Diego Gambetta & Steffen Hertog – Diego Engineers of Jihad. The Curious Connection between Violent Extremism and Education

Gambetta, Diego & Hertog, Steffen; Diego Engineers of Jihad. The Curious Connection between Violent Extremism and Education; Princeton University Press 2016 24,99 Euro, ISBN 9780691145174

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Terroristische Anschläge scheinen in der Öffentlichkeit den Reflex auszulösen, sich die religiöse Sozialisation, die Bildungswege, die Berufstätigkeiten, die kriminellen Karrieren, den Familienhintergrund, die sexuellen Präferenzen, die psychiatrischen Krankengeschichten, die Gewohnheiten in puncto Drogenkonsum oder Computerspielfrequenz der Attentäter anzusehen – wohl in der Hoffnung, über die Verortung der Attentäter in der Sozialstruktur Aufklärung über ihre Motive zu erhalten und somit zukünftig Anschläge von Personen mit ähnlichen sozialstrukturellen Merkmalen verhindern zu können.“[1]

Das vorliegende Buch setzt diesem Reflex einen solide recherchierten und überaus spannend zu lesenden Kontrapunkt entgegen. Die „Ingenieure des Jihad“ macht deutlich, dass es deutliche Hinweise (und mehr) darauf gibt, dass eine Mehrzahl der (aktiven) Terroristen einen entsprechenden naturwissenschaftlich-technischen Ausbildungshintergrund aufweist. Dabei alleine bleibt das Buch aber nicht stehen, sondern die Autoren gehen der Frage nach, warum das so ist und warum gerade Ingenieure von der Idee des Islamismus und dem Jihad angezogen werden. Dieses soziostrukturellen Merkmal (hoher Anteil von Ingenieuren unter den Attentätern) islamistischer Terroristen war zwar bereits nach den Anschlägen vom 11. September 2001 aufgefallen, wurde danach aber ebenso vergessen wie die Tatsache, dass die damals eingeleiteten intensiven „Schleierfahndungen“ u.a. an deutschen Universitäten erfolglos waren – weil die Täter zuvor absolut unauffällig lebten und studierten.

Gambetta und Hertog weisen nach, dass der Anteil der Ingenieure unter den islamistischen Terroristen vierzehnmal höher ist, als man es beim Blick auf die erwachsene männliche Bevölkerung in ihren jeweiligen Herkunftsländern erwarten würde. Sie benutzen dabei den soziologischen Ansatz von der relativen Deprivation. Dieser Ansatz erklärt politisches Engagement im Allgemeinen und Bereitschaft zu terroristischen Aktivitäten im Besonderen mit nicht erfüllten Aufstiegshoffnungen. Im Prinzip ist das nichts Neues, aber in der Anwendung auf Ingenieure, von denen man eigentlich erwartet, dass sie nicht zu den „Abgehängten“ der Gesellschaft gehören, durchaus provokativ. Die Einsicht, dass es nicht die (absolute oder relative) Armut ist, die zur Islamisierung führt, sondern enttäuschte Aufstiegshoffnungen macht dann aber deutlich, in welche Richtung die Analyse der Autoren geht. Islamistische Bewegungen und ganz besonders islamistische Terrorgruppen seien, so lautet die These von Gambetta und Hertog, zum Fluchtpunkt für jene Hochschulabsolventen geworden, deren Aufstiegshoffnungen aufgrund der ökonomisch prekären Lage in ihren Herkunftsländern enttäuscht wurden. Überträgt man diese Einsicht auch auf andere Berufsgruppen, so wendet sich der Blick automatisch vom benachteiligten jungen Erwachsenen, der von sich und seiner Zukunftsperspektive frustriert sich dem Islamismus zuwendet hin zu Personengruppen, die möglicherweise auch Polizei und Verfassungsschutz so nicht im Blick haben.

Mit dem Hinweis, dass der von Gambetta und Hertog vertretene Ansatz einen „blinden Fleck“ habe, legt Stefan Kühl, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld, in seiner Besprechung des Buches in der taz den Finger in die Wunde. Er schreibt: „Es mag zwar sein, dass der Anteil von Personen mit enttäuschten Aufstiegsambitionen in einer Protestbewegung besonders hoch ist, aber zugleich fällt auf, wie viele Personen mit enttäuschten Karriereambitionen sich nicht radikalisiert haben. So mag zwar ins Auge stechen, dass der Anteil von Ingenieuren unter den islamistischen Terroristen hoch ist, aber trotzdem ist nicht zu übersehen, dass ein Großteil der aus arabischen und nordafrikanischen Staaten stammenden Ingenieure nicht zu islamistischen Terroristen wurde.“[2]

Diese Feststellung wird sehr oft auch von Kriminologen verwendet, wenn es um die Erklärung von Kriminalität anhand bestimmter Theorien geht. Es gibt immer mindestens genauso viele Menschen, die unter den gleichen Voraussetzungen NICHT kriminell geworden sind oder werden, wie diejenigen, die Straftaten begehen – meistens sogar deutlich mehr. Schon früh wurde daher die Forderung erhoben, mehr auf protektive Faktoren und die sog. „Salutogenese“[3] zu konzentrieren, also der Frage nachzugehen, warum jemand unter bestimmten Bedingungen nicht kriminell wird, als immer nur nach Negativfaktoren zu suchen.

Soziostrukturelle Merkmale erklären somit wenig, sind aber nicht wegzudiskutieren. Kühl weist dann auch darauf hin, dass bei den islamistischen Terroristen in Belgien und Frankreich auffällt, dass die Radikalisierung innerhalb von Familien abgelaufen ist, während bei den salafistischen Extremisten in Deutschland sich die Radikalisierung häufig in Freundesgruppen abspielt, die für ihre Mitglieder immer mehr zum zentralen sozialen Bezugspunkt werden. „Erst wenn man die Funktionsweise dieser unterschiedlichen sozialen Formationen von Terroristen in den Blick nimmt, begreift man, warum bei den Linksextremen so viele Sozial- und Geisteswissenschaftler vertreten sind oder bei den Islamisten so viele Ingenieure“.

Das mag richtig sein und sollte weiter verfolgt werden; dennoch ist dieses Buch ein wichtiger Baustein im Verständnis des islamistischen Terrorismus. Es gehört daher in jede Universitätsbibliothek und besonders in die an Polizei-Hochschulen.

PS: Ein Text der Autoren unter dem gleichlautenden Titel ist beim Department of Sociology der University of Oxford als Sociology Working Papers, Number 2007-10 im Jahr 2017 erschienen und steht unter www.sociology.ox.ac.uk/materials/papers/2007-10.pdf zur Verfügung. Er ersetzt natürlich nicht den aktuellen Buch-Text, kann aber aus guter Überblick dienen.

[1] http://www.taz.de/!5335800/

[2] aaO.

[3]  Salutogenese ist ein Rahmenkonzept, das sich auf Faktoren und dynamische Wechselwirkungen bezieht, die zur Entstehung und Erhaltung von Gesundheit führen.

Rezensiert von: Thomas Feltes