Nermin Ismail – Etappen einer Flucht

Ismail, Nermin; Etappen einer Flucht; Tagebuch einer Dolmetscherin Promedia 2016. 240 S., € 19,90. ISBN: 978-3-85371-409-6

Auch wenn das Thema gegenwärtig weniger präsent ist als noch vor einigen Wochen: Die Flucht von Millionen von Menschen aus Afrika nach Europa wird sicherlich als das wichtigste Ereignis der ersten beiden Jahrzehnte dieses Jahrhunderts in die Geschichtsbücher eingehen – auch wenn man noch nicht absehen kann, was Donald Trump noch so alles anrichten wird in den kommenden vier Jahren.

Der Versuchung, dem Spruch „aus dem Auge, aus dem Sinn“ nachzugeben und sich deshalb nicht mehr mit dem Thema zu beschäftigen, tritt dieses Buch entgegen. Anschaulich, teilweise schwer erträglich sind die Beschreibungen der Autorin, die als Österreicherin, Journalistin und Tochter ägyptischer Eltern, über das Arabische den Zugang zu Asyl suchenden Menschen findet. Dabei, und dies hebt das Buch von einer reinen Beschreibung von Fakten ab, reflektiert sie stets auch ihre eigene Rolle, Position und Denkweise als in Österreich lebende Europäerin.

Es sind Namenlose, die fast täglich im Mittelmeer ertrinken. Es sind Namenlose, die zu uns „in Strömen“ nach Europa kommen. Und es sind Namenslose, die hier ein neues Zuhause suchen. Namenlos, weil unbekannt. Namenlos, weil oft unzugänglich. Wir sprechen viel über sie, sie selbst kommen selten zu Wort. Eine anonyme Menschenmasse, die keiner versteht, die keiner kennt. Über die aber viele etwas zu wissen scheinen. Nermin Ismail lässt diese Menschen zu Wort kommen, sie gibt ihnen eine Stimme – es ist zu wünschen, dass diese Stimmen gehört werden und Europa sich darauf besinnt, dass die Werte dieses „christlichen Abendlandes“ einmal von Moral und Nächstenliebe bestimmt waren.

Das Buch „Etappen einer Flucht“ begleitet Frauen, Männer und Familien auf ihrem Weg nach Europa. Die Autorin arbeitete monatelang freiwillig und unbezahlt als Übersetzerin für Flüchtlinge aus dem arabischen Raum in Deutschland, Österreich, Slowenien, Ungarn, Griechenland und der Türkei. In diesem Buch übersetzt sie die Geschichten und Schicksale einzelner Menschen in umgekehrte Richtung, um sie den deutschsprachigen Lesern näher zu bringen.

Am Ende des Buches finden sich zwei Dutzend Seiten mit Bildern des Fotografen Simon van Hal, die Leid und Schrecken, aber auch Freude deutlich werden lassen.

Grenzaufenthalte spielen eine bedeutende Rolle und markieren die unterschiedlichen Etappen einer Flucht. Ob im Schlepperzentrum von Izmir, an der griechischen Küste, am ungarischen Bahnhof, an der slowenischen Grenze oder in österreichischen Unterkünften … das vorliegende Buch gibt den Menschen Raum zu erzählen und schafft ihnen die Möglichkeit, gehört zu werden

Ein Buch, das man lesen muss.

Und ein Buch, das auch die lesen sollten, die als Grenzschützer, Frontex-Mitarbeiter oder an anderen Stellen mit Flüchtlingen zu tun haben. Es erweitert die Perspektive – allerdings kann keine Garantie dafür übernommen werden, dass die Arbeit nach der Lektüre dieses Buches einfacher wird. Eher das Gegenteil dürfte der Fall sein.

Rezensiert von: Thomas Feltes