Armin Steinbach – Rationale Gesetzgebung

Steinbach, Armin Dr.[1]; Rationale Gesetzgebung [2]; ISBN: 978-3-16-155152-9, 396 Seiten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, Reihe: Jus Publicum, Band 263, 2017, 89.– €

Rationale Gesetzgebung, eine für den Gesetzgeber genauso anspruchsvolle Herausforderung wie für den Bürger auf den ersten Blick selbstverständliche Tatsache! Steinbach bearbeitet dieses scheinbar unauflösbare Spannungsfeld mit Akribie und versucht wesentliche rechts-, wissenschafts- und systemtheoretische Attribute der Rationalität im Hinblick auf die „Steuerungs- und Ordnungsfunktion des Rechts“ zu identifizieren und zu kategorisieren. Er bietet dadurch zahlreiche interessante Ansatzpunkte für den Gesetzgeber, den sozialen Wandel moderner Gesellschaften sowohl antizipativ wie auch reaktiv gestalten zu können.

Gerade „Staatshandeln muss vernünftig sein, um dem Anspruch auf verbindliche Ordnung genügen zu können“, so der Autor, wobei aber jedenfalls „die Verfassung zum Rationalitätsbegriff schweige (…), somit dessen inhaltliche Konturen fehlten und damit auch die deskriptive wie normative Bestimmbarkeit rationaler Gesetzgebung.“ So werde der Terminus rationale Gesetzgebungmehr rechtspolitisch als rechtswissenschaftlich zum Sammelbegriff für all jene Anforderungen einer (eher) ‚optimalen Gesetzgebung’, deren verfassungs­recht­liche Verbindlichkeit in Zweifel stehe“. Das Bundesverfassungsgericht habe dieser Debatte mit seiner Rechtsprechung „zum gesetzgeberischen Gebot der Widerspruchsfreiheit und Folgerichtigkeit“ in jüngerer Vergangenheit mehrfach (vor allem im Steuerrecht) Auftrieb verliehen.

Rationalität hat viele Lesarten, „ist ein ambivalenter und kontext­abhängiger Begriff, dessen Aussagegehalt changiert, je nachdem in welchem Bezugssystem er zum Einsatz komme“, bspw. in zeitlicher, methodisch-theoretischer wie auch prozeduraler Hinsicht. Das Attribut „rational“ entlehnt erkenntnistheoretische Anknüpfungspunkte aus zahlreichen Wissensgebieten, habe also eine „multidisziplinäre Provenienz“, verlange deshalb nach einer inter­disziplinären Herangehensweise. Es ist schon deshalb schematisch und inhaltlich relativ, daher auslegungsbedürftig. Dabei kann es durchaus zu Wertungswidersprüchen kommen, denn der Gesetzgeber verfolgt zunächst eigenständige Gestal­tungsziele, die, je nach politischem Gestaltungswillen, zunächst auch nur zweckrational sein können. Es gibt also keine „Einheit der Vernunft“, sondern einzig die „Pluralität der Vernunft spiegelt die mannigfaltigen fachwissen­schaftlich spezifizierten Rationalitätstypen wider.“

Der Autor empfiehlt daher einerseits einen „staatswissenschaftlichen Ansatz, der Zugang zu denjenigen Disziplinen verschaffe, die einen wissenschaftlichen Diskurs über Rationalität des Staatshandelns führen und deshalb für einen interdisziplinären Austausch fruchtbar gemacht werden können.“ Steinbach unternimmt andererseits in seiner Habilitationsschrift den Versuch, den „nicht genuin juristischen Begriff der Rationalität“ und dessen „außerjuridische Ra­tionalitätsattribute in rechts­wissen­­schaftlichen Kategorien verwertbar und hinsichtlich deren verfassung­s­rechtlicher Verankerung“, jeweils im Hinblick auf die Rationalität der Gesetz­gebung, überprüf- und komplementär­wissenschaftlich nutzbar zu machen.

Dabei geht er sehr feinsinnig und in deduktiver Form vor und versucht den Begriff zunächst ganz allgemein mittels verschiedenster wissenschafts­theoretischer Konzepte zu erschließen. Im Gegensatz zu diesem weitreichenden Ansatz werden hierbei in der Literatur sehr häufig jeweils nur einzelne Attribute der Rationalität, wie bspw. beim Politik­wissenschaftler Rolinski[3], der haupt­sächlich nur prozedurale Ansätze für erfolg­versprechend hält, herausgestellt. Steinbach hingegen versucht den Begriff deutlich intensiver als andere Kommentatoren zu erfassen und anzuwenden, was schon an der Gliederung seiner Arbeit erkennbar wird:

Nach dem Einführungskapitel, in dem vor allem die Beschreibung zum Status quo der Diskussion über eine rationale Gesetzgebung sehr lesenswert ist, untersucht Steinbach in weiteren fünf Kapiteln (rechts-)theoretisch, sozial-, wirtschafts-, politikwissenschaftlich, diskursethisch wie auch auf der Basis von Referenz­begriffen der analytischen Wissenschaftstheorie[4], danach prozedural und zuletzt im Kapitel 6 am praktischen Beispiel des Netzausbaubeschleu­nigungsgesetzes die Bedeutung des Begriffs der Rationalität für die Gesetzgebung. Im abschließenden siebten Kapitel fasst er in insgesamt 26 Thesen die wichtigsten Erkenntnisse seiner Untersuchung zusammen. Schon anhand der weitreichenden Kategorien in der Gliederung des Buches beeindruckt der Autor den Leser, die Darbietung der wesentlichen Thesen als zehnseitige Essenz zum Abschluss des äußerst interessanten Buches rundet das Werk beinahe perfekt ab. Man betrachtet nach der Lektüre des Werkes kriminalpolitische Absichtserklärungen und Gesetzent­würfe mit ganz anderen Augen.

Steinbach bemisst Rationalität nach formalen (vgl. u. a. Fn. 4), materiellen[5], prozeduralen[6] (vgl. hierzu auch Fn. 3), einer genuin juristischen[7] aber auch einer politischen Rationalität. Hierunter versteht er insbesondere den Kompromiss, welcher u. U. einen Konflikt zwischen Demokratieprinzip und erkenntnis­gestützter Zweckrationalität bein­haltet. Er ergänzt seine Thesen um das zentrale Thema des Rationalitäts­konzeptes eines kritischen Rationalismus mit seinen Stützpfeilern des Wandels und der Veränderlichkeit (à Erkenntnisgewinn in Verfahren von „trial and error“). Für den Gesetzgeber in immer komplexer werdenden Gesellschaften sollten also Evaluierung, Falsifizierung und Revision die Regel sein (vgl. hierzu auch Fn. 7). Jedenfalls bei kriminalpolitischen Vorhaben ist dies noch nicht durchgängig zu beobachten. Revidierbarkeit und Alternativendenken korrespondieren dabei aber mit der (verbindlichen) verfassungsrechtlichen Vorgabe einer Beobachtungs- und Nachbesserungs­pflicht für den Gesetzgeber.

Abschließend hält Steinbach fest, dass es weder „die rationale Gesetzgebung noch die rechtliche Rationalität gebe.“ Es gebe auf die Frage, was rational sei und was nicht, Divergenzen und Kongruenzen zwischen den Disziplinen. Gerade daraus ergeben sich rechtstheoretisch aber Chancen der Entwicklung normativer Aussagen für Gesetze. Alleine mit „formalen, mate­riellen oder prozeduralen Rationalitätskonzepten sei das Gesetzgebungs­verfahren aber nicht abschließend zu erfassen. Seine Eigenart erschließe sich gerade aus der Verbindung verschiedener (interdisziplinärer) Elemente, die (…) zueinander in Kollision treten bzw. sich überlagern könnten.“

Steinbach hat ein außerordentlich dicht gewebtes, sehr komplexes aber gut gegliedertes Fachbuch, ergänzt um praktische Anknüpfungspunkte aus seiner ministeriellen Praxis, vorgelegt. Wer sich künftig in Wissenschaft und Praxis mit Rationalitäts­konzepten, insbesondere im legislativen Kontext, auseinander­setzen darf, wird darin zahllose kluge Argumentationsmuster und Anknüpfungspunkte finden. Vor allem kann das Werk aber auch dazu dienen, die seit Mitte der 1970er Jahre „dahindümpelnde“ Diskussion um eine wissenschaftlich verankerte „Gesetzgebungslehre“[8] wieder zu beleben. Mit seinem üppigen, gut sortierten Literatur­verzeichnis dient das Buch darüber hinaus auch als Nachschlagewerk und Kompendium, um sich schnell und übersichtlich thematische Anknüpfungs­hinweise zum Begriff der „Rationalität“ erschließen zu können.

 

[1] Dr. iur., Dr. rer. pol., LL.M.; am 27.01.2017 Habilitationsschrift an der Universität Bonn bei Prof. Dr. Christoph Engel (dort Nachweis S. 19), Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut (MPI) zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn, vgl. https://www.coll.mpg.de/steinbach, seit 2014 Associate Member und Gwilym Gibbon Fellow am Nuffield College der University of Oxford, vgl. hierzu Nachweis unter  https://www.nuffield.ox.ac.uk/People/sites/armin.steinbach/SitePages/Biography.aspx, seit 2016 Jean Monnet Fellow am Europäischen Hochschulinstitut (EUI) in Florenz, vgl. http://www.eui.eu/DepartmentsAndCentres/Economics/People/Fellows/Jean-Monnet-Fellows.aspx,  alle Quellen zuletzt abgerufen am 17.05.2017.

[2] Vgl. Website des Mohr Siebeck Verlags, Tübingen: https://www.mohr.de/buch/rationale-gesetzgebung-9783161551529, zuletzt abgerufen am 17.05.2017.

[3] Demnach gliedert eine „rationale Gesetzgebung“ jedes konkrete Gesetzgebungsverfahren in mehrere öffentlich überprüfbare (transparente) Schritte auf. Die Einhaltung eines solchen Verfahrens garantiere zwar auch keine Objektivität, so Rolinski (in: „Über rationale und nicht rationale Gesetzgebung, in: Müller et al. (Hrsg.), FS für Ulrich Eisenberg, München, 2009, S. 171 – 192). Die strikte Einhaltung einer derartigen „Gesetzgebungslehre“ trage aber bei zu mehr Transparenz, größerer Sachlichkeit und zu mehr Objektivität bei und würde die Durchsetzung von Partikularinteressen auf Kosten der Gemeinschaft mindestens erschweren helfen. Die Gesetze wären bei konsequenter Anwendung eines derartigen, beispielhaft beschriebenen Verfahrens stärker am Gemeinwohl orientiert und es wäre ein notwendiger Filter gegen den Versuch installiert, „verdeckte eigene Ziele mit Hilfe des vorgeschobenen Gesetzes durchzubringen.“

[4] Wie bspw. begriffliche Konsistenz, logische Widerspruchsfreiheit und Bestimmtheit der Gesetze (Kernkriterien der analytischen Wissenschaftstheorie), aber auch Kohärenz, und Korrektheit. Konsistenz und Kohärenz sind außerdem wesentliche Bestandteile der Systemgerechtigkeit, so der Autor.

[5] Hiermit beschreibt er eine wertungsbasierte inhaltliche Richtigkeit, die mit einem quantitativ und qualitativ aufgeladenen Staatsaufgabenverständnis einhergehen kann. Hierbei ist ihm vor allem auch die ökonomische Rationalität, das ökonomische Effizienzpostulat, nicht nur hinsichtlich der Zwecksetzung, sondern auch der Zweckerreichung, ein wichtiges Anliegen als legitimes Regelungsziel des Gesetzgebers. Dieses werde vom Gesetzgeber einfachgesetzlich aufgegriffen und damit mit Hilfe der drei ökonomischen Ausle­gungsmaßstäbe (Wirtschaftlichkeit, Pareto- und Kaldor-Hicks-Effizienz) zum teleologischen Auslegungsmaßstab des jeweiligen Gesetzes gemacht. Dies komme als strukturelle Parallele in der Gesetzesanwendung formaljuristisch vor allem durch die Verhältnismäßigkeits­prüfung mit ihrer Zweck-Mittel-Orientierung zum Ausdruck.

[6] Gemeint sind v. a. die Erzeugungsbedingungen, also z. B. die Diskursrationalität (zur Herstellung konsentierter Geltungsansprüche), systemtheoretische Perspektivenwechsel, das Deutlichmachen der politischen Rationalität in diesem Prozess, also der Handlungslogik der politischen Akteure mit ihrer grundlegenden Orientierung nach Gewinn und Erhalt von Macht, die sich im politischen Prozess verfahrensmäßig i. d. R. im Kompromiss ausdrückt; daneben steht hierbei der kritische Rationalismus mit seinem institutionellen Lernprozess, der Vorläufigkeit und Revidierbarkeit der Erkenntnisse und einem Alternativendenken. Allerdings, so Steinbach, könne eine derartige „politische Handlungsrationalität (dann auch) im Widerspruch zum formal-rationalen Bestimmtheitsgebot“ stehen.

[7] Wirklichkeitsorientierung: Recht steuert und ordnet soziale Wirklichkeit (dabei muss es von richtigen faktischen Voraussetzungen ausgehen) und wird so als Instrument zur Erzielung von erwünschten oder zur Vermeidung von unerwünschten Wirkungen (Zweckerreichung) verstanden. Bei fehlender Gewissheit über zukünftig eintretende Ereignisse kann dabei durchaus eine „Experimentgesetzgebung“ sinnvoll sein, in der Wirklichkeit häufig festzustellende „symbolische Gesetzgebung“ hingegen offenbart widersprüchliche Aussagen der Rationalitätskonzeptionen, da ihr Zweck vorwiegend in der politisch-kommunikativen Wirkung zur Profilierung und Machtsteigerung im öffentlichen Raum besteht.

[8] Um dem Ideal einer möglichst (durchgängig) am Gemeinwohl orientierten, rationalen Gesetzgebung nahe zu kommen, empfiehlt Rolinski, 2009, S. 174, auf die Ergebnisse der „Gesetzgebungslehre“ zurückzugreifen. Diese versuche „durch Vorgabe bestimmter Verfahrensregeln auch im komplexen Bereich widerstreitender Partikularinteressen und ideologischer Positionen einen möglichst hohen Grad an Gerechtigkeit zu erreichen“, enthalte demnach also wesentliche Ingredienzen (kriminal-)politikwissenschaftlicher Interessen und Gegenstände. Gesetzgebungslehre sei schon deshalb nützlich, weil sie gegenständlich nach der „Herbeiführung optimaler sozialer Zustände frage“, die Wertfrage also nicht ausklammere. Diese verfügt sicher über große Schnittmengen zu einer sich „wissenschaftlich“ verstehenden Kriminalpolitik und ergänzt die Ziele sozialwissen­schaftlich begründeter, „praktischer Kriminalpolitik“, was er anhand seines Musters einer „Prüfschablone rationaler Gesetzgebung“ (ders., 2009, S. 174 f.) verdeutlicht. Eine solche „wissenschaftliche Lehre von der guten Gesetzgebung“, wie sie bspw. schon Noll 1973 sehr dezidiert beschrieben und gefordert hat, eine solche „allgemein anerkannte und (…) damit verbindliche (wissenschaftliche) Gesetzgebungslehre“ (Schulze-Fielitz, Helmuth, 1988, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – zugleich Habilitationsschrift -, S. 26 ff., 562 ff.) gibt es eigenständig denominativ und gegenständlich-inhaltlich ebenso wenig wie eine „wissenschaftliche Kriminalpolitik“ (immer) noch nicht.

Rezensiert von: Holger Plank