die Beschreibung des Umsetzungsstandes nimmt denknotwendig immer wieder Bezug auf vorherige Kapitel, beispielsweise durch eingebrachte Gesetzesinitiativen oder politische Initiativen. Dennoch gelingt es dem Autor, hier nicht in langatmige Wiederholungen zu verfallen und seinen prägnanten Stil beizubehalten.

Die Arbeit endet mit der Beantwortung der Forschungsfragen und der Hypothesen. Bei den Hypothesen wären klare Aussagen wünschenswert gewesen, ob diese angenommen, verworfen oder ggf. modifiziert werden müssen. Die o.a. bereits angeführte knappe Analytik zeigt sich auch hier, beispielsweise bei der Beantwortung der Forschungsfrage, ob die Einführung einer Kennzeichnungspflicht notwendig ist. „Sie ist nicht zwingend notwendig, schadet aber auch nicht“ (S. 109). Hier geben die selbst erhobenen Daten sowie verfügbare Literatur und Forschungsergebnisse ausreichend Informationen an die Hand, um eine überzeugendere Aussage treffen zu können (vgl. o.a. Arzt).

An etlichen Stellen wird in der Arbeit Bezug auf den Einfluss der Kennzeichnungspflicht auf das Vertrauen in die Polizei genommen, wobei diese (plausible) Aussage an keiner Stelle empirisch belegt ist. Hier hätte sich vielmehr ein Hinweis auf noch ausstehende Forschung angeboten. Dass die Polizei hohes Vertrauen genießt, wird mit „vereinzelte[n] Umfragen von Meinungsforschungsinstituten“ (S. 109) nachgewiesen. Vorhandene Erhebungen blendet der Autor damit aus, wie beispielsweise den ALLBUS-Datensatz (vgl. Lauber/Mühler 2017: 95). Der fehlende empirische Nachweis wird auch an anderen Stellen deutlich, zum Beispiel bei der Behauptung, die Kennzeichnungspflicht wäre „gesellschaftlich erwünscht“ (S. 113).

Das in der Schriftenreihe Polizei & Wissenschaft erschiene Buch weist die bekannte gute (Papier-)Qualität auf. Das Rezensionsexemplar beinhaltet jedoch zwei herstellungsbedingt beschädigte Seiten. Auffällig ist eine erhöhte Anzahl an Rechtschreibfehlern. Aufgabe eines Lektorats wäre es auch, an der richtigen Stelle aus einem „Täter“ (S. 17) einen Tatverdächtigen zu machen. Auch hat sich die Piratenpartei, die mit in die Erhebung einbezogen wurde, nicht „etabliert“ (S. 18). Durchgehend wird auf die „anonymisierte Kennzeichnung“ (S. 23) abgestellt. Damit ist gemeint, dass keine namentliche Nennung erfolgt, sondern eine Zahlen-/Buchstabenkombination verwendet werden soll. In diesem Fall handelt es sich allerdings um eine Pseudonymisierung. Sprachliche Aspekte werden auch bei dem Begriff der individuellen Kennzeichnung bei geschlossenen Einheiten deutlich, insbesondere dann, wenn diese nur auf die Ebene einer Einsatzgruppe reichen (vgl. S. 87). Bei einer solchen Kennzeichnung, die sich auf eine Gruppe bezieht, handelt es sich nicht um eine individuelle Kennzeichnung.

Die umfangreichen schriftlichen Erhebungen wirken sich auf das Literatur- und Quellenverzeichnis aus (S. 137 ff). Hier hätte sich eine Trennung von Literatur und Quellen angeboten.

5.    Fazit

Bei der Arbeit handelt es sich um eine sehr umfangreiche und gelungene Erhebung von Daten zur Kennzeichnungspflicht in Europa. Die genannten empirischen Ansprüche kann die Untersuchung jedoch nicht in dem Maße erfüllen, wie sie diese beansprucht, insbesondere da die Datenanalyse ihre Potenziale nicht ausschöpft. Ihren Mehrwert verdeutlicht die Arbeit dann, wenn sie als explorative Untersuchung verstanden wird. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor noch mehr auf die zahlreich vorhandenen Forschungsdesiderate hingewiesen hätte. Auf der Grundlage der Erhebung könnten weitergehende Analysen, die in dieser Arbeit leider zu kurz kommen, durchgeführt werden.

Generell ist kritisch zu prüfen, in welchem Format Masterarbeiten veröffentlicht werden. Mehr als die Buchveröffentlichungen im o.a. Verlag überzeugt der Ansatz der Ruhr-Universität Bochum, ausgewählte kriminologische oder polizeiwissenschaftliche Arbeiten (weitestgehend) im Abgabeformat über den Felix-Verlag anzubieten[3].

Für wen eignet sich das Buch? Interessierte, die sich mit der Kennzeichnungspflicht auseinandersetzen und einen kompakten Überblick über die Situation in Deutschland und Europa benötigen. Aufgrund des für eine Masterarbeit immensen Erhebungsaufwandes sollten Studierende mit schwachen Nerven jedoch vorsichtig sein, um sich nicht verunsichern zu lassen.

Verwendete Literatur

Arzt, C. Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamtinnen und -beamte in Hamburg, Drs. 21/12343 und 12342 vom 14. März 2018. Stellungnahme zur Anhörung im Innenausschusses [sic!] der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg am 15. Juni 2018. Berlin, 2018
Lauber, K.; Mühler, K. Ist das Vertrauen in die Institution Polizei eine Folge politischer Orientierungen?, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Nr. 2/2017, S. 87 – 102
Schäfer, S. Nach G20-Gipfel: Hamburg führt Kennzeichnungspflicht für Polizisten ein, in: Hamburger Morgenpost (online) vom 22.06.2018. Verfügbar unter: https://www.mopo.de/hamburg/polizei/nach-g20-gipfel-hamburg-fuehrt-kennzeichnungspflicht-fuer-polizisten-ein-30665590. Abgerufen am: 17.10.2018.

 

[1] Anders als in den USA dient die Bodycam in Deutschland nicht der Prävention gegen Polizeiübergriffe, sondern dem Schutz der Polizeibediensteten.

[2] Der Autor selbst beschreibt seine Arbeit als kriminologisch (vgl. S. 32).

[3] Verfügbar unter: http://felix-verlag.de/index.php?option=com_content&view=article&id=177&Itemid=66. Abgerufen am: 17.10.2018.

Rezensiert von: Karsten Lauber