Das Unbehagen an der Kultur – Ingo Schneider, Martin Sexl (Hrsg.)

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Schneider, Ingo & Sexl, Martin (Hrsg.); Das Unbehagen an der Kultur; Argument-Verlag Hamburg 2015, SBN 978-3-86754-318-7, 19.00 €

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„Das Unbehagen in der Kultur“ ist der Titel einer 1930 erschienenen Schrift von Sigmund Freud. Der hier vorgestellte Band geht in eine ganz andere Richtung: Die Beiträge wollen die „fatale Unschärfe des aktuellen Kulturbegriffs“ kritisieren, und die durchgängig positive Konnotation des Begriffes. Der Kulturbegriff sei in den Geisteswissenschaften längst zum Leitkonzept geworden und werde in öffentlichen Diskursen zunehmend inflationär verwendet.

Er sei daher unscharf. Kultur könne singuläre Praxis sein, Handlung oder Produkt oder wie im bildungsbürgerlichen Programm Abgrenzung von einem »kulturlosen« Zustand.

„Immer noch, sogar verstärkt greifen kulturalistische Konzepte um sich, die Kultur als Bündel von Eigenschaften definieren, durch die sich die Mitglieder einer Gruppe auszeichnen und von anderen Menschen unterscheiden, die anderen Gruppen, anderen »Kulturen« angehören“[1]. Konkret gemeint ist damit z.B. die „deutsche Leitkultur“, die im Moment allerorts eine Rolle spielt und auch in Verbindung mit den Ereignissen in Köln an Silvester bemüht wurde (die Täter sollen sich gefälligst an unsere deutsche Kultur anpassen…).

Aus diesem Kulturbegriff, der die Gesellschaft anhand von Identität und Differenz organisiert, lässt sich, so die Herausgeber, politisches Kapital schlagen. Das titelgebende Unbehagen entzündet sich dabei an zwei parallelen Entwicklungen: der anhaltenden Konjunktur unterschiedlicher Kulturkonzepte in aktuellen (gesellschafts)politischen Diskursen sowie dem ungebremsten Boom der Verwendung des Kulturbegriffs in den Geistes- und Sozialwissenschaften. „In vielen Teilen der Welt sehen wir heute, wie »Kultur« in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft instrumentalisiert wird: als Strategie der Simplifizierung und Naturalisierung bestehender Verhältnisse ebenso wie zur Legitimierung von Macht, Herrschaft und Gewalt. Dazu muss die Wissenschaft mehr sagen, als sie es bisher getan hat.“

„Wider die Kultur“ überschreibt Terry Eagleton seinen Beitrag in dem Band (ab S. 61), und bezieht sich dabei auch auf die „Polizeikultur“ als Beispiel dafür, dass diese Kulturbegriffe eine ungemeine Inflation durchgemacht haben. Während früher Kultur als Religionsersatz fungierte, verkommt er aktuell zum Schlagwort für alles und jeden. Hannertz (S. 91) spricht von einer „Rhetorik der Kultur“.

Der Kulturbegriff, wie wir ihn im Moment verwenden, dient der Simplifizierung und Verschleierung, er ist Mittel medialer und politischer Rhetorik sowie realpolitischen Handelns und dient sogar als Strategie zur Legitimierung von Gewalt (Wiederherstellung der deutschen Leitkultur; Schutz des deutschen Wesens, an dem …).

Gleichzeitig suggeriert der Begriff Stabilität und Sicherheit durch Tradition – wichtig in einer Situation, in der wir viele gewohnte Gewissheiten aufgeben (müssen). Unsere gefühlte und vielleicht auch die objektive Sicherheit ist dabei weniger durch die Ereignisse in Köln gefährdet als durch Faktoren wie die EU-Krise, den erwartbar nicht endenden Flüchtlingsstrom, die Krise der Regierungspolitik auch, aber nicht im Kontext der Flüchtlingsdiskussion, die nicht mehr kampfbereite Bundeswehr, durch den weltweiten Terrorismus, die Krise der Sozialsysteme (Renten) u.a. Wir fühlen uns derart in Mitleidenschaft gezogen, dass unsere überkommenden Erwartungen offensichtlich nicht mehr erfüllbar sind und unsere bewährten Strategien (kognitive Dissonanz) zur Abwehr dessen, was unsere Sicherheit gefährden könnte, nicht mehr greifen. Wie sollen wir auch verstehen, dass plötzlich die deutsche Wirtschaft gegen die CDU-geführte Regierung aufbegehrt und sich gegen ein Schließen der Grenzen wendet, dass die CSU gegen die eigene Regierung vor das Bundesverfassungsgericht ziehen will und die USA nicht mehr den Weltpolizisten spielen wollen und können? Und wenn GRÜNE plötzlich für mehr Polizei, härtere Strafen und Abschiebung votieren, wird das nicht nur das Weltbild Altlinker erschüttert.

Dies alles und die Einsicht, dass wir in Deutschland nicht mehr auf einer Insel der Glückseligen leben, die sich vom Rest der Welt abschotten kann, tragen dazu bei, dass wir unseren überkommenen Sicherheiten nicht mehr gewiss sein können. Diese allgemeine Verunsicherung macht sich nun an denjenigen fest, die man konkret und persönlich für diese Lage verantwortlich machen kann. Psychoanalytisch kennen wir dieses Mechanismus nur zu gut. Das Angebot von Sündenböcken, die uns derzeit geliefert werden, nehmen wir gerne an. Auf der anderen Seite suchen wir Geborgenheit in bekannten Begrifflichkeiten, und da hilft die „deutsche Kultur“ weiter und bietet Fluchten an.

Dem Band gelingt es, diese Fluchttür zu verschließen und gleichzeitig vor einer inflationären Verwendung des Begriffes auch in den Wissenschaften („Lehrstuhl für Kulturwissenschaften“) und im Alltag (Fußballkultur, Unternehmenskultur) zu warnen. Um mit Theodor Adorno zu schließen: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“[2].

 

[1] Dieses und das folgende Zitat stammt vom Klappentext des Buches auf http://www.argument.de/wissen_index_reload.html?wissenschaft/as/as318.html. Dort findet sich auch das Inhaltsverzeichnis.

[2] Adorno 1997, zitiert auf S. 13 f. des hier besprochenen Bandes.

Rezensiert von: Thomas Feltes