Ulrich Brieler, Rainer Eckert (Hrsg.) – Unruhiges Leipzig.

Brieler, Ulrich, Eckert, Rainer (Hrsg.); Unruhiges Leipzig. Beiträge zu einer Geschichte des Ungehorsams in Leipzig; Leipzig, 2016, 524 S., ISBN  978-3-96023-049-6, 62,00 Euro.

leipzig

„Wir haben hier einen sehr militanten linken autonomen Teil … mit teilweise terroristischen Tendenzen“ (Leiter eines Polizeireviers in Leipzig).[1]

Rund 25 Jahre nach der friedlichen Revolution scheint Unruhe in Leipzig zu herrschen. Denn ein Jahr nach der Äußerung eines Leipziger Polizeiführers beschloss die örtliche Ratsversammlung[2], „ein Forschungsvorhaben zu den ‚Ursachen urbaner Gewalt in Leipzig‘ […] zu initiieren“ und am 19. Oktober 2016 veröffentlichte der Leipziger Universitätsverlag den Band „Unruhiges Leipzig“. Ist Leipzig eine unruhige oder gar rebellische Stadt?[3]

Der Band Unruhiges Leipzig. Beiträge zu einer Geschichte des Ungehorsams in Leipzig[4] ist Teil einer umfassenden wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, den die Stadt Leipzig im Jahr 2015, anlässlich des 1.000 Jahrestages ihrer Ersterwähnung, initiierte. Das Hauptwerk ist eine auf vier Bände[5] angelegte Gesamtdarstellung der Stadtgeschichte.

Die Publikationsreihe „Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig“ dient dabei der Begleitung und Entlastung der Arbeiten an der vierbänden Stadtgeschichte[6]. Unter dem Titel „Unruhiges Leipzig“ erschien nun der 12. Band dieser Publikationsreihe. In 22 Aufsätzen spannt das 524 Seiten starke Werk einen Bogen vom ersten Bürgeraufstand gegen den Markgrafen (1212/1216) bis zu den LEGIDA-Demonstrationen bzw. No-LEGIDA-Protesten im Jahr 2015. In ihrem einleitenden Aufsatz weisen die Herausgeber allerdings auch auf wesentliche Leerstellen hin, unter anderem die Jugendsubkultur vor 1989 und die alternative Szene der Nachwendezeit sowie den Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland. Dabei stellen die Herausgeber die Frage nach dem „Warum gerade Leipzig?“ (S. 12) und Elke Urban geht noch einen Schritt weiter, in dem sie in ihrem Beitrag zur „Schule im Widerstand“ (S. 345 ff) ein Zitat über ein „spezielles Leipzig-Gen“[7] (S. 345) aufgreift. Diese Ansatzpunkte sind aus kriminologischer Sicht bemerkenswert, lassen sie doch an die Theorie der sozialen Desorganisation[8] denken und die zeitliche und personenunabhängige Kontinuität devianten Verhaltens in den delinquency areas Chicagos. Im Hinblick auf die Stabilität der Delinquenz in bestimmten Gebieten konnte dabei zunächst „der Eindruck entstehen […], als ob der Raum selbst Kriminalität hervorbringen […] würde“[9]. In der Stadtforschung hingegen wird seit einigen Jahren zunehmend eine „Eigenlogik“[10] der Städte diskutiert, die an die „Individualisierung des Ortes“ von Georg Simmel[11] denken lässt.

Mit der Verwendung des Begriffs der Unruhe hatten die Herausgeber möglicherweise Wittgenstein[12] im Sinn, denn „Begriffe leiten uns zu Untersuchungen […] und lenken unser Interesse.” Die zugleiche Verwendung des autoritätsbezogenen Begriffs des Ungehorsams im Untertitel lässt jedoch erahnen, dass der eigene Meinungsbildungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Der wohl bewusst offen gehaltene Begriff der Unruhe schlägt sich auf die Gesamtbetrachtung der 22 Aufsätze nieder, da die zusammenhaltende Klammer nicht immer deutlich wird. So resümiert der Aufsatz über „Armut und Ungehorsam“ ein lediglich „latentes Unruhepotential“ im „Massenphänomen der Armut“ im 18./19. Jahrhundert (S. 66). Dieser Aufsatz schließt an die Schilderung des Leipziger Calvinistensturms (1593) an, der damit einleitet, dass „Zeugnisse über innerstädtische Unruhen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Leipzig […] rar gesät“ sind (S. 39). Ob jedoch der Calvinistensturm ausreichend Stoff für die Begründung eines unruhigen Leipzigs hergibt ist fraglich, denn der Aufstand im Jahr 1593 ist in einem landes- und kirchengeschichtlichen Zusammenhang zu betrachten (S. 40) und die Calvinistenstürme selbst waren nicht auf Leipzig beschränkt (S. 52). Auch im weiteren Verlauf entwickelt sich nur schleppend eine in Leipzig spezifische Unruhe. So bleibt auch die Situation in Leipzig nach der französischen Revolution von 1789 vergleichsweise ruhig (S. 123 ff), so dass sich nach einem Drittel des Buches die Unruhe (oder Ungeduld) eher beim Leser einzustellen droht. Der „Umsturz en miniature“ von 1845 (Zerback, S. 139 ff) sowie die Geschichte der Emanzipationsbestrebungen im 19. Jahrhundert (Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in Leipzig) stellen dann jedoch klareres örtliches Konflikt- und Unruhepotenzial heraus. Vor allem Zerback beschreibt anschaulich die stark politisierte Buch- und Universitätsstadt Leipzig sowie die konfessionellen Rahmenbedingungen, als das katholische sächsische Königshaus über das protestantische Leipzig regierte. Es verwundert nicht, dass sich im Zuge der Industrialisierung und des starken Bevölkerungswachstums auch urbaner (Arbeiter-)Protest entwickelte, so dass sich die Buchbeiträge ab dem 19. Jahrhundert verdichten. Den Bogen zum unruhigen Leipzig verwässert dann allerdings wieder der Beitrag über die Fotografin Gerda Taro (S. 375 ff), der Lebensgefährtin (des als Fotografen wohl bekannteren) Robert Capa. Aufgrund ihres nur vorübergehenden Aufenthalts in Leipzig zwischen 1929 und 1933 befasst sich der Artikel vornehmlich mit dem spanischen Bürgerkrieg und fällt damit etwas aus dem Rahmen. Der 17. Juni 1953, und damit beginnt der Übergang zur DDR, wird aus Sicht der Messestadt geschildert Die Geburtsstadt Walter Ulbrichts, damals mit rund 605.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt der DDR, war stärker betroffen und stand mit im landesweiten Fokus. Die Detailtiefe der Schilderung verdeutlicht, dass es sich um ein intensiv aufgearbeitetes Stück DDR-Geschichte handelt (S. 397 ff). Ebenso gut erforscht, und deshalb anschaulich beschrieben, sind die leider erfolglosen Proteste gegen die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli am Karl-Marx-Platz, dem heutigen Augustusplatz, am 30. Mai 1968 (S. 431 ff). Mit dem sog. Schwarzwohnen in der späten DDR-Phase bzw. der Zeit des Übergangs (S. 449) folgt dann wieder ein Vorgang, den Leipzig nicht als Alleinstellungsmerkmal für sich beanspruchen kann. Verstöße gegen die „Wohnraumlenkungs-Verordnung“ waren ein „permanentes Phänomen in den späten Jahren der DDR“ (S. 454). Die Unruhen der friedlichen Revolution (S. 465) nehmen nur wenig Raum ein, was im Zusammenhang mit der Zielsetzung der Publikationsreihe zu berücksichtigen ist. Der hervorragende und pointierte Aufsatz des Mitherausgebers Prof. Dr. Eckert wird jedoch jedem zeitgeschichtlich Interessierten empfohlen. Der abschließende Aufsatz über unterschiedliche lokale oder in bundesweite bzw. globale Kontexte eingebettete Proteste zwischen 1991 und 2015 wäre in einer tiefergehenden Analyse wünschenswert gewesen. Hierfür wurde der gewählte Betrachtungszeitraum zu breit angesetzt. Auf die bereits hingewiesene Leerstelle in Bezug auf die alternative Szene nach 1989 (s. o.) fehlt gerade im Zusammenhang mit dem letzten Aufsatz ein wichtiges Puzzlestück, das der am Tagesgeschehen Interessierte sicherlich vermissen wird, zumal es für das Verständnis des Protests und Widerstands in Leipzig bis heute von Bedeutung ist.

Dass der Band Tagungsbeiträge (und mehr) des 7. Tages der Stadtgeschichte am 6./7. November 2014 enthält wird durch thematische Überschneidungen an verschiedenen Stellen deutlich, ist jedoch nicht zu kritisieren, sofern diese unterschiedlichen Betrachtungsrichtungen geschuldet sind. Über das studentische Unruhepotenzial an einer der ältesten deutschen Universitäten (Gründungsjahr 1409) hätte man gerne mehr gelesen, gleichwohl die Studentenschaft punktuell aufgegriffen wird (u. a. S. 81 ff, 140).

Die Idee, dem Band mit dem unklaren Begriff der Unruhe freien Lauf zu lassen, erweist sich als Fluch und Segen zugleich. Einige Aufsätze greifen den Begriff auf und verdeutlichen seine große Spannbreite. Andere Aufsätze wirken demgegenüber als Fremdkörper in diesem – im Übrigen sehr schön aufgemachten – Buch. Den Herausgebern kann zugestimmt werden, sofern sie das Buch auch als Ausgangspunkt für weitergehende Analysen und Forschungen sehen. Deshalb dürfte der Band vor allem bei Historikern sowie an speziellen Aspekten der Geschichte Leipzigs Interessierten auf Zustimmung stoßen. Inwieweit er darüber hinaus Zuspruch findet, bleibt angesichts des stolzen Preises von 62 Euro abzuwarten. Ein abwechslungsreiches und meist geschmeidig geschriebenes Lesebuch ist das Werk allemal. Abschließend bleibt festzustellen, dass eine eigenständige Leipziger Unruhe nicht entdeckt werden konnte.

[1] Leiter des Polizeireviers Leipzig-Südost am 19. April 2015 ggü. dem MDR. Zitiert nach: Sächsisches Staatsministerium des Innern, Drs.-Nr. 6/1401 vom 18. Mai 2015. Kleine Anfrage der Abgeordneten Juliane Nagel, Fraktion DIE LINKE.

[2] Stadt Leipzig, Ratsinformationssystem: Beschluss zur Vorlage VI-A-01916, Strategie gegen extremistisch motivierte Gewalt. Verfügbar unter: https://ratsinfo.leipzig.de/bi/to020.asp. Abgerufen am: 16.11.2016.

[3] Harvey, D.: Rebellische Städte, 3. Auflage, Berlin, 2014.

[4] Brieler, U./Eckert, R. (Hrsg.): Unruhiges Leipzig. Beiträge zu einer Geschichte des Ungehorsams in Leipzig, Leipzig, 2016. Im Nachfolgenden werden die Fundstellen in den Klammerzusätzen nachgewiesen.

[5] vgl. Stadt Leipzig. Verfügbar unter: http://www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/unsere-stadt/stadtgeschichte/wissenschaftliche-stadtgeschichte-leipzigs/. Abgerufen am: 31.10.2016.

[6] vgl. Stadt Leipzig. Verfügbar unter: http://www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/unsere-stadt/stadtgeschichte/schriftenreihe-quellen-und-forschungen/. Abgerufen am: 31.10.2016.

[7] Die Autorin zitiert dabei den ehem. Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig und Mitherausgeber, Prof. Dr. Rainer Eckert.

[8] vgl. Shaw, C. R.: Delinquency Areas Chicago, 1929.

[9] Schwind, H.-D.: Kriminologie und Kriminalpolitik. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen, 23. Auflage, Heidelberg u. a., 2016, S. 154 f; gleichlautend auch Redeker, R.: Kriminalgeographie – Ziele, Methoden und Anwendung. Kriminologische und kriminalistische Aspekte, zugleich Diss. iur., Freiburg im Breisgau, 1981, S. 12.

[10] Löw, M.: Soziologie der Städte, 2. Auflage, Frankfurt am Main, 2012.

[11] Simmel, G.: Der Raum und die räumliche Ordnungen der Gesellschaft, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. von Ottheim Rammstedt, Band 11, 8. Auflage, Frankfurt am Main, 2016, S. 711.

[12] vgl. Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main, 2003, S. 244.

[13] s. FN 1.

PS: Die einleitende Äußerung des Revierleiters war nach Auskunft des Sächsischen Staatsministeriums des Innern „umgangssprachlich gemeint“ [13].

Rezensiert von: Karsten Lauber