Hanna & Nora Ziegert – Die Schuldigen

Ziegert, Hanna & Nora[1]; „Die Schuldigen.“[2]; ISBN: 978-3-328-10104-8, 271 Seiten, Penguin Verlag (Verlagsgruppe Random House), München, 2017, 13.– €

„Scheinbar unvorstellbare Taten begreiflich machen; in die Köpfe und die Seelen derjenigen hineinschauen, die ein Verbrechen begangen haben.“ In einer schon aufgrund der jeweiligen beruflichen Provenienz recht interessanten Co-Autorenschaft (vgl. Fn. 1) haben Mutter und Tochter, Hanna und Nora Ziegert, ein Buch geschrieben, „das die Möglichkeit geben soll, Kriminalfälle aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Was geht in einer Frau vor, die ihr Kind verhungern lässt? Warum vergewaltigt ein junger Mann seine Mutter? Die Ziegerts nehmen ihren Leser mit auf die Suche nach den Auslösern für solche Taten. Das ist nicht immer ganz einleuchtend, das ist manchmal literarisch ein wenig überambitioniert – aber auf jeder Seite sehr lehrreich und unbedingt lesenswert,“ schreibt Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung in der Buchempfehlung in seiner neuen Online-Reihe „Prantls Blick – Die politische Wochenvorschau“ vom 09. Juli 2017.

Es handelt sich allerdings mitnichten um ein wissenschaftliches Fachbuch. Das Werk entwickelt seinen Reiz auf den Leser vielmehr aus der inhaltlich und sprachlich „bodenständig“ gehaltenen, prosaischen Verknüpfung zwischen realen Krimi­nal­geschichten und dem Versuch, diese mit Hilfe forensischer Expertise aus dem Blickwinkel der Täter alltagstauglich einzuordnen. Der Verlag spricht in seiner Produktwerbung zu den insgesamt acht in dem Buch verarbeiteten Geschichten daher auch nach der Anlage durchaus zurecht von „packenden Kurzkrimis“. Das nach zutreffender Apostrophierung des Verlages als „True-Crime-Buch“ bezeichnete Werk spielt jedenfalls in der Werbung daher durchaus mit einer – wie wir nicht nur durch einem Blick auf das abendliche Fernsehprogramm wissen – „vom Verbrechen faszinierten Öffentlichkeit“. Schon über hierbei verwendete Antonyme wie z. B. „Schuld“ – „Unschuld“ bzw. „gut“ – „böse“ entsteht dieser zunächst den kriminologisch interessierten Leser primär eher „abstoßende“, wenn auch auf dem umkämpften Buchmarkt zulässige und sicher bewusst geförderte Eindruck. Die Autorinnen machen sich derartige Stilmittel inhaltlich aber nicht zu eigen, denken und schreiben in anderen, professionellen, mitunter durchaus wissenschaftlich erläuterten Kategorien über „Schuld im strafrechtlichen Sinne“. Sie versuchen transparent zu machen, dass die gutachterlich dem Gericht vorzutragende Einschätzung, ob der / die zu Beurteilende zum Tatzeitpunkt individuell in der Lage war, das Unrecht seiner / ihrer Tat zu erkennen und er / sie dementsprechend anders hätte handeln können, dem deutschen Strafprozess – jedenfalls bei schwerwiegender Kriminalität gegenüber den Rechtsgütern Leib, Leben und körperliche Unversehrtheit – unverzichtbar eigen ist und sie beschreiben, mit welchen professionellen Methoden und Stilmitteln sie diese Einsichten zu gewinnen versuchen. Sie wägen in ihren Geschichten, die in den Jahren 1992 bis 2010 spielen, aber insbesondere auch die entwick­lungsfördernde, die Bedürfnisse des Kindes adäquat berücksichtigende „Verant­wortung“ – ein im Gegensatz zur „Schuld“ dem Strafrecht fernerer Begriff – gerade der Mutter eines Straftäters bei der Beurteilung der „life-course-deviancy“ der Täter(innen) ab[3]. Es werden also nüchterne, disziplin- und spartenübergreifende forensisch strafrechtliche und psychoanalytische Katego­rien verarbeitet, allerdings sind diese idiomatisch durchwegs „alltagstauglich verpackt“.

Das Werk lässt sich aufgrund der verfremdeten Nacherzählung realer Dialoge mit Tätern und Opfern aus der beruflichen Praxis von Dr. Hanna Ziegert, sehr „sachte“ juristisch eingeordnet von Dr. Nora Ziegert, nicht nur flüssig lesen. Es eröffnet am Beispiel sicher bewusst und nicht repräsentativ ausgesuchter Fälle aus der beruflichen Praxis von Hanna Ziegert auch eine etwas andere „krimino­logische Perspektive“ auf die Rolle der Frau, auf die sich im Speziellen die Geschichten fokussieren. „Alle Geschichten verbindet, dass auf irgendeine Art und Weise eine Frau erheblichen Einfluss auf das Geschehen ausübt“, auch wenn sie sich dabei nicht immer zwingend strafbar gemacht haben muss, so die Autorinnen in ihrem Vorwort. Es handelt sich auch um ein Plädoyer, sich im Strafprozess intensiver mit der Psyche des / der betroffenen Menschen zu beschäftigen. Aus dem Blickwinkel des Richters mag hierbei der Einwand gelten, „dass er einen Täter, dem er nahe genug gekommen ist, um ihn wirklich zu verstehen, nicht mehr objektiv verurteilen kann. Andererseits, so die Autorinnen, ließe sich vertreten, kann ein Richter, der die Beweggründe des Täters und die Entstehungsgeschichte der Tat durchdrungen hat, Art und Ausmaß der Strafe an diese Erkenntnisse anpassen und so dem Zweck der Bestrafung besser gerecht werden.“

Das lesenswerte Buch wirft unter dem einprägsamen, gleichermaßen einfach aber sprachlich etwas präziseren Leitmotto des Klappeninnentextes: „Wahre Verbrechen – Echte Täterinnen – Und das, was sie menschlich macht“, einen etwas tieferen, nicht nur auf eine kurzzeitige Momentaufnahme fokussierten, weitgehend unverstellten Blick auf mögliche aber lang zurückliegende, frühkindliche Kausal- bzw. Ursache-Wirkungsbeziehungen oder wenigstens offenkundigen Korrelationen bei der Entstehung von Kriminalität. Bei dem Buch stimmt nicht nur das Preis-Leistungsverhältnis, es erfüllt auch aus einem anderen Grund seinen Zweck. Es versucht auf alternative Weise aber durchaus gelungen, weil eben „alltagstauglich“ angelegt, den Blick auf etwas andere Tat-Täter-Kriminalitätsentstehungs-Kategorien zu lenken.

 

[1] Dr. Hanna Ziegert, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin in München, zudem seit dreißig Jahren als forensische Gutachterin tätig; ihre Tochter, Dr. Nora Ziegert, ist promovierte Juristin (mit einer 2013 am Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht / ZAAR  der Ludwigs-Maximilians-Universität München / LMU abge­schlossenen und bei Nomos herausgegebenen Arbeit zur „Rechtsbeziehung des Headhunters zum Kandidaten“ sowie angehende Notarin, derzeit als Notarassessorin in Forchheim (Oberfranken) tätig, zuletzt abgerufen am 17.07.2017.

[2] Hrsg. im Penguin Verlag, München, vgl.: https://www.randomhouse.de/Paperback/Die-Schuldigen/Hanna-Ziegert/Penguin/e511071.rhd#info, zuletzt abgerufen am 17.07.2017.

[3] Dieser Ansatz wird gerade in einem Interview mit den beiden Autorinnen, erschienen am 12.06.2017 im Münchner Merkur, deutlich, zuletzt abgerufen am 17.07.2017.

Rezensiert von: Holger Plank