Wolfgang Schild – Verwirrende Rechtsbelehrung.

Schild, Wolfgang; „Verwirrende Rechtsbelehrung.“[1]; (ISBN: 978-3-643-13481-3, 70 Seiten, LIT Verlag, Berlin, 2016, 14,90 €)

verwirrende_rechtsbelehrung

Der Bielefelder Rechtsgelehrte Wolfgang Schild[2] zerpflückt mit dieser im November erschienenen strafrechtswissenschaftlichen Kritik Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“. Er tut das aber nicht als Kritikaster, sondern als Verteidiger eines moralischen Begriffs des Rechts[3], so die Einleitung der Buchbesprechung von Heribert Prantl in der Rubrik „Das politische Buch“ der Süddeutschen Zeitung vom 06.11.2016. Zur Handlung des seit den Ereignissen   an „9/11“ durchaus zeitaktuellen Theaterstücks[4] und zum Anlass der Kritik von Wolfgang Schild, die er via der von Prof. em. Dr. Vormbaum[5] herausgegebenen Schriftenreihe „humaniora“, Kleine Schriften, Band 3 der FernUniversität Hagen dem emeritierten Strafrechtslehrer und Kriminologen Franz Streng[6] im Vorgriff zu dessen 70. Geburtstag im Jahr 2017 widmet, hier in aller Kürze:

Ein Terrorist kapert eine Passagiermaschine und zwingt die Piloten, Kurs auf das voll besetzte Fußballstadion in München zu nehmen. Gegen den aus­drücklichen Befehl seiner Vorgesetzten schießt ein Kampfpilot der Luftwaffe das Flugzeug in letzter Minute ab, alle Passagiere sterben. Der Pilot muss sich vor Gericht für sein Handeln verantworten. Seine Richter, so die Anlage des Stücks von Schirach, sind die Theaterbesucher, sie müssen über Schuld oder Unschuld des Piloten urteilen. Das Stück thematisiert u. a. in „freier Auslegung“ auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006 zum Luftsicher­heitsgesetz[7]. Nun erfuhr das Theaterstück seine große Bühne: „Terror“ wurde am 17. Oktober zeitgleich im ARD, ORF und im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt. Das Besondere hieran: Die Zuschauer, gleichsam eine Euro­visions-Jury, saßen nach der fiktiven Gerichtsverhandlung via „TED“ über den Piloten zu Gericht. Annähernd 90 % der Zuschauer stimmten für „nicht schuldig“! Im Anschluss verglich Frank Plasberg in seiner Sendung „hart aber fair“ die Abstimmungsergebnisse der Länder und erörterte das Ergebnis mit Vertretern aus Politik, Kirche, Verbänden und Institutionen.

Art und Anlage dieses fiktiven öffentlichen Schauprozesses sorgten in den Folgetagen nach der Ausstrahlung vor allem bei Rechtswissenschaftlern aber auch bei Praktikern für beißende Kritik[8].

Die Hauptkritikpunkte stellt nun Prof. Schild in erfreulich unprätentiöser, sehr sachlicher Art und Weise in seiner „kleinen Schrift“ dar. Er widmet sich dabei im ersten Teil vor allem strafprozessrechtlichen Ungereimtheiten und im betreffenden Theaterstück ferner unberücksichtigt gebliebenen materiell-strafrechtlichen Fragestellungen. Dabei zeigt er auch die Widersprüchlichkeiten im Plädoyer der Staatsanwältin und des Verteidigers, die neben den Ein­lassungen des Piloten selbst den argumentativ diametralen Kern des Stückes bilden, auf. Schild wundert sich dabei vor allem über Schirachs argumentatives Durcheinander. Er wundert sich darüber, dass Schirach zentrale strafrechtliche Probleme gar nicht anspricht. Und er wundert sich darüber, dass Schirach, immerhin Strafverteidiger von Beruf, in seinem Stück zwischen Unrecht und Schuld nicht unterscheidet, so Prantl zusammenfassend (vgl. Fn. 1). In einem zweiten Teil der „kleinen Schrift“ äußert sich Schild zu „Spekulativem im Hintergrund“ (S. 49 ff.) und beleuchtet dabei im Dunkel der Anlage des Stückes gebliebene grundlegende rechtsphilosophische bzw. ambivalente Frage­stellungen, z. B. unter der Überschrift „Heros und strafrechtliche Schuld“, von denen sich praktische Rechtsetzung bzw. -spre­chung indirekt beeinflusst sieht, die sie aber kasuistisch nur lege artis und nicht moralisch aufgeladen aufzulösen im Stande ist. Hier schließt er mit der eigentlichen Frage des Stücks, „ob nämlich der Mensch – der in der Inszenierung auf der Bühne vor unseren Sinnen die Fragen der Staatsanwältin, des Verteidigers und des Richters beantwortet – sich so darstellen kann, dass wir ihm z. B. die existenzielle Entscheidungsnot, die ihn entschuldigen würde, glauben und abnehmen; oder ob er sich als dieser rechtsfeindliche, sich über das Recht erhebende Entscheidungsheros gibt, dem ein Schuldvorwurf zur Recht gemacht werden kann“ (S. 64). Diese Frage, so die Kritik im Allgemeinen, „darf nicht der Kunst der Schauspieler, des Regisseurs, kurz: der gesamten Theaterbühne, auf der ein packend geschriebenes, diese Frage in einer sehr starken Intensität ansprechendes Stück, überlassen bleiben.“ Einzig das Gericht hat nach sorgfältiger Abwägung der vorgetragenen, in diesem Fall unbestrittenen Fakten ein sachgerechtes schuldangemessenes Urteil unter Abwägung möglicher Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- bzw. Entschuldi­gungsgründe über den Angeklagten zu treffen. Ein, wie ich meine, gelungenes Plädoyer für einen regelgeleiteten Rechtsstaat.

„Zu Theater- und Konzertaufführungen gibt es Programmhefte, in denen, nicht selten auf ambitionierte und blasierte Weise, Handlung oder Musik erklärt werden. Wolfgangs Schilds Schrift über die Rettungstötung und ihre juristischen Probleme ist der Idealfall eines Programmheftes. Viele Fragen, die in Leserbriefen erregt diskutiert wurden, finden dort eine Antwort. So klug kann Rechtswissenschaft sein.“ Besser als Heribert Prantl kann man die Essenz der „kleinen Schrift“, die diese adjektivische Erweiterung bei weitem übertrifft, kaum darstellen. Empfehlung: Absolut lesenswert!

 

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/fiktion-und-realitaet-rettungstoetung-schuld-und-unschuld-1.3236144, Besprechung des Buches von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, zuletzt abgerufen am 28.11.2016

[2] Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsgeschichte und Rechtsphilosophie an der Universität Bielefeld, http://www.jura.uni-bielefeld.de/lehrstuehle/schild/, zuletzt abge­rufen am 28.11.2016

[3] Vgl. hierzu auch Fn. 1

[4] 2015 von Ferdinand von Schirach im Verlag Piper herausgegeben. Von Schirach war selbst mehr als 20 Jahre lang Strafverteidiger in München und lebt heute als freischaffender Autor in Berlin, vgl. http://www.schirach.de, zuletzt abgerufen am 28.11.2016.

[5] https://www.fernuni-hagen.de/strafrecht/team/thomas.vormbaum.shtml, zuletzt abgerufen am 28.11.2016.

[6] http://www.fk.rw.uni-erlangen.de/Vita/microsoft-word-vita-2015.doc.pdf, Vita Prof. em. Streng, zuletzt abgerufen am 28.11.2016

[7] BVerfG 1 BvR 357/05 vom 15.02.2006, zuletzt abgerufen am 28.11.2016. Das Gericht hatte damals u. a. (vgl. Leitsatz 3) entschieden, „die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, sei mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.“

[8] Vgl. hierzu nur den Bundesrichter Thomas Fischer, der seine Einwände als erster dezidiert und mit der ihm eigenen rhetorischen Schärfe am Folgetag nach der Ausstrahlung, also am 18.10.2016, in seiner Kolumne „Fischer im Recht“ in der „ZEIT“ vortrug. Vor allem verwehrte er sich gegen Kritik am Rechtssystem via „vox populi“: „Bevor man die Ergebnisse dieses Rechtssystems also immerzu als falsch, parteiisch, voreingenommen, illegitim verachtet, sollte man überlegen, was man da tut, aus welchen Gründen man es tut und mit welchem besseren Recht. Das Obsiegen von bloßem Geschwätz aus Betroffenheit oder Empörung ist das Schlimmste, was einem Rechtsstaat passieren kann.“

Rezensiert von: Holger Plank