Dieter Thomä – Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds

Thomä, Dieter; Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds; 2016, 715 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin, ISBN 978-3-518-58690-7, 35 €

„O Freiheit! du bist ein böser Traum!“ (Heinrich Heine 1840, 87)

Die Neue Juristische Wochenschrift[1] vom 5. Januar 2017 berichtete über ein Urteil des OLG Karlsruhe mit der Überschrift „Polizeiliche Wohnungsdurchsuchung bei einem Querulanten“ und präsentierte damit den Hauptdarsteller des neuen Buches von Dieter Thomä: der puer robustus, der kräftige Junge; der Störenfried, Schmarotzer und Provokateur. Für unseren Hauptdarsteller ist die Störung keine Phase des Übergangs; der Übergang ist vielmehr Lebensaufgabe (S. 18).

5 Jahre hat Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, an seinem 715 Seiten starken Werk über den puer robustus gearbeitet. Er lädt damit zu einer intellektuellen Abenteuerreise (und philosophischen Abhandlung) ein, bei der wir zunächst von hinten anfangen wollen, um den Umfang dieses Werk richtig erfassen zu können. Nach 539 Seiten Textproduktion folgen 110 Seiten Anmerkungen, Siglenverzeichnis, ein 50-seitiges Literaturverzeichnis und ein 13-seitiges Namensregister.

Die Geschichte des puer robustus wird dabei anhand der Werke von Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot, Friedrich Schiller, Victor Hugo, Richard Wagner, Alexis de Tocqueville, Karl Marx und Friedrich Engels, Sigmund Freud sowie Carl Schmitt/Leo Strauss/Helmut Schelsky und Max Horkheimer erzählt. Eine Sonderrolle nimmt das vorletzte Kapitel mit dem puer robustus in Italien (Palmiro Togliatti) und China (Tan Tianrong vs. Mao Zedong) ein. Mit Ausnahme von Schiller und Wagner findet sich der puer robustus namentlich in allen genannten Werken wieder, doch ist es vor allem derjenige bei Thomas Hobbes, der sich wie ein roter Faden durch das Werk zieht. Um den Kompass auf dieser Abenteuerreise nicht zu verlieren, sollte sich Hobbes mit im Gepäck des Lesers befinden (und wohl auch Rousseau).

Die Geschichte des puer robustus ist immer auch eine Geschichte von gut und böse, von Macht, Moral und Vernunft (S. 400), von Ordnung und Störung sowie eine Geschichte der unmittelbaren Ordnung selbst; denn nach Durkheim sind manchmal „die Regeln selbst die Ursache des Übels“ (S. 30). Aus dem historischen Überblick extrahiert der Autor drei Arten des puer robustus: den exzentrischen Störenfried, den egozentrischen Störenfried sowie den nomozentrischen Störenfried. Eine Sonderrolle nimmt der massive Störenfried ein, der im Zusammenhang mit der faschistischen Diktatur beschrieben wird. Wie im letzten Kapitel deutlich wird, taucht der puer robustus in letzter Zeit namentlich nicht mehr auf; gleichwohl würde es an aktuellen Beispielen nicht mangeln und der Autor ist bereits dafür zu beglückwünschen, dass er nicht eine möglichst hohe Anzahl möglichst bekannter Namen in den Topf wirft. Thoma stellt vielmehr die Frage, „wie der Störenfried systematisch weiterzudenken ist“ (S. 491). Schwerpunktthemen stellen dabei der Kapitalismus (aber nicht nur in diesem Kapitel) und die Demokratie, die sog. Flüchtlingskrise und der Islamismus dar. Gleichwohl bleibt es dem Leser überlassen, aktuelle Störenfriede zu lokalisieren und systematisch einzuordnen. Eine kluge Ergänzung liefert Thoma in einem Interview aus dem letzten Jahr, in dem er den Wandel des populistischen oder islamistischen (massiven) Störenfrieds zum radikalen Ordnungsfanatiker beschreibt (vgl. Thoma 2016, 72).

Wichtig dabei ist Thomäs durchgängiger Blick auf die Ursachen, die aus den kräftigen Jungen Störenfriede werden lassen. Eindrucksvoll gelingt ihm das anhand eines aktuellen Beispiels anlässlich des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Das im Buch kurz genannte Interview aus dem Deutschlandfunk[2] soll an dieser Stelle ausführlicher zitiert werden:

Martina Zimmermann: Sie unterrichten jeden Nachmittag Kinder in Sport oder Rap. Was machen Sie mit denen, um zu vermeiden, dass sie Terroristen werden?

Jo Dalton: Wenn man sie zu Opfern macht, dann macht sie das nur noch zerbrechlicher. Sie müssen sich geliebt fühlen. Das tue ich in meinem Unterricht. Ich gebe Liebe. Alle jungen Leute, die da kommen, werden zu meiner Familie. Ich interessiere mich für sie, sie interessieren sich für mich und wir werden eine große Familie. Dann gibt es keine Kluft mehr zwischen Kulturen oder Religionen. Man sieht nicht mehr, ob der andere Jude ist oder Moslem, ich kann mit meinen Schülern über alles reden, ohne Tabu. Aber wenn man die Leute zu Opfern macht, werden diese zu Schlächtern [Hervorhebung d. Verf.].

Etwas abseits des Störenfrieds sind bei Hobbes zwei Fundstellen bemerkenswert. Einerseits die von Thomä beschriebene „kurzfriste Gefahr der Rebellion in den Städten“, die „nach Hobbes vom Lager der Reichen“ [sic!] ausgeht (S. 47). Die „[r]ebellische[n] Städte“ (Harvey 2014) haben sich dann doch als Krise des Kapitalismus im 20./21. Jahrhundert erwiesen – durch urbane Protestformen der Nichtreichen. Die zweite Fundstelle – nun mit kriminologischer Blickrichtung – beschreibt den Reichtum. Zu ihm „gehört die ‚Mühe‘, ihn gegen äußere Angriffe verteidigen zu müssen, und damit schleicht sich in dieses Leben die ‚Furcht‘ als schwarze Sorge ein.“ Für Thomä sind der Ruhm, das Eigentum und die Furcht Schlüsselbegriffe im Werk von Hobbes und er liefert damit einen wichtigen Impuls zu der Frage nach der Kriminalitätsfurcht der Menschen, die weniger eine (soziologisch fragwürdige) German Angst ist, sich also vielleicht mehr als eine Verlustangst vor den angehäuften Konsumgütern und Besitzständen darstellt (vgl. Lorenz 2016).

Thomä bleibt bei in seinem Buch nicht deskriptiv, er bewertet sowohl die historischen Störenfriede als auch deren geistige Väter und dabei wird immer wieder spürbar, dass im Autor selbst ein puer robustus steckt. Dieter Thomä hat mit seinem Buch ein nahezu unglaublich recherchiertes Werk vorgelegt. Es gelingt ihm dabei durchwegs, die Quellen miteinander zu verknüpfen und in Verbindung zu bringen (oder abzugrenzen). An manchen Stellen wünschte man sich, Thomä hätte die Texte mehr gestreichelt, damit die philosophische Abhandlung noch mehr zum Abenteuerroman, also zu einem Lesebuch, wird. Vor allem bei Tan Tianrong, der chinesischen Variante des puer robustus ist ihm dies sehr schön gelungen. Am Ende verrät Thomä noch seinen bevorzugten Störenfried: Rameaus Neffe von Diderot.

Verwendete Literatur

Harvey, D. Rebellische Städte, Berlin, 2014
Heine, H. Über Ludwig Börne, Hamburg, 1840
Lorenz, K. Die acht Todsünden der zivilisieren Menschheit, 37. Auflage, München, Berlin, Zürich, 2016
Thomä, D. „Keine Demokratie ohne Störenfriede!“, in: Philosophie Magazin, 6/2016, S. 68 – 73

[1] vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23.8.2016, 11 W 79/16, NJW 1-2/2017, 90 f

[2] vgl. Deutschlandfunk: „Wenn man die Leute zu Opfern macht, werden sie zu Schlächtern“. Verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/rapper-jo-dalton-wenn-man-die-leute-zu-opfern-macht-werden.807.de.html?dram:article_id=312846. Abgerufen am: 13.02.2017.

Rezensiert von: Karsten Lauber