Juli Zeh – Unterleuten

Zeh, Juli; Unterleuten; 2016, Luchterhand Literaturverlag, München, ISBN: 978-3-630-87487-6, 24,99 Euro, 639 Seiten.

Warum der neue Roman von Juli Zeh in diesem Rahmen rezensionswürdig erscheint, könnte argumentativ mit dem Umstand untermauert werden, dass die Autorin neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit promovierte Juristin mit Prädikatsexamen ist. Und auch inhaltlich werden deviantes Verhalten und Abgründe menschlichen Verhaltens, genauer kriminelle Machenschaften einiger Protagonisten, als alteingesessene und neu hinzugezogene Bewohner eines Dorfes, dass in Brandenburg verortet ist, thematisiert, die den ein oder anderen Straftatbestand berühren und/oder erfüllen. Vielmehr ist aber der Roman einfach nur höchst lesenswert, sprachlich ästhetisch und spannend erzählt.

Berichtet wird das Geschehen in Unterleuten, mit jedem Kapitel chronologisch fortführend, aber aus wechselnder Perspektive bestimmter Protagonisten, die die zentralen Akteure in der Kleinkommune darstellen – um deren Blick auf die Dinge erweitert. Verbunden miteinander sind die Bewohner des Dorfes durch einen zentralen Konflikt, der eigentlich die gesamte Kommune betrifft und gemeinschaftlich zu diskutieren wäre, letztendlich aber durch nur wenige Charaktere bestritten wird. Auseinandergehend sind die Standpunkte dieser Personen aufgrund der Koexistenz stark divergierender Bedürfnisse, Motivlagen und subjektiv konstruierter Wahrheiten, die mehr oder weniger miteinander konfligieren oder (vermeintliche) Passungen gegeneinander ausgespielt werden, und die vor dem Hintergrund vergangener schicksalhafter Ereignisse zu betrachten sind. Mit jedem neuen Kapitel kommt eine weitere Verflechtung, eine weitere Perspektive hinzu, die unausweichlich in ihrer subjektiven Logik beim Lesen gedankliche Wendungen nach sich ziehen und das Geschehen somit an Komplexität gewinnt, der Verlauf sich dadurch exponentiell verdichtet. Perfekt inszeniert und den aufgeworfenen Spannungsbogen stringent abschließend ist auch das Ende, welches spätestens die resümierende Frage aufwirft, wer warum und inwieweit als Gewinner oder Verlierer, wer als Täter oder Opfer zu bezeichnen ist, wer sich als möglicherweise schuldig an dem oder unschuldig im weiteren Verlauf der Geschichte herausstellt – deren Aufwerfen und Beantwortung je nach eigener Perspektive, Vorstellungen von Moral und individueller Haltung wohl sehr unterschiedlich ausfallen wird.

Herausragend ist das Buch, weil aus dem dramaturgischen Zusammensetzen zahlreicher Individualperspektiven ein systemisches Ganzes geschaffen wird, welches einen in sich kohärenten Mikrokosmos ausmacht, in dem jede einzelne Perspektive, immerhin bis zu einem gewissen Ausmaß, auch irgendwie, und mitunter auch tragischerweise, seine Berechtigung zu haben scheint oder die Figuren zumindest in der Determiniertheit ihres Handelns Sympathiepunkte gewinnen können. Und in dem die grundlegenden Mechanismen und Regeln des menschlichen Zusammenlebens, an vielen Stellen des Romans thesenartig auf intrapsychischer Ebene aufgeworfen, hier zwar kontextualisiert sind, aber diese prinzipiell abstrahier- und verallgemeinerbar erscheinen – also letztendlich ein messerscharfes Abbild unserer heutigen Gesellschaft gezeichnet wird und die parabelhafte Erzählung somit auch die Einordnung als Gesellschaftsroman verdient. Zudem schafft Zeh auch aufgrund der neu- sowie mehrwertigen Komplexität, mit der sie sich selbst im Vergleich zu ihren vorherigen, ebenfalls durchweg lesenswerten Publikationen übertrifft, eine Art gelungene Fortführung ihrer bisherigen Tätigkeit als Autorin von Romanen.

Verzichtbar sind für mich die weiterführenden, eigens zu Personen und Gesellschaftsformen angelegten Webinhalte, wie Profile einzelner Romanfiguren in sozialen Netzwerken oder beispielsweise die Homepage des Gasthauses, in dem die Unterleutener verkehren, was aber eigendefinitorisch wohl dem geschuldet ist, dass Unterleuten als „Gesellschaftsroman des 21. Jahrhunderts ein literarisch-virtuelles Gesamtkunstwerk“[1] darstellen soll – was in seiner Einschätzung aber sicherlich den ein oder anderen Selbstoffenbarungsaspekt meiner persönlichen Haltung zur Gesellschaft beinhalten mag und welche ergänzend auch von einem reflektierenden Standpunkt der Beobachtung der Beobachtung betrachtet werden kann. Zudem tun diese virtuellen Ergänzungen aber dem eigentlichen Lesespaß – mit dem gewichtigen Buch in der Hand – der je nach Tiefe des individuellen Auseinandersetzens mit den Inhalten und Konstellationen des Romans auch als durchaus anregender Leseernst bezeichnet werden könnte, keinen Abbruch. Eine Frage, die ich mir nach dem letzten Zuklappen des Buchs gestellt habe, ist, wie Zeh diese Ausgestaltung zukünftig „toppen“ kann oder wird, weil dies letztendlich zu erwarten ist, verfolgt man die kontinuierliche Weiterentwicklung ihres bisherigen literarischen Schaffens –  bis dahin werde ich in Vorfreude noch sicherlich das ein oder andere Mal in Unterleuten Einkehr halten.

[1] Vgl. http://www.unterleuten.de/

Rezensiert von: Lena Jordan