Markus Rothhaar – Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion.

Rothhaar, Markus [1]; Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion.[2]; (ISBN: 978-3-16-153558-1, 363 Seiten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2015, 89.- €)

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Der vorliegende Band, mit dem Prof. Dr. Rothhaar im Jahr 2013 an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität Hagen habilitierte, ist der vierte in der von Mohr Siebeck verlegten und von Reiner Anselm et al. herausgegebenen Reihe „Perspektiven der Ethik“.[3]

„Das opake und doch so wirkmächtige Konzept der Menschenwürde beschäftigt, fasziniert und verwirrt spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterschiedliche Disziplinen. Die ideengeschichtlichen Entwicklungslinien weisen dabei zwar manche Parallelen und Überschneidungen auf; tendenziell nimmt aber die fachbezogene Ausdifferenzierung des Diskurses zu. Das gilt auch und gerade im Verhältnis von Rechtswissenschaft und Philosophie. Markus Rothhaar stellt sich vor diesem Hintergrund der schwierigen Aufgabe, eine interdisziplinäre Begriffsbestimmung und Konzeptionalisierung vorzunehmen, die den philosophischen Grundlagen wie der kurrenten juristisch-normativen Konkretisierung gerecht wird. Ihm geht es darum, ‚eine Theorie der Menschenwürde als Rechtsbegriff zu formulieren’ (S. 25), die für beide Seiten anschlussfähig ist.“[4]

Der Begriff „Menschenwürde“ überstrahlt unsere gesamte Rechtsordnung mit „gleißendem Licht“, nicht nur deshalb, weil er – bereits im ersten Absatz des ersten Artikel unserer Verfassung statuiert[5] – eine systemische rechtliche Klammerwirkung entfaltet und fortfolgend in alle gesellschaftlichen Rechts- und Sozialkonstruktionen ausstrahlt. Er begegnet uns daher alltäglich in vielerlei rechts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen. Was verstehen wir bspw. unter der Klammer dieses wirkmächtigen Leitbegriffs unter einem „menschenwürdigen Leben“ oder auch unter „menschenwürdigen Sterben“[6]? Was bedeutet Menschenwürde angesichts zunehmender Anonymisierung gerade in den westlichen Industrieländern und einerseits Vereinsamung, andererseits zunehmender Verrohung der allgemeinen „Sitten“, bspw. beinahe allgemein gebräuchlicher persönlicher Schmähungen bzw. sogar Hasspostings in einer digitalen Welt? Wie wollen wir als Gesellschaft mit Schutzbedürftigen umgehen und wie wirkt sich hierbei das grundlegende Prinzip der Menschenwürde aus? Wie weit legen wir z. B. den Begriff der „Solidargemeinschaft“ aus, wie weit geht dabei die Eigenverantwortung oder ist dieses grundlegende soziale Schutzprinzip unter dem Leitgedanken des Menschenwürdebegriffs und seiner konkreten rechtlichen Ausformung[7] überhaupt sachgerecht und „würdevoll“ beschränkbar? Viele Fragen, viele unterschiedliche Antworten, also relativ viel Unklarheit schon in unserer deutschen Rechtsordnung, die allerdings, so der Autor (S. 93), „das derzeit sicherlich weitgehendste Modell einer Verankerung der Menschenwürde in einem konkreten Rechtssystem bietet!“

Schon bei diesem schemenhaften Entwurf der gesellschaftlichen Spannbreite des Menschenwürdebegriffs wird also deutlich, was Prof. Augsberg in seiner Besprechung (vgl. oben und Fn. 4) sehr zutreffend als „opak und doch so wirkmächtig“ bezeichnet. Hinzu kommt, so der Autor der Studie, dass man sich im wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Kontext immer sehr „schnell auf den Menschenwürdebegriff als Grundlage gemeinsamer Überlegungen einigen“ könne, die verschiedenen Professionen – Juristen, Theologen, Sozial- und Naturwissenschaftler – darunter aber häufig Dinge einordnen und verstehen, „die unterschiedlicher kaum sein können.“

Der Begriff der Menschenwürde beeinflusst demnach fortdauernd den politischen und gesellschaftlichen Diskurs über die Grundlagen unseres Gemeinwesens. Er ist der rechtliche und soziale „Leim“, der für einen ausreichenden gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt. Um so wichtiger ist es, dass immer wieder der Versuch – hier in einer sehr gelungenen Symbiose unterschiedlicher professioneller und zeitgeschichtlicher  Sichtweisen – unternommen wird, den „opaken und dennoch oder gerade deshalb (?) wirkmächtigen“ Menschenwürdebegriff auszu­differenzieren.

Rothhaar weist zu Beginn unter der begrifflichen Klammer der „normativen Beliebigkeit und der vermeintlichen Redundanz“ des Begriffs dezidiert darauf hin, dass die „Betonung der Unantastbarkeit und Vorrangigkeit der Menschenwürde (zutage tretend insbesondere im Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland) in einem umgekehrt proportionalen Ver­hältnis zur Klarheit ihres normativen Gehalts, ihrer Rechtsfolgen und ihrer Stellung innerhalb des Rechtsgefüges“ steht. Mit einigen gut gewählten Beispielen und mit zusammenfassenden Exkursen im fünften und sechsten Kapitel zum „Erniedrigungsverbot“ oder aber auch zum „Verbot der Sklaverei“ (heute, ob man es glauben will oder nicht, so aktuell wie nie zuvor, wenn man nur an prostitutionsbedingten Menschenhandel, organisierte Bettelei oder aber Arbeitssklaverei und verabscheuungswürdige menschliche Ausbeutung denkt!) stellt er eingangs die „Ambivalenz“ des Begriffs hinsichtlich der „strahlenden Leuchtkraft des Begriffs“ an sich und „chronischer Unklarheit und Vieldeutigkeit seiner Verwendung“ dar. Mit Bezug auf seine „inflationäre Verwendung“ in der Rechtsanwendung macht er dadurch deutlich, dass vielen derartigen Entscheidungen offenkundig kein „rechtsphilosophisch nachvollziehbarer, termi­nologisch bestimmter rechtlicher Menschen­würdebegriff“ zugrunde liege. Eine derartige nahezu beliebig ausfüllbare Begriffsauslegung sei jedoch mindestens ideologie-, im Zweifel sogar missbrauchsanfällig, jedenfalls dann, wenn dem Menschenwürdebegriff, wie im kasuistischen juristischen Kontext durchaus nicht unüblich, der Charakter eines „Quasirechts mit eigenen Verletzungstatbeständen zuge­sprochen werde und dieses Recht als unabwägbares Recht über die vermeintlich durchweg abwägbaren sonstigen Grund- bzw. Menschenrechte gestellt werde.“ Gerade deshalb versucht sich Rothhaar kenntnisreich und im inhaltlichen Aufbau sehr gelungen an einer komplementären „Rettung des Menschenwürdebegriffs für Ethik und Rechtsphilosophie“. Hierzu entwirft er eine „argumentativ abgesicherte theoretische Bestimmung seines normativen Gehalts“, außerhalb des ausschließlich juristischen Kontextes einerseits und er versucht sich andererseits an einem Nachweis, dass „auf den Menschenwürdebegriff nicht verzichtet werden kann, ohne erhebliche Lücken in Begründung und Anwendung des Rechts“ zu reißen. Dabei meistert er die Vielfalt des Menschenwürdebegriffs, auf die er ohne Anspruch auf Vollzähligkeit der zahlreichen theoretischen Entwürfe zurecht hinweist (S. 19)[8], auch methodisch sehr ansprechend und reflektiert in insgesamt sieben inhaltlich untergliederten Kapiteln. Neben der Einleitung, in der der Autor, wie oben in der gebotenen Kürze dargelegt, auf den ambivalenten Begriff der Menschenwürde und allgemeine methodische Fragen des Entwurfs einer „Philosophie der Menschenwürde“ eingeht, widmet sich Rothhaar im zweiten Kapitel zunächst der „Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs“, um anschließend, fußend auf diesem aktuellen Verständnis im juristischen Kontext und dessen Spannbreite, einen zunächst geschichtswissenschaftlichen Exkurs zur Entwicklung und zum Verständnis der „Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance“, also zur durchaus unterschiedlich verwendeten „dignitas“ zu unternehmen. Anschließend widmet er sich in zwei Kapiteln moralphilosophischen Überlegungen zum „Begriff der Menschenwürde bei Kant“ und zu „Fichtes anerkennungstheoretischer Grundlegung des Rechts“. Im sechsten Kapitel kommt Rothhaar zu „unbedingten Plichten und unabwägbaren Rechten“ im Zusammenhang mit der Menschenwürde. Zu letzteren, den unabwägbaren Rechten, nimmt er v. a. Bezug auf Hegel, um im abschließenden, Kapitel zu seiner Zielsetzung und zur Themenstellung „Menschenwürde als Rechtsprinzip“ zu resümieren.

Es wird in der Arbeit insbesondere deutlich, dass deutsche Verfassungsrechtsdogmatik und praktische Philosophie im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern, in denen der Menschenwürde im Gegensatz zu Deutschland keine derart zentrale, rechtsbegründende Rolle zukommt, eine genuin komplementäre Funktion und Bedeutung füreinander haben. Rothhaar verweist in diesem Zusammenhang immer wieder kenntnisreich auf die aktuelle Bedeutung der Menschenwürde in Fragen der Bioethik, ein berufliches Feld, auf dem er sich Anfang des 21. Jahrhunderts als Referent der SPD-Bundestagsfraktion für die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“[9] und vor seiner Rückkehr in sein „kleines (wissenschaftliches) Syrakus“ sehr engagiert hat. Die Philosophie kann dementsprechend, will sie an diesen eigentlich „genuin philosophischen Fragen teilnehmen, kaum umhin, sich zu jenen verfassungsrechtlichen Diskursen in irgendeiner Weise, sei es affirmativ oder kritisch, zu verhalten“. Deshalb die Einordnung der zahlreichen offenen Fragen in Rothhaars umfassender theoretischer Arbeit, einer schlüssigen Theorie, die es ermöglicht, „zumindest die wichtigsten Aspekte des juristisch (verengten) Menschenwürdebegriffs philosophisch zu rekonstruieren“ und deren „(fünf wesentliche, vgl. S. 94 f.) Strukturmerkmale in einer konsistenten und unabhängig vom geltenden positiven Recht wohlbegründeten Weise theoretisch zu identifizieren.“[10]

Ist der Begriff „dignitas“, auf den unser heutiges Verständnis der Menschenwürde im Kern zurückgeführt werden kann, von der späten Römischen Republik bis ins Hoch- und Spätmittelalter aufgrund seiner vielschichtigen Verwendung, außer im Bereich der „amtsbezogenen Würde“ (in Bezug auf eine herausgehobene Stellung innerhalb einer Rangordnung) und der daraus insbesondere erwachsenden individuellen Pflichten, nur schwer  historisch einheitlich rekonstruier- und differenzierbar, erfuhr der Begriff während der Aufklärung, der Autor nimmt hierbei wie bereits erwähnt insbesondere Bezug auf die Moralphilosophen Kant, Fichte und Hegel, eine grundlegende Neubestimmung. Dies kommt stellvertretend sehr gut in der das vierte Kapitel einleitenden Sentenz aus Kants „Metaphysik der Sitten“ zum Ausdruck:

„Allein der Mensch als Person betrachtet, als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben.“

Kant nimmt hierbei Rückgriff auf „beinahe alle bedeutsamen Elemente der aristotelischen, stoischen und christlichen Tradition des Nachdenkens über die menschliche Würde auf.“ Dabei zeichnet es den Menschen theoretisch ersichtlich aus, dass er durch seine „Vernunftbegabung und den Gedanken eines handlungsleitenden Endzwecks, der nicht der Realisierung eines weiteren Zwecks dient, sondern als ‚Zweck an sich’ um seiner selbst willen angestrebt wird und damit jedem bloß instrumentellen Handeln übergeordnet ist“, den Kant’schen Rückgriff auf einen eigenen, tiefergehenden Würdebegriff alleine durch „sein Menschsein“ erzwingt. Diese praktische Philosophie Kants mündet schließlich bei Fichte und Hegel in den „Gedanken der wechselseitigen Anerkennung vernünftiger Wesen als Subjekte von Rechten und Pflichten“, welche gesellschaftlich, politisch und juristisch niemals zum „bloßen Objekt“, als „Mittel zum Zweck“ degradiert werden dürfen. Hier ist der aktuelle rechtliche Kontext der „Menschenwürde als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte (sowie) als Grenze der Einschränkung individueller Rechte“ begründet, auf den Rothhaar, seine philosophische Studie abschließend, rekurriert.

Ein lesenswertes (Nachschlage-)Werk, das den Leser hinsichtlich der selbstverständlichen Annahme der durchgängigen Verwirklichung des Menschenwürde­prinzips im Alltag nachdenklich stimmt, viele teilweise neue Einsichten eröffnet und als eine streitbare theoretische Auseinandersetzung mit dem indifferenten Gebrauch dieses Prinzips auch sehr lohnenswert ist, gerade weil es als gut gegliedertes und ansprechend gestaltetes wissenschaftliches philosophisches Werk sehr gut lesbar bleibt.

[1] Philosoph, Historiker und Biologe, venia legendi im Fach Philosophie; seit März 2014 Inhaber der Stiftungsprofessur für Bioethik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, http://www.ku.de/ppf/philosophie/bioethik/personen/prof-dr-markus-rothhaar/, zuletzt abgerufen am 30.11.2016.

[2] Inhaltsverzeichnis des Werks, vgl. http://pw-portal.de/pwp_inhalt/scan47263.pdf

[3] Vgl. https://www.mohr.de/schriftenreihe/perspektiven-der-ethik-pe, 30.11.2016

[4] Vgl. hierzu auch http://pw-portal.de/rezension/38848-die-menschenwuerde-als-prinzip-des-rechts-47263, Kurzbesprechung des Werks von Prof. Dr. Augsberg im Portal für Poli­tikwissenschaften, zuletzt abgerufen am 30.11.2016.

[5] „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz.

[6] Beide „Zustände“ sind Gegenstand sehr ernsthafter fraktionsübergreifender Debatten im Deutschen Bundestag, wenn man sich alleine die aktuelle Diskussion um die Entwicklung der Höhe und Ausgestaltung einer umlagefinanzierten Alterssicherung, den Ausbau der palliativmedizinischen Betreuung in Hospizen oder zuletzt im Jahr 2015 die „freigegebene Gewissensentscheidung“ zur Sterbehilfe betrachtet.

[7] Art. 20 Abs. 1 GG besagt, „die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

[8] Da ist zum einen die a) „klassische Bestimmung“ der Menschenwürde als Grund und Prinzip der Menschenrechte; zum anderen weist Rothhaar auf b) die Menschenwürde als „spezielles Recht“, nicht gedemütigt bzw. nicht in der eigenen Selbstachtung verletzt zu werden; c) Menschenwürde, so die h. M. deutscher Verfassungsrechtler, ebenfalls als „spezielles Recht auf Nichtinstrumentalisierung“, welches neben und über den übrigen Menschenrechten existiert; d) Explikation der Menschenwürde als „Sammelbegriff für ein Ensemble besonders fundamentaler Menschenrechte“ oder e) Menschenwürde als „politischer Anspruch auf die Bereitstellung derjenigen Güter, die für ein der menschlichen Natur angemessenes Leben notwendig“ sind.

[9] Vgl. z. B. Ders., MenschenRechtsMagazin, Ausgabe 2_2006, S. 181 ff.

[10] a) Prinzipien- bzw. Fundierungscharakter für die Grund- bzw. Menschenrechte;                  b) Menschenwürde als statusanzeigender Begriff im Hinblick auf die Menschenrechte;        c) Grund im Menschsein; d) Universalität der Menschenwürde; e) Die Menschenwürde stellt das Individuum in den Mittelpunkt normativer Theoriebildung.

Rezensiert von: Holger Plank