Sarah Bakewell – Das Café der Existenzialisten.

Bakewell, Sarah [1]; Das Café der Existenzialisten. [2]; (ISBN: 978-3-406-69764-7, 448 Seiten, C. H. Beck Verlag, München, 2016, 24,95 € – auch als E-Book zum Preis von 19,99 € erhältlich)

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„Bakewell is a skillful and nuanced teacher. Her explanation of the mysteries of phenomeno­logy, clear and succinct, is as brilliant as any I’ve heard in a French university classroom. For the uninitiated, phenomenology is a philosophy of German origin that focuses on the world as it appears rather than questioning the interpretations of reality“, so Hussey (vgl. Fn. 2) in einer der ersten Besprechungen des Buches im “Guardian”, Rubrik “Book of the day” nach Herausgabe des englischen Originals “At the Existentialist Café“ im Februar 2016. Er bringt damit den Wert objektiver Betrachtung menschlichen Daseins, reduziert auf das Wesentliche, gut zum Ausdruck.

Bakewell beschreibt den (französischen) Existenzialismus, eine lebendige philosophische Richtung, die das Wesen der menschlichen Existenz, ideengeschichtlich befreit von „nutzlosem Zierrat“, in den Mittelpunkt stellt. „Der Mensch muss selbst aktiv werden und seinem Leben einen Sinn geben, in das er durch den Zufall seiner Geburt geraten ist“, so die Grundaussage dieser Philosophie, die sich in den 1930er und 1940er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte und ihre volle Blüte in den Nachkriegsjahren in Europa erlangte und vor dort aus auch die „Neue Welt“ zu beeinflussen begann. Seine unermüdlichen Protagonisten, befruchtet von der deutschen (der „Freiburger“) Phänomenologie Husserls und später Heideggers, waren Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, die sich – von Bakewell zusammen mit dem mystischen philosophischen Dogmatiker Heidegger in den Mittelpunkt ihrer sehr lesenswerten zeitgeschichtlichen philosophischen Rückblende gestellt – im Paris zu jener Zeit, vor allem in Cafés im Pariser Künstlerviertel obsessiv schreibend und mit Freunden diskutierend, mit Grundfragen der menschlichen Existenz und ihrer Reduktion auf das bloße Sein auseinandersetzten. Anders als die deutschen (universitären) Phänomenologen, die sich in z. T. langatmigen und häufig selbst für Philosophen nur schwer verständlichen Grundlagenwerken mit der Beschreibung des unverfälschten „Da-Seins“ verbreiteten, verarbeiteten sie ihre Eindrücke und Überzeugungen in vielfältigerer Weise, insbesondere in Romanen, Theaterstücken, Biographien, Essays und Besprechungen statt in Lehrbüchern und versuchten so den Menschen jener Zeit (und sich selbst) ihre Unzulänglichkeiten zu spiegeln. Sie waren dabei sehr erfolgreich, denn sie beeinflussten dabei mehrere, nicht nur ihre eigene Generation. Sie beschäftigten sich intensiv mit der Frage nach der menschlichen Identität, der Sinnsuche („Authentizität“) und vor allem mit der Freiheit. Letztere wird dabei nach den Erfahrungen der Protagonisten im von deutschen Truppen okkupierten Frankreich (Paris) in den Fokus gestellt. Schon deshalb ist darin sehr viel von der grundlegenden, jedem Individuum eigenen Freiheit die Rede, davon, „dass es ganz einfach sei, das Richtige zu tun, dass man nur wählen müsse – um nicht all die Hüter von Pflicht und Moral auf den Plan zu rufen“. Diese Grundzutat sinnsuchender menschlicher Identität verleitete Jean-Paul Sartre sogar zu dem Ausspruch: „Der Mensch ist verurteilt, frei („authentisch“) zu sein“, er könne ideengeschichtlich gar nicht anders! Chance und Verdammnis frei bestimmter menschlicher Existenz wird in diesem Zitat gleichermaßen deutlich.

Schon deshalb kommt Bakewell, deren Begeisterung für Sartre und damit zunächst indirekt für den Existenzialismus im Alter von 16 Jahren eher zufällig begann, als sie sich mehr „aus einer Laune heraus“, vor allem von Salvador Dalis Gemälde auf dem Schutzumschlag des Penguin-Taschenbuchs von Jean-Paul Sartres 1938 erschienenen Romans „Der Ekel“ angesprochen fühlte, zu einem wesentlichen Schluss. Die Rückbesinnung auf diese philosophische Richtung sei nämlich schon deshalb wichtig, weil der „zwar immer noch einen nostalgisch-romantischen Charme versprühende, aber heute kaum mehr seine unmittelbar prägende Kraft entfaltende“ Existenzialismus in der Moderne mit ihren vielfältigen und die individuelle Freiheit beschränkenden typischen Ablenkungen wichtiger denn je sei. Dies zeige sich an der angesichts der deutlichen Verunsicherung der Menschen in modernen, technik-affinen, virtuell vernetzten Gesellschaften zunehmend hervortretenden diffusen Sehnsucht nach einem „wirklichen“ Leben, dem Streben nach „dem dunklen Objekt der Begierde“ namens „Authentizität“. Gerade weil wir Freiheit in scheinbar extensiver Fülle zur Verfügung haben, können wir sie heute nicht mehr als etwas Selbstverständliches betrachten. Eine Kernaussage des Buches und Warnung zugleich, denn die Freiheit scheint uns heute angesichts zahlreicher Eigenheiten und auch Bedrohungen unseres Lebensstils nicht mehr allzu viel wert zu sein. Sie ist aber schon in Gefahr, wenn wir selbst unser Leben nicht auf das Wesentliche (das Existenzielle) zu reduzieren versuchen und vorgeblich segensreiche Entwicklungen in Frage stellen. Deshalb kommt Bakewell zu dem Schluss, dass wir heute „die Existenzialisten vielleicht mehr brauchen als wir denken.“ Nach ihrem eher zufälligen philosophischen „Erweckungserlebnis“ durch Sartres „Der Ekel“ wurde er ihr offenkundig in gewisser Weise auch zum Nestor ihrer umfänglichen Studien. Er verstand es offenkundig wie keine Zweiter, zeitgeschichtliche Dilemmata und Paradoxien zu entwirren. Ein Zeitzeuge berichtet bspw. angetan und inspiriert von einer Begegnung mit ihm anlässlich einer Diskussion in einer Privatwohnung im Berlin der 1940er Jahre. Sartre sei ihm dabei „wie ein südamerikanischer Bauer vorgekommen, der sich mit der Machete seinen Weg durchs Dickicht der Zeiterscheinungen bahnte, und die Papageien hätten beim Wegfliegen in alle Richtungen die schönsten Flügelfarben gezeigt.“

 

Eine schöne Metapher, von der es in dem – ich nenne es – atypischen „Geschichtsbuch der Entstehung und der Ausprägungen des Existenzialismus“, das die außerordentlich belesene Sarah Bakewell in akribischer Weise in 14. Kapiteln entfaltet und in dem sie 79 zeitgeschichtliche Gäste (Vorstellung der illustren Mitwirkenden ab Seite 370) als wesentliche Bezugspersonen der Protagonisten auftreten lässt, sehr viele weitere gibt. Sie führt den Leser dabei in eigenwilliger und trotz dunkler Zeiten stets humorvoller Weise durch die Biographien der Mitwirkenden. Dem Leser wird dabei klar, dass Ideen vor allem auch durch die Biographien ihrer Schöpfer in zeitgeschichtlichem Kontext verständlicher werden. „Ideen sind aufregend, aber die Menschen, die sie äußern, sind es noch viel mehr“, so die Autorin in ihrem Fazit. Sie versteht es vorzüglich, auch den naiven, nicht philosophisch geschulten Leser auf diesem Ausflug wach zu halten, seine Aufmerksamkeit auf interessante menschliche Details der Protagonisten und zeitgeschichtliche Besonderheiten zu lenken, ohne zu tief in philosophische Theorielehre einzutauchen. Trotzdem wirkt das Buch an keiner Stelle banal. Jedenfalls wird es einem niemals langweilig und man ist versucht, das Buch in einem Zug zu lesen, auch wenn es einem eine schlaflose Nacht kostet.

[1] Englische Schriftstellerin, Kuratorin und Dozentin für „kreatives Schreiben“ an der City-University in London, https://sarahbakewell.com/about/, zuletzt abgerufen am 05.12.2017.

[2] In der deutschen Übersetzung im Juli 2016 erschienen, Inhaltsverzeichnis und Leseprobe auf der Website des C. H. Beck-Verlags unter der URL http://www.chbeck.de/Bakewell-Cafe-Existenzialisten/productview.aspx?product=16551096 verfügbar, zuletzt abgerufen am 05.12.2017. Im englischen Original im Februar 2016 erschienen bei Chatto & Windus, London, vgl. Besprechung von Andrew Hussey in „The Guardian“ vom 28.02.2016, https://www.theguardian.com/books/2016/feb/28/existentialist-cafe-freedom-being-apricot-cocktails-sarah-bakewell-review, zuletzt abgerufen am 05.12.2016.

Rezensiert von: Holger Plank