Michael Scheele – Schuld oder Schicksal? Hirnforscher, Psychologen und Humangenetiker zweifeln an der Entscheidungsfreiheit des Menschen

Scheele, Michael; Schuld oder Schicksal? Hirnforscher, Psychologen und Humangenetiker zweifeln an der Entscheidungsfreiheit des Menschen[1]; (ISBN: 978-3-8312-0439-7, 268 Seiten, Verlag Komplett-Media, München, 2016, 19,99 €)

Der Münchener Rechtsanwalt Dr. Michael Scheele[2] kennzeichnet in der Widmung des Buches für seine Kinder seine „finale und nur scheinbar banale Botschaft: Wenn es Euch gelingt, zu verinnerlichen, dass die oft unterstellte ‚böse Absicht’ meist nur das Resultat menschlicher, unverschuldeter Unzulänglichkeit ist und dass ein jeder nur bedingt für den Verlauf seiner Lebenslinie (moralisch) verantwortlich gemacht werden darf, fällt es leichter, mit den Fehlern anderer – aber auch mit eigenen Misserfolgen – gnädiger umzugehen.“ Er legt einerseits ein leidenschaftliches „Plädoyer für mehr Nachdenklichkeit und Toleranz bei Schuldzuweisungen im zwischen­menschlichen Bereich“ vor, stellt aber – und das ist der eigentliche Grund, sich mit diesem Buch hier etwas näher zu beschäftigen – vor allem das Thema „Schuld auf den Prüfstand strafrechtlicher Praxis“.

Mit bemerkenswerter thematischer Spannbreite, u. a. gewürzt mit Erkenntnissen aus den Disziplinen Kriminalistik, Kriminologie, Philosophie, Theologie, Psychologie, Neuropsychologie, Anthropologie, Human- und Epigenetik sowie der Medizin, unternimmt er kenntnisreich und mit Anekdoten aus seiner beruflichen Praxis als Strafverteidiger angereichert den Versuch, „die Bürger des 21. Jahrhunderts anzuregen, über Grundlagen und Leistungen der Strafjustiz in der modernen Gesellschaft nachzudenken.“[3] Dabei führt er zwar keine neuen Erkenntnisse als die bislang bereits fachöffentlich umfänglich diskutierten Argumente in den andauernden, aber jüngst etwas „erkalteten Diskurs“ ein. Der Mehrwert des Buches liegt daher eher in der bemerkenswerten Dichte, mit der Scheele die Argumente aus den verschiedensten erkenntnistheoretischen Blickwinkeln betrachtet. Das sieht Scheele wohl ähnlich wenn er konstatiert, dass „eine einzige Fachrichtung wie die der Neurobiologie nicht in der Lage sei, die Frage nach der Entscheidungsfreiheit des Homo sapiens mit naturwissenschaftlicher Zuverlässigkeit und Präzision zu klären (S. 183).“

Die Hauptfrage, der er nachgeht, ist folgende: Hat der Mensch überhaupt einen freien Willen? Wenn dies nämlich zweifelsfrei zu widerlegen wäre, dann wäre das strafrechtliche Schuldprinzip, das mindestens seit seiner pathetisch formulierten höchstrichterlichen Manifestierung im Jahr 1952[4] als eine der tragenden Wurzeln des Sühne- und Vergeltungsgedankens und des daraus erwachsenden staatlichen Strafanspruchs im deutschen Strafrecht jedenfalls bislang im Kern unwiderlegt scheint, in ernsthafter Gefahr. Scheele bietet einen zwar breiten, allerdings in Summe eher stichpunktartigen, anekdotischen Überblick (nebst Hinweisen auf die jeweiligen Quellen und Zitaten) aktueller (neuro-)wissenschaftlicher Erkenntnisse, die die These freien menschlichen Willens zu widerlegen scheinen. Folgende Grundaussage zieht sich dabei wie ein roter Faden durch seine mit zahlreichen wissenschaftlichen Belegen gestützte Problemdarstellung:

„Der Homo sapiens ist ein überwiegend vom Unterbewusstsein, von Gefühlen, von Genen und von der Biografie gesteuertes Wesen (…). Von der Freiheit zu entscheiden und zu handeln bleibt nicht viel übrig. Das kratzt an der Menschenwürde, stimmt aber trotzdem (S. 167).“

Ihm gelingt dabei aber auch mit Hilfe der zitierten Experten allerdings kein solider Beweis, ja er selbst betont an einigen Stellen, dem Menschen bleibe zumindest ein wenn auch kleiner Anteil von Freiheit, sich unter mehreren Handlungsalternativen bewusst zu entscheiden. Trotzdem aber schafft es Scheele, den Leser mittels einiger Paradoxien strafprozessrechtlicher Ent­scheidungsfindung, bspw. der mitunter unzureichenden Berücksichtigung aussagepsychologischer Schwachstellen des Personalbeweises (er nennt es „Konsonanzprinzip“), nachdenklich zu stimmen. Dabei will er keineswegs den staatlichen Strafanspruch, wie es einige kritische Strafrechtswissenschaftler und Kriminologen in den 1970er und frühen 1980er Jahren durchaus forderten[5], abschaffen. Er plädiert vielmehr dafür, den Strafzweck zu modifizieren. Wenn das (moralisch aufgeladene) Schuldprinzip und der darauf gründende strafrechtliche Sühnegedanken wirklich ernsthaft angezweifelt werden dürfen, wovon Scheele unter Berufung auf zahlreiche Experten aus o. g. Wissenschaftszweigen ausgeht, dann darf Strafrecht einerseits abschrecken, andererseits muss es aber stärker als bisher auf vernünftige Wiedergutmachung (Scheele verwendet hierfür häufiger den etwas sperrigen Begriff „Restorative Justice“ – die im deutschen Strafrecht angelegte Analogie des „Täter-Opfer-Ausgleichs“ ist aber nicht weniger sperrig) und vor allem auf sachgerechte Resozialisierung besonderer Wert gelegt werden. Als Beleg hierfür führt der Autor offenkundige soziotypische Benachteiligungen an, z. B. die Tatsache, dass deviante Menschen signifikant häufig mit „gekrümmter moralischer Kompassnadel (S. 146)“ aufzuwachsen gezwungen waren, unter schädigendem Einfluss von „Umwelt und Herkunft, von Erziehung und Umgang mit Freunden und anderen Menschen“, von individuellen Traumata oder gar nachweisbaren hirnorganisch bedingten Empathiedefiziten leiden bzw. litten. Strafrecht sollte schon ob dieser Bedingungen keine Sühne / Vergeltung bezwecken, so Scheele. Schon das aber wäre unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen und der „biologisch belegten Lust des Menschen an Rache“ wahrscheinlich nur schwer (wahlöffentlich) kriminalpolitisch zu begründen, auch wenn über einige offenkundige Korrelationen hinaus eine belastbare Kausalbeziehung zwischen Lebenslauf und Tat nachgewiesen werden könnte. Sofern dies heute schon im Einzelfall, strafrichterlich veranlasst durch Gutachter gelingt, bieten die §§ 20, 21 StGB die Brücke in den zweiten Zug materiellen, präventiv angelegten Strafrechts.

Scheele lässt den kriminalpolitisch interessierten Leser trotz seines engagiert und in weiten Teilen kriminologisch schlüssig vorgetragenen Plädoyers für eine Modifikation der „Strafzwecke“ vorgetragenen Plädoyers mit einer Fülle offener Problemstellungen zurück. Bestätigung findet nur die allerdings bereits allgemein gebräuchliche Gewissheit, dass Determinanten wie Gene und Biographie, im Unterbewusstsein vergrabene Stereotype oder ein durch Traumata geprägtes Erfahrungsgedächtnis nicht nur unmittelbaren Einfluss auf affektive Handlungsimpulse haben, sondern auch solche Entscheidungen des Homo sapiens beeinflussen, die nach längerer Überlegung scheinbar wohlüberlegt getroffen werden. Das angesichts derartiger Fakten weit verbreitete Bild von uns selbst als scheinbare „Krone der Schöpfung“ ist angesichts dieser kognitiven Unzuverlässigkeit überholt. Ganz nebenbei, lebt es sich mit dieser Gewissheit nicht gleich viel entspannter? Aber, Spaß beiseite, viele der offenen Fragen werden in naher Zukunft wohl auch nicht gelöst werden können, denn der überaus komplexe Prozess der kognitiven menschlichen Entscheidungsfindung lässt sie bis auf Weiteres und trotz aller Fortschritte der Neurobiologie nach wie vor nicht mittels Hirnscan abbilden. Sollte dies in ferner Zukunft einmal möglich sein, stellen sie ganz andere, viel bedeutsamere kriminalpolitische Fragen. Es schaudert einen dabei nicht nur vor der möglichen dystopischen Konsequenz prädeliktischer neurobiologischer hirnorganischer Messungen zur Feststellungen „individuellen Gefahrenpo­tenzials“, vielleicht – rein präventiv – schon als Reihenfeststellung bereits im Kindes- und Jugendalter! Was bleibt also, außer der berechtigten Frage nach der Gerechtigkeit von Strafurteilen und der Methode der Erhebung von Tatsachen im Erkenntnisverfahren auf dem Weg zur Anklageerhebung? Oder ist diese offene Frage für sich nicht schon Grund genug für das trotz aller Bekanntheit der zusammengetragenen Fakten lesenswerte Buch von Scheele? Um es mit Bernie Sanders, dem demokratischen Herausforderer von Hillary Clinton im US-demokratischen Wahlkampflager der letzten US-Präsidentschafts­kandi­datenvorwahl auszudrücken: „Die Strafrechtspraxis ist das größte Bürger­rechts­thema unserer Zeit.“ Jede kritische Auseinandersetzung mit diesem Sujet ist lohnenswert, vor allem schon deshalb, weil Strafrecht dem Ultima-Ratio-Prinzip unterliegt und daher als „schärfstes Schwert“ staatlichen reaktiven Handelns stets besonders intensiv im Blick der Öffentlichkeit bleiben sollte.

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/justiz-menschliche-makel-1.3101744, Besprechung des Buches von Martin Hagenmaier in der Süddeutschen Zeitung vom 31.07.2016, zuletzt abge­rufen am 11.11.2016.

[2] Kanzlei „Legal Alliance“ in München, http://www.legalalliance.com, zuletzt abge­rufen am 11.12.2016.

[3] Vgl. Buchbesprechung von Martin Rath in der Online-Ausgabe der Legal Tribune, vom 14.08.2016 unter der URL http://www.lto.de/recht/feuilleton/f/rezension-buch-schuld-strafrecht-psychologie-verbrechen-zufall/

[4] „Strafe setzt Schuld voraus, Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten , dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können“, vgl. BGH GSSt 2/51, Beschluss vom 18.03.1952, BGHSt 2, 194; der Große Senat für Strafsachen hatte sich zur Schuldfrage am Beispiel der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB (Nötigung) festgelegt.

[5] Vgl. bspw. nur Arno Plack, Klaus Lüderssen, Fritz Sack u. a.

Rezensiert von: Holger Plank