Arndt Sinn – Organisierte Kriminalität 3.0

Sinn, Arndt Prof. Dr.[1]; „Organisierte Kriminalität 3.0“[2]; ISBN: 978-3-662-49843-9, 84 Seiten, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2016, 29.99 €

Der Autor, der sich sehr intensiv mit dem Phänomen OK auseinandersetzt und zahlreichen fachspezifischen (internationalen) Expertengremien angehört, hat erst am 16. Mai 2017 seine neue Studie „Wirtschaftsmacht Organisierte Kriminalität: Illegale Märkte und illegaler Handel“[3]  (ebenfalls bei Springer erschienen) in der Bundespressekonferenz vorgestellt.

Mit seiner im Jahr 2016 bei Springer herausgegebenen kompakten 79seitigen Studie „Organisierte Kriminalität 3.0“ hat er sich zum Ziel gesetzt, „nach mehr als 30 Jahren OK-Diskussion den Blick für die geänderte OK-Lage in Deutsch­land und in der Europäischen Union zu schärfen.“ Eine Herakles-Aufgabe, die er – seiner selbstgewählten Chronisten-Pflicht folgend – trotz geringem Umfangs der Studie in ausreichender Pointierung darbietet. Wenngleich die Erläuterung, was denn die „Folgestufe OK 3.0“[4] nun eigentlich charakterisiert (S. 61) und vor allem, was sie von den bisherigen Modellen „OK 1.0“ und der „ersten Evolutionsstufe OK 2.0“ unterscheidet[5] (S. 77) sehr spät und sehr allgemein erfolgt, zeigt der der Autor komprimiert und dennoch recht anschaulich, wie sich die „Organisierte Kriminalität“ auf die Entwicklung neuer Technologien, die Etablierung neuer Märkte, den veränderten Wert und Rang von Ressourcen, veränderte gesellschaftliche Entwürfe in einem größeren, transnationalen Bezugsrahmen mit rechtlich divergierenden straf- und strafprozessrechtlichen Referenz­systemen in unglaublicher Geschwindigkeit einstellt. Hingegen gründen – und das ist die Kernaussage der Studie – die behördlichen Bekämpfungsstrategien nach wie vor und trotz der Einrichtung supranationaler Agenturen und damit verbundener kriminalstrategischer und -politischer Aktivitäten und einem verbesserten Informationsaustausch auf weitgehend tradierten Mustern. So orientiert sich bspw. die deutsche fachspezifische Kriminalstrategie im Wesentlichen immer noch an einem strafrechtliche, soziologische, psycho­logische und ökonomische Elemente umfassenden (relativ starren) OK-Definitionsraster aus den 1990er Jahren[6], etwas später ergänzt um ein Indi­katoren gestütztes (aufgenommen in einer Anlage zum Definitionsraster und grds. veränderbar) und damit etwas flexibler und variabler handhabbares OK-Konzept in den Ländern[7] (derartige und nahezu inhaltsgleiche Bekannt­machungen sind aufgrund der „Polizeihoheit“[8] in allen Bundesländern verfügt).

Sinn mahnt, dass die (deutsche – weltweit existieren wohl mehr als 180 unterschiedliche Definitionen!) OK-Definition kein „Ausschließlichkeitsdogma“ (‚S. 7) darstellen dürfe, da sonst Strafverfolgung und Recht für neue Strukturen blind blieben. Dennoch mache das Definitionsraster durchaus Sinn, wenigstens wenn es als Hilfsmittel statistische Zwecke bedient und im Rahmen eines „Nützlichkeitskonzepts“ (S. 8) ein „Legitimationsinstrument“ zur Abgrenzung von justiziellen und polizeilichen Zuständigkeiten bietet und auf beiden Seiten die Grundlage für Organisationsentwicklungen darstellt. Allerdings zeigt sich schon beim (eigentlich nicht statthaften) Vergleich zwischen der „Polizeilichen Kriminalstatistik“ und der „Strafverfolgungsstatistik“, dass die OK-Definition weder polizeilich noch justiziell verfängt. Mangels eines originären „OK-Tatbestandes“ im materiellen Strafrecht und nur weniger in der PKS explizit ausgewiesener (ausschließlich strafverschärfender und nicht -begründender) banden- bzw. gewerbsmäßiger Qualifizierungstatbestände bilden weder die PKS noch danach die Strafverfolgungsstatistik ein adäquates Hellfeld der OK ab. Die zusammenfassenden jährlichen OK-Lageberichte des BKA helfen da auch nicht weiter, denn sie bilden nur die geführten Verfahren, also die „Ergebnisse polizeilicher Strafverfolgungsaktivitäten“, die gerade auf diesem Gebiet stark von dem eingesetzten Personal und der Logistik sowie den daraus resultierenden „Initiativermittlungen“ (zur Klärung des Anfangsverdachts eines OK-Bezugs im Rahmen geltenden Strafprozess- oder Gefahrenabwehrrechts) abhängen, ab und haben somit „wiederum einen kaum wahrnehmbaren Bezug zu den Daten der PKS“. Im Grunde, so Sinn, hätten die ermittlungsführenden OK-Dienststellen „die Macht, ein Verfahren als OK einzustufen oder nicht“ (OK sei damit klassische Kontrollkriminalität), und das obwohl hinreichend klare Aussagen zur Sachleitungsbefugnis in den Richtlinien bei Gemengelagen fehlen. Nicht nur aus diesem Umstand entsteht ein vermeidbares inhaltliches, definitorisches und prognostisches Durcheinander bei den nationalen und internationalen OK-Lageberichten und Lagebildern, wie u. a. am Beispiel des seit 2013 von Europol veröffentlichten und inhaltlich und definitorisch sehr weitreichenden „European Union Serious and Organised Crime Threat Assessment“ (SOCTA) deutlich wird.

Insbesondere bemängelt der Autor aber die mangelhafte empirische Forschungs­lage zur OK in Deutschland und mahnt dringenden Bedarf der Fortschreibung an. Außerdem merkt er diesbezüglich sehr kritisch und weitreichend begründet an, dass – neben der Tatsache eines fehlenden spezifischen Straftatbestandes Organisierte Kriminalität (dies halte ich aber schon aus Gründen der erforderlichen Bestimmtheit, Art. 103 Abs. 2 GG / § 1 StGB, für nahezu ausgeschlossen) – § 129 StGB – Bildung krimineller Vereinigungen „aufgrund der restriktiven Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auf kriminelle Organisationen faktisch keine Anwendung findet“[9], obwohl die Mitgliedschaft in einer solchen auch im Sinne völkerrechtlicher Vereinbarungen, wie

  • dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (UNTOC – Kurztitel „Palermo-Konvention“) vom 15.11.2000, dem die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen mit einem Gesetz vom 01.09.2005 ( 2005, Teil II, Nr. 21, ausgegeben am 08.09.2005) und in welchem in Art. 2 der Ausdruck „organisierte kriminelle Gruppe“ definiert ist,

bzw. verbindlichem EU-Recht, wie z. B. dem

  • Rahmenbeschluss 2008/841/JI des Rats zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vom 24.10.2008, welcher in seinem Art. 1 Nr. 1 die „kriminelle Vereinigung“ und in der Nr. 2 den „organisierten Zusammenschluss“ definiert[10],

das OK-typische Delikt sei[11] aber diesbezüglich trotzdem kaum zur Anwendung gelange. Andere Länder der EU seien dabei z. T. wesentlich weiter, so der Autor im rechtsvergleichenden Kapitel 3 seiner Studie.

Eine (relative) Neuigkeit enthält die Studie mit der Feststellung, dass bei „hybriden Gruppierungen die OK-Aktivitäten auch der Finanzierung terroristischer Anschläge“ diene, dies treffe z. B. in besonderer Weise auf den Zigarettenschmuggel zu, wie z. B. das französische Zentrum zur Erforschung des Terrorismus (CAT) beschreibt.[12]

Kurzum, OK-Strategien haben sich verändert und die staatlichen Reaktions­muster und Bekämpfungsstrategien müssten darauf verstärkt proaktiv reagieren. Neue, zukunftsgerichtete prognostische Formate, wie z. B. der 2016er Europol-Report „Exploring tomorrow’s organised crime“, oder transnationale „Best-practice-Modelle“[13] sollten helfen, die supranationale Kriminalpolitik und die einzelnen Mitgliedsstaaten zu beflügeln, z. B. über diverse Schlüsselfaktoren der OK-Beeinflussung nachzudenken. Vor allem müssten die nationalen und internationalen Kooperationen (unter Einbindung der Staatsanwaltschaften) zur OK-Erkennung, -Analyse und -Verfolgung verstärkt, die OK-Bekämpfungs-Strategien inter­nationalisiert werden.

Der Autor bietet in seiner Studie zahlreiche rechtliche, organisatorische, kriminaltaktische und -strategische Ansätze und Beispiele und macht daher sehr anschaulich die mannigfaltigen Problemstellungen bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität in Europa deutlich. Dabei stellt er heraus, dass die von ihm titelgebend apostrophierte OK 3.0 sich nicht mehr mit nationalstaatlichen Bereichsegoismen wird aufhalten lassen. Damit bereitet er aber – sicher bewusst – das Feld für den Einstieg in ein supranationales europäisches Teilstraf- und -strafprozessrecht. Es wird spannend zu beobachten sein, wie die Kriminalpolitik auf derartige Reize, deren Intensität allerdings inhaltlich wie auch in der Wahrnehmung noch zunehmen muss, reagieren wird.

„Small can be effective“ – es müssen nicht immer hunderte Seiten fein ziselierter Argumentations- und Überzeugungskunst sein, um auf eine bedeutende Problemstellung sachgerecht hinzuweisen. Mit seiner kompakten aber gleichwohl inhaltsreichen kleinen Studie legt Sinn an vielen Stellen einen „salzigen Finger in offene (kriminalpolitische) Wunden“ und regt damit zum Nachdenken an.

 

[1] Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung am Institut für Wirtschaftsstrafrecht der Universität Osnabrück, zuletzt abgerufen am 03.09.2017.

[2] Website des Springer-Verlags: http://www.springer.com/de/book/9783662498439, zuletzt abgerufen am 03.09.2017.

[3] Ebenfalls bei Springer erschienen und wie die 2016er Studie vom Tabakkonzern Philip Morris GmbH finanziell unterstützt.

[4] Wesentliche Merkmale sind demnach: Profitorientierung, Machtstreben (inkl. der Anwen­dung von Zwang), Organisation/Netzwerk, arbeitsteiliges Zusammenwirken der beteiligten Personen, Nutzung ökonomischer Strukturen und Konzepte („Crime-as-a-service“), hohes Maß an Flexibilität und Vermögen, sich dem Markt anzupassen, Tatbegehung mit Bezügen auch zu anderen Ländern (Internationalisierung), Nutzung des Internet sowie die zu beobachtende „Hybridisierung“ von einigen terroristischen Gruppierungen, bis auf die beiden letzten Merkmale und das Konzept „Crime-as-a-service“ allerdings auch keine wesentlichen Neuigkeiten!

[5] OK 1.0 sei demnach die „klassische OK“, die Evolutionsstufe OK 2.0 die Fortentwicklung durch eine „internationalisierte, grenzüberschreitende Netzwerke bildende“ OK-Struktur.

[6] Definition der OK der Gemeinsamen Arbeitsgruppe Justiz/Polizei aus dem Monat Mai 1990, bei der für die Qualifizierung kriminellen Verhaltens als OK alle generellen und zusätzlich mindestens eines der speziellen Merkmale der Alternativen a – c der Definition vorliegen müssen.

[7] Vgl. z. B. nur die „Gemeinsame Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien der Justiz und des Innern“ vom 29.01.1991, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 29.10.1999 (JMBl. S. 186).

[8] Der Begriff „Polizeihoheit der Länder“ bringt zum Ausdruck, dass die Zuständigkeit für das Polizeiwesen in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich den Bundesländern vorbehalten ist. Diese haben nach dem Prinzip des Föderalismus neben dem Bund eine eigene Staatsqualität. Sowohl „die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben“ (Art. 30 GG) als auch die Gesetzgebung (Art. 70 GG) ist nach dem Grundgesetz Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Mithin sind die Länder auch für die Gesetzgebung und die Organisation des Polizeiwesens zuständig, insofern es sich nicht um sonderpolizeiliche Einrichtungen des Bundes handelt (vgl. Kutscha, in Lange (Hrsg.), Wörterbuch zur Inneren Sicherheit, 2006, S. 229 – 232).

[9] Der BGH rückte zwar den Begriff der Bande in dewr Vergangenheit vermekrt in die Nähe der „kriminellen Vereinigung“, in der Entscheidung des Großen Senats, Beschluss vom 22. März 2001, GSSt 1/00 (BGHSt 46, 321 ff.) spricht sich der BGH allerdings dezidiert dagegen aus, im Rahmen der Bandendelikte eine wie auch immer geartete Orga­nisation(sstruktur) zu verlangen (vgl. Rn. 19 ff. des Beschlusses). Mit dieser „Neuausrichtung des Bandenbegriffs am Merkmal des organisatorischen Elements leistete der BGH zwar einen Beitrag zur Abgrenzung der Bande von der kriminellen Vereinigung, gleichzeitig konterkarierte er aber den Willen des Gesetzgebers, der die OK mit dem OrgKG doch gerade über die Bandendelikte treffen wollte“, stellt der Autor fest.

[10] Studien aus den Jahren 2010 (Calderoni) und 2015 (Di Nicola) kommen hingegen zu dem „Ergebnis, dass der Einfluss des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf die nationale Gesetzgebung in den Mitgliedsländern eher gering war. In Deutschland werden der beabsichtigten Harmonisierung im EU-Rahmen durch die Auslegung der Fachgericht Grenzen gesetzt.“

[11] Der BGH hat sich zuletzt am 03.12.2009 (BGHSt 54, 216 ff.) mit dem Rahmen­beschluss der EU zur organisierten Kriminalität beschäftigt, wonach dieser nicht per se zu einer Änderung der bisherigen Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 1 StGB führe. Dies lasse sich auch nicht durch den „Grundsatz der gemeinschaftsrechtsbezogenen Auslegung“ – EuGH NJW 2005, 2839 / Pupino – ableiten. Eine Modifizierung sei alleine Sache des Gesetzgebers.

[12] Philip Morris hat daraus im Jahr 2016 die „etwas schräge“ Werbekampagne „Ich rauche gern für Terrorcamps“ kreiert.

[13] Vgl. z. B. https://book.coe.int/eur/en/economy-and-crime-fight-against-corruption/3005-combating-organised-crime-best-practice-surveys-of-the-council-of-europe.html.

Rezensiert von: Holger Plank