Dr. Birgit Preus – Die New Penology – Gouvernementalität und Risikomanagement im Umgang mit abweichendem Verhalten

Preus, Birgit Dr.; Die New Penology – Gouvernementalität und Risikomanagement im Umgang mit abweichendem Verhalten[1]; ISBN: 978-3-8487-3158-9, 420 Seiten, Nomos Verlagsgesellschaft [in Kooperation mit dem Verlag Dike, Zürich / St. Gallen erschienen], Reihe: Studien zum Strafrecht, Band 73, Baden-Baden, 2016, 109 €)

Die Juristin Birgit Preus analysiert in ihrer stark soziologisch geprägten Dissertation, die 2015 von der Juristischen Fakultät der Universität Bonn angenommen wurde, auf den von Malcolm M. Feeley & Jonathan Simon 1992 geprägten Gattungsbegriff „New Penology“[2] bzw. des hierzu von beiden Autoren 1994 synonym gebrauchten Begriffs der „Actuarial Justice“[3] und belebt damit die Rechtswissenschaft empirisch:

„The new penology argues that an important new language of penology is emerging. This new language, which has its coounterparts in other areas of the law as well, shifts focus away from the trditional concerns of the criminal law and criminology, which have focused on the individual, and redirects it to actuarial consideration of aggregates. This shift has a number of important impications: It facilitates development of a vision or model of a new type of criminal process that embraces increased reliance on imprisonment and that merges concerns for surveillance and custody, that shifts away from a concern with punishing individuals to managing aggregates of dangerous groups, and that affects the training and practice of ciriminologists.“

Preus erforscht mittels einer Literatur- und Studienauswertung den Bedeutungsinhalt dieses inhaltlich US-amerikanischen (Risiko-)Begriffs und dessen möglichen Implikationen, der dort demnach „eine Veränderung des zeitgenössischen Strafens bezeichnet, das sich von den traditionellen Zielen der Bestrafung und Resozialisierung weg bewegt und sich zunehmend an der Prävention und an einem Risikomanagement orientiert, das auf die Kontrolle von Risikogruppen und auf das effektive Management des Kriminal­justizsystems gerichtet ist.“ Ausgehend von der „alten“, auf das Individuum bezogenen Pönologie entfaltet sie für den Leser den zunächst nur schwer zugänglichen Begriff einer „neuen“, statistischen und daher gruppenbezogenen Pönologie, welche in erster Linie „aktuarische“[4] Er­kenntnisse über Populationen und statistisch produzierte Risikogruppen voraussetzt, methodisch gekonnt. Sie beschreibt dabei nicht etwa ein „kriminologisches“ Kriminalitätserklärungs- bzw. -entstehungsmodell, sondern nimmt eine „Analyse des Strafens in einem soziologischen, gesellschaftstheoretischen Sinne unter Einbeziehung der Geschichte des Strafens und seiner politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen“ vor (S. 388).  Ein derart (einseitig statistisch) standardisiertes (kriminal-)prognostisches Verfahren ist im deutschen Strafrecht und unter Zugrundelegung des Menschenbild des Grundgesetzes im Übrigen kaum (noch nicht!?) denkbar. Hierzulande wird jedenfalls hinsichtlich der Methoden der Kriminalprognose auf eine „systematische Bezugnahme empirisch belegter Risikomerkmale (seltener auch Schutz­faktoren)“, also auf eine „sorgfältige retrospektive Analyse der individuellen Gegebenheiten des Einzelfalls, also auf eine Begründung eines maß­ge­schneiderten Erklärungsmodells der individuellen Ursachen für die Anlasstat, welches dann (allerdings) prognostisch fortgeschrieben wird“[5], besonderer Wert gelegt.[6]

Insofern ist der gut eingegrenzte Untersuchungsgegenstand von Birgit Preus nicht nur umfänglich und sehr akribisch aufbereitet, sondern auch für die deutsche Kriminologie und Rechtswissenschaft gerade heute hochaktuell. Hier werden im Moment ebenfalls verstärkt (kriminalstatistische) Vorhersage-instrumente (Pre-Crime-Modelle wie PRECOBS etc.) entwickelt, um nur eine denkbare Implikation des Modells zu nennen. Es wird damit also gemeinhin durchaus gefährliches kriminalpolitisches Terrain betreten. Die Beschreibung eines solchen, jedenfalls in den USA zunehmend „aktuarisch“ ausgerichteten Kriminaljustizsystem, welches in einer zugegeben (von mir recht einseitig) dystopisch formulierten Zielfeststellung im Kern nicht mehr auf konkrete individuelle Schuldfeststellung, sondern auf bloße (mathematische) Wahrschein­lichkeitsaussagen über „Klassen“ potenzieller Täter fokussiert, bedarf letztlich aber einer neuen „kritischen“ Kriminologie[7], einer Neubesinnung dieser kritisch-autonomen (empirischen) Wissenschaft, der auch nach Meinung der Verfasserin hierbei ein besondere Rolle zukommt (S. 393 f.). Schon aus diesen Gründen ist die Arbeit der Autorin zur Rolle und Bedeutung des Risikomanagements im Umgang mit Straftätern, welche ausgehend von dem durch Feeley und Simon entwickelten Leitbegriff der „New Penology“ bis heute in der theoretischen und praktischen Kriminologie – allerdings im Wesentlichen im englischsprachigen Raum – präsent ist, wichtig. Sie macht mit ihrer Arbeit nämlich diese Diskussion – einer auch in Europa nicht gänzlich auszu­schließenden Entwicklung vorgreifend – auch der deutschen Perspektive auf einen derartigen neuen methodischen Topos zugänglich. Sie unterscheidet dabei eingangs zunächst die klassischen „normativen“ bzw. „anwen­dungsorientierten“ pönologischen Modelle von deren zunächst beide Ansätze verbindenden Weiterentwicklung einer „analytischen“ Pönologie, deren Perspektive sich allerdings erweitert hat hin zu einer umfänglicheren „Soziologie des Strafens“ im Sinne von Garland (und dessen fortentwickeltem Begriff der „Punitivität“), Young, Cavadino und letztlich auch Foucault. Gerade Letztgenannter und dessen Arbeiten zur Gouvernementalität (im eng­lischsprachigen kriminologischen Forschungskontext rezipiert und seit 2010 unter dem Begriff „governmental criminology“[8] weiterentwickelt), auf die sich Preus bezieht und welche sich zunehmend von der empirischen Erforschung der Freiheitsstrafe oder anderer Sanktionen zugunsten einer (sozial­wissenschaftlichen) Analyse des gegenwärtigen Strafens unter dem Aspekt eines (technologischen) Risikomanagements als Gegenstand des Regierens abwenden, beeinflusst das gelungene Werk grundlegend. Die leitenden Fragestellungen ihrer Untersuchung sind dabei:

  • Wie verhalten sich neues Risikomanagement und der Gedanke der Resozialisierung, der in Deutschland seit dem „Lebach-Urteil“ des BVerfG aus dem Jahr 1973 Verfassungsrang genießt, in dem Modell der „New Penology“ zueinander? Ist für Resozialisierung in diesem System wirklich kaum noch Platz?
  • Welche spezifische Ausprägung hat der Risikobegriff in den zitierten Gouvernementalitätsstudien und wie kann mit deren Hilfe der Kritik am aktuarischen Risikobegriff der „New Penology“ ggf. begegnet werden?
  • Inwieweit erfährt das klassische Rollenverständnis der Akteure des Kriminaljustizsystems durch „New Penology“ eine Veränderung?
  • Wie verhält sich „New Penology“ zu bekannten punitiven bzw. expressiven Umgangsweisen mit Kriminalität und welche kriminalpolitischen Konstellationen liegen den verschiedenen Systemen zugrunde?

Hierzu wertet sie die umfangreiche thematisch relevante sozial­wissenschaftliche Literatur, (soziologische) Grundlagentexte und darauf aufbauende, weiter­führende Arbeiten gleichermaßen, in akribischer Weise aus. Sie stellt die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse dem Leser nicht nur gut nachvollziehbar in den drei Hauptkapiteln (neben einer umfänglichen Einleitung und einer Schlusszusammenfassung) ihrer Arbeit dar, sondern setzt diese ferner kritisch in Beziehung zu praktischen Erscheinungsformen einer derartig verstandenen kriminal­justiziellen Strategie (bspw. i. R. von US-amerikanischen „parole and probation“-Modellen, der „selective incapacitation“, der Methode „three strikes an you are out“, einer „pretrial detention“ [hierüber wurde im Übrigen auch in Deutschland vor nicht allzulanger Zeit im Rahmen der Terrorismusbekämpfung ernsthaft kriminalpolitisch diskutiert], dem rigorosen Umgang der amerikanischen Justiz mit Sexualstraftätern, dem „criminal profiling“ und Methoden „situativer Kriminalprävention“ wie z. B. dem „defensible space“-Ansatz von Newman). Gleichwohl arbeitet sie dabei heraus, dass die pluralen Akteure des Kriminaljustizsystems durchaus willens und in der Lage sind, die Vorgaben der jeweiligen Management-Ebene im Rahmen ihrer Hand­lungsvollmachten nur bedingt bzw. modifiziert umzusetzen in der Lage sind; ihr praktisches Handeln folgt demnach nicht unverändert den Programmen des Regierens und die handelnden Professionen verstehen sich (eben) nicht als bloße Ausführungsorgane der Managementebene. Ein wohltuender Befund in einer zunehmend arbeitsteilig organisierten Welt, in der die Bedeutung des Individuums zu Ungunsten ihres jeweiligen Gruppenbezugs mitunter in bedenklicher Weise zurücktreten muss. Zugleich widerlegt sie auf diese Weise mit dem Modell der „governmental criminology“ eine „einseitige Foucault-Interpretation“, nämlich die Unterstellung, „Subjekte bewegten sich in einer festgefügten Struktur, im Einfluss einer sie unterwerfenden Disziplinarmacht, womit keine Möglichkeit bestünde, einen Widerstand der Subjekte innerhalb der Institutionen der Kriminaljustiz zu berücksichtigen.“ Ferner weist sie anhand der praktischen Beispiele und durch den Rückgriff auf die Perspektive der Gouvernementalität nach, dass die „New Penology“-Strategie nicht als ein völlig neues und „reines“ kriminaljustizielles Modell begriffen werden darf, sondern dass sich in diesem Ansatz Elemente neuen wie auch rationalen Risikomanagements und der Punitivität miteinander vermischen. Außerdem stellt sie abschließend fest, dass aktuell „New Penology“ nicht mit einer vollständigen Abwendung des gegenwärtigen Umgangs mit Kriminalität, Strafe und Resozialisierung gleichzusetzen ist. Vielmehr ist das „foucaultsche Dreieck“, gekennzeichnet durch die Elemente „Souveränität, Disziplin und gouvernementale Verwaltung“, ein geeignetes systemisches Dispositiv, aktuarisches Risikomanagement nicht als alleinigen Inhalt / Ausdruck gou­vernementaler Verwaltung zu kennzeichnen, sondern (Kriminalitäts-) Risikomanagement als mannigfaltige Beziehung aller drei Elemente zu begreifen.

Die Autorin arbeitet außerdem sehr gut ein Widerspruchspaar heraus und bearbeitet es nachhaltig. Angesprochen ist hier die durchaus (ökonomisch und verfassungsrechtlich vertretbar) sinnvolle Orientierung des Kriminal­justizsystems an Rationalität und Effizienz einerseits und des betroffenen Individuums andererseits, dessen Schicksal zugunsten der Funktionalität des Systems als Ganzem zurücktritt. Dies ist eben nicht schlüssig die Folge des dargelegten und methodisch sehr gelungen in seine Bestandteile ausgebreiteten Modells der „New Penology“ und seiner künftigen Bedeutung für ein rechtlich und ethisch vertretbares Risikomanagement im deutschen Kriminaljustizsystem.

[1] Vgl. Inhaltsverzeichnis des Werkes auf der Verlags-Website: http://www.nomos-shop.de/_assets/downloads/9783848731589_lese01.pdf , zuletzt abgerufen am 18.12.2016.

[2] http://scholarship.law.berkeley.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1717&context=facpubs, Feeley & Simon in Criminology 1992, S. 449 ff..

[3] Feeley & Simon, The Emerging New Criminal Law, in Nelken (Hrsg.), The Future of Criminology, 1994, S. 173 ff..

[4] Hier wird der Einzelne zu einer Gruppe von Straftätern, deren Rückfallrisiko bekannt ist, zugeordnet. Insofern ist bei einer derartigen Methode kein Rückschluss auf die Rückfallwahrscheinlichkeit im Einzelfall möglich, denn der Einzelfall wird in einer Risikogruppe verankert, über die es empirische Daten gibt.

[5] Vgl. z. B. nur Dahle, Grundlagen der Kriminalprognose, 2008, http://www.uni-heidelberg.de/institute/fak2/krimi/DVJJ/Aufsaetze/Dahle_Klaus-Peter_2008.pdf, zuletzt abgerufen am 18.12.2016.

[6] Vgl. auch (Folien-)Vortrag von Prof. Dr. Nedopil anl. einer rechtspsychologischen Tagung an der Universität Bonn aus dem Jahr 2012, http://www.rechtspsychologie-bdp.de/wp-content/uploads/vortraege3tag/Nedopil.pdf, zuletzt abgerufen am 18.12.2016.

[7] Vgl. hierzu nur Zedner, Lucia, 2007, „Pre-crime and post-criminology?“ in Theoretical Criminology, Vol. 11 (2), S. 261 – 281.

[8] Hierunter versteht die Autorin eine auf die Gouvernementalitätsstudien zurückzuführende spezifische Betrachtungsweise, die im Anschluss an Michel Foucault eine Analyse des Regierens für eine Untersuchung der Rolle und Bedeutung des Risikomanagements im staatlichen Umgang mit Straftätern heranzieht (vgl S. 388)

Rezensiert von: Holger Plank