Frank-Rainer Schurich / Michael Stricker – Der Serienmörder Adolf Seefeld und die moderne Kriminalistik

Schurich, Frank-Rainer[1] / Stricker, Michael[2]; „Der Serienmörder Adolf Seefeld und die moderne Kriminalistik.“[3]; ISBN: 978-3-895-74875-2, 392 Seiten, Verlag Dr. Köster, Berlin, Schriftenreihe Polizei – Historische Kriminalistik, Erscheinungsjahr 2015, 24.95 €

Zur historischen Handlung des vorliegenden kriminalistischen Fachbuches:

Der reisende Uhrmacher Adolf Seefeld ist ein Hausierer mit einem gewissen Geschick für die Reparatur von Uhren, wie es zur Zeit der Weimarer Republik und des nachfolgend aufflammenden Nationalsozialismus viele gab. Er lebte unauffällig, schlief überwiegend unter freiem Himmel und war ob seiner Fähigkeiten und seiner unaufdringlichen Art durchaus nicht beliebt bei seinen Kunden. Er besaß jedoch auch die Gabe, Jungen im Kindesalter für sich zu vereinnahmen, aus sexueller Motivation. Sie schenkten ihm schnell ihr Vertrauen, nannten ihn liebevoll Onkel Tick-Tack.

Dem Schweriner Staatsanwalt Beusch fällt 1935 (!) eine Häufung ungeklärter Vermisstenfälle und aufgefundener Kindesleichen ohne erkennbare Gewalteinwirkung auf (die späteren Ermittlungen konzentrieren sich auf 20 Verdachtsfälle aus den Jahren 1898 – 1935 / wahrscheinlich dürfte Seefeld, der im Januar 1936 vor dem Schwurgericht in Schwerin wegen 12 Knabenmorden angeklagt und verurteilt und am 23. Mai 1936 hingerichtet wurde, noch für weit mehr bis heute ungeklärte Taten aus sexueller Motivlage verantwortlich gewesen sein[4]) und er vermutet alsbald eine Mordserie. Auf dringende Bitte des Schweriner Staatsanwaltes übernimmt, damals noch durchaus üblich, aber aufgrund des aus heutiger Sicht beklagenswerten Zustandes der zuständigen Landeskriminalpolizei beinahe folgerichtig, der beinahe schon als legendär zu bezeichnende Berliner Kriminalist und Leiter der 1926 von ihm begründeten Berliner „Mordinspektion“ (der ersten in Deutschland), Ernst Gennat, schließlich den Fall.

Die Kriminalisten Frank-Rainer Schurich und Michael Stricker stellen in dem in Struktur, Anlage und Inhalt wirklich außergewöhnlichen Buch den außergewöhnlichen Fall Adolf Seefeld, der sich in der Weimarer Republik und der nachfolgenden Nazi-Diktatur zutrug, vor. Nach der Aufklärung wurde Seefeld in den Zeitungen auch „als Bestie, die aus dem Wald kam“ bezeichnet. So vermittelten sie einen sehr lebendigen Eindruck von der historischen Situation, der höchst unterschiedlichen organisatorischen Gliederung, Stärke und des Leistungsvermögens der Kriminalpolizei in Deutschland, dem damaligen kriminalistischen Zeitgeist, der professionellen Methodik und des damaligen kriminalistischen „wissenschaftlichen“ bzw. „handwerklichen“ State-of-the-Art. Unter anderem sind in Anlagen zu dem Buch vollständige Abschriften des Schwurgerichturteils, Autopsiebefunde, toxikologische Gutachten und zahlreiche andere Urkundsbestandteile beigefügt, die es zu einem wirklich bemerkenswerten kriminalgeschichtlichen Werk in derart beinahe einzigartiger Aufmachung auf dem kriminalistischen Fachbuchmarkt machen.

Interessant ist ferner die darin gestellte Frage, ob bislang ungeklärte Verdachtsmomente heute noch verifiziert werden können und ob die Kriminalistik auch heute noch von einer derartigen Aufarbeitung profitieren kann? Zur weiteren Aufklärung dieser Fragen hat sich daher für das Buch ein Expertenteam zusammengefunden und den Fall mit den Möglichkeiten der modernen Kriminalistik neu aufgerollt. Lesenswerte aktuelle Expertisen und Einschätzungen, neben den beiden Autoren z. B. durch den Psychologen Dr. Lutz Belitz[5] und den Toxikologen Dr. Walter Katzung[6], bringen dabei durchaus ein wenig mehr Licht in das Dunkel des Falles, sodass die Eingangsfrage m. E. uneingeschränkt mit ja beantwortet werden kann.

Das Buch ist ohne Zweifel nicht nur belletristisch interessant, sondern auch als historisches kriminalistisches Werk bedeutsam. Seine Anlage und seine reichhaltige, kasuistisch beinahe vollständige Aufarbeitung der vorhandenen Archivakten ist auch für die Arbeit heutiger Kriminalisten eine kleine Schatztruhe, die einige bedeutsame Pretiosen bereithält. Nicht nur der schier unermüdliche Fleiß und das Durchhaltevermögen aller Beteiligten (der historischen Figuren gleichermaßen wie der akribisch arbeitenden Autoren), nein, auch das Abwägen und ständige selbstkritische Prüfen aller Fakten gegeneinander, die schier unendliche Neugier, ein entscheidendes aber mitunter auch giftiges[7] Antriebs- und Schmiermittel moderner Kriminalisten, machen einen manchmal sprachlos. Es ist ein Genuss, diese Geschichte und ihre facettenreiche kriminalistische Bewertung zu lesen. Die sparten- und disziplinübergreifende Herangehensweise an den archivarischen Schatz ist auch beispielgebend für die Entwicklung einer interdisziplinären wissenschaftlichen Kriminalistik, sowohl in der Grundlagen- wie auch der angewandten Forschung. Nicht nur deshalb wünscht man sich wirklich noch viel mehr derartiger Werke, auch für die eigene tägliche Arbeit, denn, um mit Henry Ford zu schließen, „es geht immer noch besser, als es gemacht wird!“

[1] Prof. em. Dr. sc. jur. Frank-Rainer Schurich, geb. 1947, lehrte als ordentlicher Professor an der durch Entscheidung des Berliner Senats vom 18. Dezember 1990 aufgelösten eigenständigen Sektion für Kriminalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin; seit 1994, dem Jahr, in dem die letzten Diplom-Kriminalisten an der HU ihr Diplom machten, als freiberuflicher Autor tätig. Um die Verbindung zur Praxis nicht zu verlieren, arbeitete er in der DDR regelmäßig bei der Berliner Kripo. Von ihm (zusammen mit Ingo Wirth neu bearbeitet) stammt auch die 2015 bei Dr. Köster erschienene erweiterte Neuauflage (unter anderem sind hier im Unterschied zum Ausgangswerk in einem Anhang alle Professoren, Doktoranden und Diplom-Kriminalisten der Sektion Kriminalistik, einschließlich der Titel ihrer akademischen Arbeiten aufgeführt), des ursprünglich im Heidelberger Kriminalistik-Verlag zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Dr. sc. jur. Rainer Leonhardt herausgegebenen und nach wie vor sehr interessanten Werkes „Die Kriminalistik an der Berliner Universität“.

[2] Michael Stricker, geb. 1956, studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und machte im Jahr 1981 mit einer Arbeit über die Stellung des Zollgrenzdienstes den Abschluss als Diplom-Kriminalist an der HU Berlin.

[3] Vgl. hierzu auch das Inhaltsverzeichnis des Buches, abrufbar auf der Verlagswebsite Dr. Köster, zuletzt aufgerufen am 17.07.2017. Die Vorstellung des Buches von Schurich und Stricker war auch im Jahr 2016 anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der von der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Güstrow gut organisierten und sehr informativen Veranstaltungsreihe „Mord im Fokus“ ein Veranstaltungshighlight.

[4] Sehr ungewöhnlich sind hierbei auch die Aktivitäten des Oberstaatsanwaltes Beusch, den Seefeld nach seiner Verurteilung mehrfach im Gefängnis zu besuchen und ihn zu einem erweiterten Geständnis zu bewegen. Hierzu lässt er dem Verurteilten Kaffee und Essen darbieten und fertigt von den Gesprächen Gedächtnisprotokolle an. Dabei gesteht Seefeld, wie aus den Protokollen, die ebenfalls in Anlage dem Buch beigegeben sind, hervorgeht weitere 12 – 15 Morde, die zu diesem Zeitpunkt z. T. bereits mehr als 30 Jahre zurücklagen.

[5] Dr. sc. jur. Lutz Belitz, außerdem Diplom-Psychologe, war an der Humboldt-Universität Berlin, Sektion Kriminalistik, am Fachbereich kriminalistische Psychologie tätig. Seit 1995 ist er Dozent für angewandte und forensische Psychologie, führt Führungskräftetrainings durch und unterrichtet Vernehmungspsychologie sowie kriminalistisches Denken. Er ist Spezialist für die Erstellung von Täterprofilen und Tathergängen.

[6] Diplom-Chemiker Dr. rer. nat. Walter Katzung, Berlin.

[7] „Neugier ist (nach Löwer) zwar unentbehrliche Triebkraft für die Wissenschaft, aber Neugier ist eben auch Gier“ und so könne (bestenfalls fahrlässig) das „konzentrierte Sich-Ausliefern an ein einziges Ziel (auch) rationale (wissenschaftliche) Sicherungsmechanismen ausschalten.“

Rezensiert von: Holger Plank