Filmbesprechung „Die Jagd“ von Thomas Vinterberg

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Filmbesprechung „Die Jagd“ von Thomas Vinterberg; dänischer Spielfilm von 2012, 111 Minuten, FSK 12

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Der hier besprochene Film, international nominiert und ausgezeichnet, nimmt sich einem unbequemen Thema an: Der Pädophilie – gesamtgesellschaftlich gesehen ein sich eher im Dunkelfeld abzeichnendes Phänomen, welches in seiner verdeckten Omnipräsenz viel Besorgnis erregt. Laut der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) sind im Jahr 2014 insgesamt mehr als 64.000 Kinder unterschiedlichen Delikten, sowie in 14.191 Fällen dem versuchten oder vollendeten sexuellen Missbrauch, zum Opfer gefallen, darunter waren 1.737 Kinder im Alter von unter sechs Jahren betroffen[1], wobei sich diese Zahlen eben nur auf das Hellfeld beziehen und kindliche Zeugen ebenso wie Straftaten im Dunkelfeld nicht in diesen Statistiken inbegriffen sind.

Der in diesem Jahr aktuelle Skandal um die Missbrauchsvorwürfe an der Kita Maria Königin in Mainz[2] dokumentiert, welche tragreichen Konsequenzen unprofessionelles Verhalten der Beteiligten im Umgang mit solchen Vorwürfen nach sich ziehen kann. Und genau diese Fehlbarkeit, zwar von den Anschuldigungen abweichend vom genannten Kita-Skandal, aber hinsichtlich des Umgangs damit vergleichbar, wird von Thomas Vinterberg in besonderer dramaturgischer Weise in den Fokus genommen.

Denn die hier gezeichnete Konstellation ist eine andere, die in fiktiven Szenarien und auch in der Realität sicherlich seltener zugegen ist, aber (fast) ebenso erdrückend sein kann, wie die, in der ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat und man den Täter, aus Gründen einer ungünstig durchgeführten Anhörung des Opfers, nicht überführen oder man den eindeutigen Nachweis für die begangene Straftat nicht erbringen kann. Im Film verhält es sich wie folgt: Aus einer verdächtigen Äußerung der vierjährigen Klara, die nicht im Zusammenhang mit einem wirklichen Übergriff steht, aber von der zurecht besorgten Kindergartenleiterin Grethe ernst genommen wird, gerät der Kindergärtner Lucas (überzeugend gespielt von Mads Mikkelsen) unter Verdacht. Die Äußerung des Mädchens ist zum einen beeinflusst von aus einem anderen Kontext übertragenen, pornographischen Inhalten, zum anderen erwachsen aus der für das kindliche Alter möglichen, empfundenen Schwärmerei für den Kindergärtner – mit fatalen Konsequenzen, wie es im Film eindrücklich dargestellt wird. Denn aufgrund des im Raum stehenden Vorwurfs geht die Angst bei den Beteiligten um. Schnell verzweifelt das ganze Dorf schier an dem geglaubten Umstand, dass der normal erscheinende und nette Mitbürger und Kindergärtner, der auch noch ein enger Freund des Vaters von Klara ist, nun ein Pädophiler ist – was das Unterfangen der Selbstjustiz aufkommen lässt, den Grundsatz und die Alternativhypothese in dubio pro reo außer Acht gelassen.

Tragisch ist die Geschichte deshalb, weil man im Grunde genommen niemandem wirklich einen Vorwurf machen kann, denn alle Beteiligten sind betroffen und tun ihr Bestmögliches, um Licht ins Dunkel der im Raum stehenden Vorwürfe zu bringen. Auch das Entsetzen der Eltern und weiteren Beteiligten ist nachzuempfinden, versucht man sich in eine solche Albtraumsituation hineinzuversetzen, in der Hilflosigkeit eine bedeutsamere Rolle zu spielen scheint, als ebenso mögliche konstruktive Handlungsoptionen, die ein professionell-neutrales Vorgehen implizieren würden. Und diese Hilflosigkeit gepaart mit der Angst, dem Zweifel und der Unsicherheit, die die unmittelbar Beteiligten verspüren, und die sich auch in der gesamten Kommune manifestiert, was dann tragischer Weise in einer Art blinden Aktionismus mündet, ist durchaus menschlich und kann situationsübergreifend wiederholt beobachtet werden. Eine Erklärung für diesen fatalen Weitergang der Situation bietet sich im sogenannten Bestätigungsfehler (confirmation-bias) an, der nicht nur in ermittlungsrelevanten Befragungen zu vermeidende Konsequenzen nach sich ziehen kann, sondern auch im Alltag sehr menschlich ist: Die hypothesenbestätigende Suche und Filterung von Informationen, in der Hoffnung, sich der Wahrheit anzunähern, man denke an Karl Popper, die für das menschliche Dasein und Denken evolutionär adaptiv sein mag, mündet in diesem Zusammenhang – wohl am offensichtlichsten und zugleich auch für den Zuschauer quälerischsten dargestellt in der knapp fünfminütigen Befragung von Klara durch den befreundeten Sozialarbeiter – in das größte anzunehmende worstcase‑Szenario, das denkbar ist. Denn damit ist, obwohl die Motivation der Beteiligten nachvollziehbar und wohlwollend ist, am Ende niemandem geholfen.

Den Wissensvorteil, den man als Zuschauer hat, dass man um die Nichtexistenz des im Raum stehenden Missbrauchs weiß, muss man bei seinem Urteil über das Handeln der Beteiligten unbedingt berücksichtigen. Und auch dies lässt der Film in seiner Ausgestaltung zu, denn er ist, und das ist nebeneiner überzeugenden schauspielerischen Leistung und Dramaturgie, auch wenn selbstverständlich ein eindeutiges Urteil hinsichtlich der Verantwortung des Fehlverhaltens zu fällen ist, eher phänomenologisch und beschreibend angelegt, was die Besonderheit des Drehbuchs ausmacht. Es wird unausweichlich aufgezeigt, was aus solch einer komplexen Situation Schlimmes erwachsen kann, ohne dass man sich selbst davon freisprechen könnte, wirklich hätte anders gehandelt haben zu können, wenn man mit einem derartigen Szenario noch nicht in Berührung gekommen ist. Gegen Unsicherheit, Angst, Zweifel und Hilflosigkeit kann letztendlich nur ein Mittel Einsatz finden: Professionelles, gut geschultes Personal, welches in solchen Fällen konsultiert werden muss, bestenfalls frühzeitig, bevor andere Befragungen stattgefunden haben – seien es ausgebildete Personen der Polizei, Beratungsstellen oder weitere Prozessbeteiligte wie Anwälte oder Richter. Auch wenn es sich hier nur um ein Schauspiel handelt, sind die Darstellungen nicht fernab von der Realität, sondern, wie mehrfach dokumentiert werden konnte, eher typisch. Und da bereits „in frühen Phasen der Ermittlungsarbeit die Weichen für den Erfolg oder Misserfolg eines Verfahrens gestellt werden“[3], gilt es, eine landesweite Professionalisierung im Umgang mit Fällen des sexuellen Missbrauchs, auch in Hinblick auch die Vorgehensweisen in der polizeilichen Ermittlungstätigkeit, zu forcieren[4].

[1] Bundeskriminalamt (2015). Polizeiliche Kriminalstatistik 2014. Abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2014/2014Standardtabellen/pks2014StandardtabellenOpferUebersicht.html.

[2] dazu Ausgabe des ZEIT-Magazins vom 03.12.2015, „Skandal in der Kita – oder doch nicht? Eine Rekonstruktion“.

[3] Regber, A. (2007). Glaubhaftigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen unter Einbeziehung entwicklungspsychologischer Aspekte (Schriftenreihe der Thüringer Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung, Fachbereich Polizei, Bd. 5). Frankfurt [Main]: Verlag für Polizeiwissenschaft. Lorei. S.1.

[4] Weber, A., Berresheim, A. & Capellmann, M. (2011). Die Strukturierte Vernehmung: Die Methode für die Praxis der Polizei in NRW. Kriminalistik, 65 (3), 169–175.

Rezensiert von: Lena Jordan