Hrsg.: Stephan Voß, Erich Marks – 25 Jahre Gewaltprävention im vereinten Deutschland

Hrsg.: Voß, Stephan, Marks, Erich; .; Dokumentation des Symposiums an der Alice Salomon Hochschule in Berlin am 18. und 19. Februar 2016 in zwei Bänden, Berlin, 2016, ISBN 978-3-86460-575-8, 35.80 EUR

  1. Thema

Die zwei Bände beinhalten die umfangreiche Dokumentation des Symposiums „25 Jahre Gewaltprävention im vereinten Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven“, das am 18./19. Februar 2016 in Berlin stattfand. Die Veranstaltung widmete sich den breit gefächerten Gewaltphänomenen.

 

  1. Inhalt

In den drei Monaten vor Eröffnung des Symposiums wurden bundesweit 21.000 neue kleine Waffenscheine ausgestellt. Mit diesem kurzen Hinweis in seinem Grußwort gelingt es Ralf Kleindiek, den Leser sofort mitten in das Thema hineinzustoßen.

Mit 550 Seiten (Band I) und 526 Seiten (Band II) legen die beiden Herausgeber eine umfangreiche Tagungsdokumentation vor, die über die Internetseite http://gewalt-praevention.info/nano.cms/dokumentation auch (frei verfügbar) online abgerufen und im pdf-Format artikelweise heruntergeladen werden kann. Die Online-Version weist allerdings eine andere Systematik bei der Seitennummerierung auf, was bei Zitationen zu berücksichtigen ist. Mit rund 250 Teilnehmern war es Ziel des Symposiums, die Zukunft der Gewaltprävention in Deutschland zu diskutieren (vgl. Voß/Marks 2017, 295). Im Zuge des 2-tägigen Symposiums richtete der Veranstalter 19 Arbeitsgruppen für unterschiedliche Arbeitsfelder ein, in denen die Teilnehmer/-innen eine Bestandsaufnahme durchführten und hierüber diskutierten. Am zweiten Tag folgten arbeitsfeldübergreifende Diskussionen und Bewertungen dieser Ergebnisse mit dem Ziel, Thesenpapiere für die künftige Gewaltprävention zu entwickeln. Auf dieser Grundlage beinhaltet Band I Beiträge zu den ersten zehn Arbeitsfeldern und Band II die verbleibenden neun Arbeitsfelder sowie die Thesenpapiere zu 18 Arbeitsfeldern (ohne das Arbeitsfeld Rechte Gewalt).

Bei den Beiträgen in Band I und II zu den 19 Arbeitsfeldern handelt es sich um die Texte, die den Arbeitsgruppen vorab zur Verfügung gestellt wurden und in denen Wissenschaftler oder Praktiker die jeweiligen Entwicklungen, Diskussionen und Handlungsbedarfe aufzeigen sollten. Diese gut gewählte Methode kommt auch dem Leser zugute, dem dadurch ein komprimierter Einstieg in folgende facettenreichen Gewaltphänomene ermöglicht wird:

Partnergewalt (Häusliche und sexualisierte Gewalt), Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder und Jugendliche (Gewalt in der Erziehung), Kinderschutz, Gewalt in der Kita, Gewalt in der Schule, Gewalt im Sport am Beispiel Fußball, Gewalt im öffentlichen Raum, Gewalt und Medien, Vielfach auffällige straffällige junge Menschen, Gewalt gegen alte Menschen, Vorurteilsmotivierte Gewalt, Rechte Gewalt, (De)Radikalisierung junger Menschen, Polizeiliche Intervention und Prävention, Jugendstrafrechtspflege, Opfer von Gewalt, Kommunale Prävention, Prävention auf der Landes- und auf der Bundesebene, Gewaltprävention und Gesundheitswissenschaften (Public Health). Hervorzuheben ist das letzte Arbeitsfeld „Evaluation und Qualitätsentwicklung in der Gewaltprävention und -intervention“.

Die zwei Bände bieten einen schönen Service, da die in den Arbeitsgruppen entwickelten Forderungen in einem gesonderten Beitrag in Band II nochmals zusammengefasst werden und darüber hinaus die am 22. Juli 2017 leider verstorbene Wiebke Steffen diese Forderungen in ihrem Tagungsfazit zu einer großen Linie zusammenfasst. Zusätzlich dazu beinhaltet der Band I einen Rückblick des Herausgebers auf das Symposium.

Bemerkenswert sind Hinweise an etlichen Stellen des Doppelbandes auf die Arbeit der Gewaltkommission (vgl. Schwind et al. 1989; Eckert/Willems 2004, 535 ff), die vielerorts schon in Vergessenheit geraten ist. Auch vor diesem Hintergrund ist das Veranstaltungsfazit von Wiebke Steffen zu betrachten, wenn sie darauf hinweist, dass dem „Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Praxis“ mehr Bedeutung zukommen sollte. „Kommt das Wissen an, wie kommt es an und (wie) wird es umgesetzt?“ Neben dem Eröffnungsvortrag müssen ebenfalls die zwei Aufsätze von Rafael Behr über „Präventionsstrategie(n) der deutschen Polizei im Wandel der letzten 25 Jahre“ und „Polizeiliche Präventionsarbeit der Zukunft“ hervorgehoben werden, der zwei wesentliche Entwicklungsmomente der Prävention aufgreift: Die Vorverlagerung des Verdachts bzw. des Gefahrenbegriffs und die zunehmende Verwendung von Präventionstechnik. Diese zwei Beiträge zählen sicherlich zu den Höhepunkten des mehr als 1.000 Seiten starken Werkes. Dieter Hermann bietet eine weitere Beschreibung der kommunalen Kriminalprävention; daran mangelt es zwar inzwischen nicht mehr, dennoch gibt er einen guten Überblick über bekannte Defizite und weiterhin ungelöste Probleme. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn sich derartige Aufsätze kritischer mit der Broken Windows-These auseinandersetzen würden, denn viele der in den zwei Tagungsbänden beschriebenen Gewaltphänomene werden in den kommunalen Gremien nur bedingt behandelt – zugunsten einer diffusen und oft auf Sauberkeit und Ordnung ausgerichteten Präventionsstrategie. Broken Windows war nicht nur Schrittmacher des Booms der Kriminalpräventiven Räte, sondern prägt bis heute vielerorts lokale Aktivitäten. Roland Eckert beschreibt in seinem zu empfehlenden Aufsatz Einflussfaktoren auf Radikalisierungen und richtet seinen Blick auf makrostrukturelle Faktoren. Demnach beginnt die Gewaltprävention bereits mit der Annahme vorhandener gesellschaftlicher und kultureller Konflikte. Auf diesen Aspekt weist auch Michael Kohlstruck (S. 48, Band II) hin. Andreas Mayer, den das Autorenverzeichnis der ProPK zuschreibt, verfasste in  seinem Beitrag “ 25 Jahre Polizeiliche „Intervention und Praxis“ von Gewalt“ (Band II) – wen wundert es – eine mehr als wohlwollende Beschreibung der ProPK-Arbeit. Hier wäre entweder mehr Distanz zum Thema oder eine kritischere Reflektion wünschenswert gewesen. Ärgerlich zudem, dass zwei von drei in den Fußnoten angegebene Links ins Leere laufen. Andreas Klose schildert umfangreich und lesenswert die Entwicklung der Fußball-Fanprojekte und des Nationalen Konzeptes Sport und Sicherheit. Auf Seite 351 (Band I) zitiert er aus der Schriftenreihe der (ehemaligen) PFA Hiltrup:

Der Berliner Fußballfan Mike Polley wurde am Samstag, den 3. November 1990 von einem Polizeibeamten bei Auseinandersetzungen zwischen (Ost) Berliner Fans/Hooligans und der Leipziger Polizei im Rande des Fußballspiels zwischen Lok Leipzig und dem DFC Dynamo Berlin erschossen.

Davon ausgehend, dass Klose richtig zitiert hat, hätte es hier dringend einer Korrekturanmerkung bedurft, denn es handelt sich quasi um ein Schalke 05-Syndrom. Zunächst geht es bei diesem Vorkommnis um den BFC Dynamo. Das Spiel fand zwar in Leipzig statt, doch Gegner war nicht Lok Leipzig, sondern der FC Sachsen Leipzig; der Vorgängerverein des FC Sachsen war die BSG Chemie Leipzig und damit der ärgste Rivale (bereits zu DDR-Zeiten) von Lok.

 

  1. Fazit

Die 19 behandelten Arbeitsfelder verdeutlichen den differenzierten Blick auf das weite Feld der Gewaltprävention, ohne sich in Definitionsfragen zu verlieren. Mit den Grundlagentexten stehen in der Gesamtbetrachtung gute Texte zur Verfügung, die nicht nur einen thematischen Einstieg gewähren, sondern Handlungsbedarfe aufzeigen und Denkimpulse setzen. Zu diskutieren ist lediglich, ob die zwei Arbeitsfelder „Vorurteilsmotivierte Gewalt“ und „Rechte Gewalt“ ausgewogen genug gewählt wurden. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass die in beiden Bänden beinhalteten (Gesamt-) Inhaltsverzeichnisse (die auf den jeweiligen Band zugeschnitten sind) eine gute Navigation durch die rund 1.000 Seiten ermöglichen. Das Autorenverzeichnis weist lediglich auf deren institutionelle Herkunft hin. Hier wären nähere Angaben wünschenswert gewesen. Die Produktion des Buches erfolgte über book-on-demand. Bereits beim ersten Eindruck fällt die Qualität des Papiers auf. Der Leser erhält für günstige 35,80 EUR also auch ein qualitativ gut hergestelltes Produkt, das sich sowohl für Praktiker also auch für Wissenschaftler eignet.

Verwendete Literatur

Eckert, R.; Willems, H.: Gewaltforschung und Politikberatung. Die Kommissionen, in: Gewalt, hrsg. von Wilhelm Heitmeyer, Hans-Georg Soeffner, Frankfurt am Main, 2004, S. 525 – 544

Schwind, H.D. et al.: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Band I: Endgutachten und Zwischengutachten der Arbeitsgruppen, Berlin, 1989

Voß, S.; Marks, E.: Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Prävention von Gewalt, in: Kriminalistik 5/2017, S. 295 – 299

Rezensiert von: Karsten Lauber