Gertrude Lübbe-Wolff – Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug und Untersuchungshaftvollzug.

Lübbe-Wolff, Gertrude; Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug und Untersuchungshaftvollzug.; Nomos Verlag, Baden-Baden, 2016, 488 Seiten, ISBN 978-3-8487-2510-6, 109 Euro

rechtsprechung_bundesverfassungsgericht

„[…] jeder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch. Dies also ist es, worauf das Recht des Herrschers zur Bestrafung von Verbrechen gegründet ist: auf die Notwendigkeit, das Verwahrnis des öffentlichen Wohls gegen partikulare Anmaßung zu verteidigen […].“ [1]

Nicht nur Cesare Beccarias erwähntes Ultima-Ratio-Prinzip, sondern eine Vielzahl von Straf- und Haftgrundsätzen sind verfassungsrechtlicher Natur. Gertrude Lübbe-Wolff [2] behandelt in ihrem Werk sowohl den Strafvollzug als intensivste aller repressiven Reaktionsformen auf strafbares Verhalten, als auch den Untersuchungshaft- und Maßregelvollzug.

Das Buch präsentiert hierbei zunächst übergreifende verfassungsrechtliche Fragen und Probleme zur Thematik, indem beispielsweise auf die prinzipielle Ressourcenknappheit im Vollzug eingegangen oder die mögliche Ungleichbehandlung eines Strafgefangenen im heute föderal organisierten Strafvollzug problematisiert wird. Diesem Abschnitt folgt der umfangreichste Teil des Buches, welcher sich mit dem materiellen Strafvollzugsrecht auseinandersetzt. Nachdem hier unter anderem die grundgesetzlich hergeleitete Resozialisierungsaufgabe des Vollzugs als auch der Schutzauftrag der Gesellschaft aufgegriffen werden, bildet die Rechtsprechung zum materiellen Strafvollzug mit sämtlichen vollzugstypischen Regelungen wie Besuche und Postverkehr, Verlegung, Vollzugslockerungen, aber auch Arbeit, Aus- und Fortbildung oder Disziplinarmaßnahmen und Haftraumverhältnisse den Schwerpunkt dieses Passus. Weiterhin wird in den folgenden Kapiteln sowohl die Rechtsprechung zum Maßregelvollzug als auch zur Untersuchungshaft präsentiert. Letzteres Themenfeld enthält neben wichtigen Unterschieden zum Strafvollzug eine detaillierte Beschreibung verfassungsrechtlicher Grundsätze zu Aufschlusszeiten, Hofgang, Besuche und Beschränkungen, Post oder Telefonate. Im letzten Abschnitt geht es ausschließlich um den Rechtsschutz des Inhaftierten und entsprechende grundrechtliche Bedingungen für das gerichtliche Verfahren.

Trotz einer detaillierten Kapitelgliederung und einer sinnvollen Unterteilung in Straf-, Maßregelvollzug und Untersuchungshaft enthält das Buch nicht nur wegen eines fehlenden Stichwortverzeichnisses und inhaltlichen Verdopplungen, welche die Autorin selbst zu bedenken gibt (vgl. S.35), formal-strukturelle bzw. stilistische Schwächen. Zunächst fällt der sehr direkte Einstieg mit der Behandlung von übergreifenden Verfassungsfragen und Problemen auf, welcher sich mit dem ebenfalls abrupten Ende spiegelt. Vermisst wird deutlich – ungeachtet des eher allgemein gehaltenen Vorwortes – sowohl ein „weicher“ Auftakt mit Einleitung und Einstimmung in die Materie als auch eine Zusammenfassung oder Schlussbemerkung. So wirkt die Platzierung dieses Teils eher irritierend und unpassend. Da die Thematisierung von Bundesverfassungsgerichtsurteilen insgesamt sehr deskriptiv bleibt, wären auch aus kriminologischer Sicht eine rechtsphilosophische und interpretative Auseinandersetzung zu schwierigen Fragen (z.B. Kriminal- bzw. Gefahrenprognose bei der Sicherungsverwahrung) gerade aus der Perspektive einer ehemaligen Verfassungsrichterin wertvoll und für eine persönliche Note insbesondere zu Beginn bzw. zum Ende auch passend gewesen. Auf Entwicklungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird kaum eingegangen und auch insgesamt wünschte man sich an einigen Stellen eine historische Einordnung (z.B. in Bezug auf das sog. „Strafgefangenenurteil“, in dem das Bundesverfassungsgericht das besondere Gewaltverhältnis als nicht ausreichende Grundlage für den Strafvollzug anmahnte und ein legitimierendes Strafvollzugsgesetz einforderte). Aufgrund des kritisierten Aufbaus, fehlender Begleitinformationen bzw. mangelnder Anschaulichkeit dürfte das Lesen des Buches gerade für Nichtjuristen und Laien nicht selten unübersichtlich und verwirrend wirken, obwohl Inhaftierte ausdrücklich ebenfalls als Buchadressaten genannt werden (vgl. S.5).

Was das Buch jedoch fern dieser Mängel kostbar macht, ist die erlesene Auswahl sowie die sinnvolle Verknüpfung wichtiger Gerichtszitate ausgesuchter Verfahren und Beschlüsse zum Vollzugswesen. Wichtige rechtsstaatliche Grundsätze wie z.B. das Verhältnismäßigkeitsprinzip, der Gesetzesvorbehalt der Strafe oder auch das Analogieverbot werden immer wiederkehrend hervorgehoben und in Zusammenhänge gebracht. Aber auch die Aktualität der präsentierten Verfassungsrechtslage ist ein Mehrwert des Buches, indem insbesondere offene Entscheidungen bzw. noch ausstehende Urteile genannt werden. Das Buch ist dabei kein Lehrbuch, sondern eher ein Sammelband, eine Kollektion von verfassungsrelevanten Entscheidungen und eignet sich daher ebenso für einen praktischen Soll-Ist-Vergleich beispielsweise in Bezug auf die menschenwürdige Gestaltung des Strafvollzugs, wie auch für die Sensibilisierung von Politik und Amtsträgern. Auf diese Weise erhält das Buch einen mahnenden Charakter und kann bezüglich der Bedeutung des Inhaftierens von Menschen als ein wachhaltendes und in Erinnerung rufendes Nachschlagewerk gesehen werden.

[1] Beccaria, Cesare: Über Verbrechen und Strafen. Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff [Hrsg.]. Frankfurt am Main, 1988, S.59.

[2] Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff (geb.1953) war von 2002 bis 2014 Verfassungsrichterin im 2. Senat am Bundesverfassungsgericht.

Rezensiert von: Dennis Gabeli