Jens Kersten – Schwarmdemokratie. Der digitale Wandel des liberalen Verfassungsstaates.

Kersten, Jens Prof. Dr.[1]; „Schwarmdemokratie. Der digitale Wandel des liberalen Verfassungsstaates.“[2]; ISBN: 978-3-16-155165-9, 317 Seiten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2017, 24.– €

„Wer es vor ein paar Jahren auch nur gewagt hätte, die demokratische Legitimation des Internets in Frage zu stellen, wäre bestenfalls ignoriert worden. Wer heute das Internet als ein demokratisches Medium versteht, erntet bestenfalls ein irritiertes Kopfschütteln. Das Internet scheint extreme Antworten herauszufordern: entweder Netzdemokratie oder digitale Diktatur. Doch man sollte sich von der allgegenwärtigen Hysterie nicht anstecken lassen. Das Verhältnis von Demokratie und Internet ist schlicht ambivalent. Aus diesem Grund hat sich der ‚Schwarm’ zu einer der machtvollsten und zugleich umstrittensten politischen Symbole unserer vernetzten Gesellschaft entwickelt. Auf der Grundlage des Web 2.0 und der sozialen Medien finden sich Bürger zusammen, um ‚emergente Kollektivität’[3] in Form menschlicher Schwarm­bildung zu entfalten. Der liberale Verfassungsstaat muss einerseits die neuen demokratischen Legitimationspotenziale dieser menschlichen Schwärme fördern und aufgreifen, um nicht den Anschluss an die digitalen Formen gesellschaft­licher Kommunikation zu verlieren. Andererseits ist er aber auch verpflichtet, demokratische Institutionen, wie beispielsweise das Parlament und das freie Mandat, gegen Schwarmangriffe zu schützen. Indem der liberale Verfassungs­staat in seinen repräsentativen, plebiszitären, partizipativen und assoziativen Legitimationssträngen Schwarmkontakte akzeptiert und (auch selbst) herstellt, wandelt er sich – jedenfalls ein Stück weit – zu einer ‚Schwarmdemokratie’.“[4]

Kersten beschreibt mit zahllosen (Quellen- und Literatur-)Verweisen an­schaulich und sehr kenntnisreich nicht nur mannigfaltige praktische Beispiele[5], deren kommu­nikative Chancen und Breitenwirkung wie auch deren mögliche Implikationen für den liberalen Verfassungsstaat. Er verweist auch darauf, dass es spätestens mit dem Wandel von einer „politischen Offline-Welt“ mit deren überkommenen herkömmlichen Kommunikations­mechanismen und einer hierin relativ homogenen, jedenfalls einfach ermittelbaren „öffentlichen Meinung“ in eine „postmoderne, Web 2.0 gestützten Online-Welt“ es gewandelter „Ausdruck der Menschenwürde sei, als gemeinschaftsbezogenes und gemeinschafts­gebundenes Individuum selbstbe­stimmt mit anderen kollektiv zusammen zu handeln und deshalb auch schwär­mend emergente Kollektivität zu entfalten.“ Insofern habe sich ein modifiziertes, „drittes Menschenbild“ des Grundgesetzes entwickelt.

Seine Gedanken hinsichtlich des im „Schwarmzusammenhang“ evidenten Zurückweichens von Individualität zugunsten emergenter Kollektivität im Schwarm ent­wickelt er im Sachzusammenhang in vier Kapiteln. Dabei nutzt er u. a. vergleichende Anleihen aus der Philosophie (Metaphorik), Entomologie[6], Semiotik und Semantik, aus der Literatur- und vor allem aus der Poli­tikwissenschaft. Die geschöpften und weiterentwickelten Erkenntnisse versucht Kersten verfas­sungs­rechtlich einzuordnen, bevor er in seinem kurzen Fazit (im Kapitel 5), in Anlehnung an den von ihm so bezeichneten und den Leser schon im Inhaltsverzeichnis neugierig machenden „Mücken-Dialog“[7], eine „philoso­phische, in einer geschlossenen (Schwarm-)Gesellschaft exis­tierende Mücke“ in Verwendung des Popper’schen Bildes lebensweltlich in eine offene, pluralistische Gesellschaft transponiert. Diese Analogie veranlasst ihn zu der abschließenden Feststellung, dass „in einer pluralistischen Gesellschaft Schwärme Ausdruck individueller Freiheit und deshalb auch Teil der demokratischen Ordnung“ seien und letztlich die „plebiszitäre Demokratie eindeutig durch die Entfaltung menschlichen Schwarmverhaltens“ gewönne. Dabei setzt er folgende fünf „Gattungsmerkmale“ menschlichen Schwarm­verhaltens typgebend voraus, die für Schwärme kennzeichnend seien (S. 96 f.):

  1. Prä(in)formation. Der Schwarm bildet sich regelmäßig auf der Grundlage eines digital vorab kommunizierten Schwarmmusters.
  2. Spontaneität. Der Schwarm konstituiert sich aufgrund der spontanen Entscheidungen der beteiligten Individuen, sodass sich das Auftauchen und die Größe eines Schwarms nicht vorhersagen lassen.
  3. Ko-Isolation. Der Schwarm entfaltet sein Schwarmmuster aufgrund des „ko-isolierten“ Parallelverhaltens der Schwarmindividuen, ohne dass diese dabei zu einer entindividualisierten Masse im Sinn der klassischen Massenpsychologie „verschmelzen“.
  4. Dynamische Instabilität. Der Schwarm generiert ein dynamisches und zugleich instabiles Schwarmmuster, das die sich gegenseitig affizierenden Schwarmindividuen reproduzieren, variieren oder kollabieren lassen.
  5. Mediale Manifestation. Der Schwarm versucht in der Regel, seine Bewegung und seine Effekte medial zu machenifestieren, um diese während und auch nach dem Kollaps des Schwarmmusters dokumentiert zu sehen.

Kersten bestreitet gar nicht die Herausforderungen, vor die sich gerade die Rechtsordnung und die von ihr definierten Institute (Parteien etc.) im Umgang mit dem Begriff „Schwarm“ bzw. „Schwarmdemokratie“ gestellt sehen. Er benennt vielmehr die mannigfaltigen evidenten verfassungsrechtlichen Auslegungs­schwierigkeiten individuell grund- oder menschenrechtlich geschützter Positionen im Hinblick auf die gerade entindividualisierte, kollektivierte Grundrechtswahrnehmung und mahnt eine offenere Auslegung, bspw. in Bezug auf das seiner Meinung nach auf die „emergente Kollektivität“ anwendbare Rechtsinstitut der „juristischen Person“ (Art. 19 Abs. 3 GG), an. Er benennt hierzu auch zahlreiche Beispiele aus der Rechtsprechung und damit ausgelöster, seiner Auffassung nach rechts­dogmatisch und handwerklich „misslungener“ Nachbesserungen des Gesetzgebers (z. B. des 2007 mit dem 41. StÄG eingeführten § 303b Abs. 1 Nr. 2 StGB – „Computersabotage“ in Bezug auf politische Aktionen in Form von DDoS-Attacken auf Firmen).

Schwärme seien – wie auch der Leviathan selbst – weder per se „gut“ noch per se „schlecht“, so eine wesentliche Folgerung des Autors, und dürften daher weder mit pejorativen noch mit ausschließlich positiv konnotierten Metaphern oder Symbolen in Beziehung gesetzt werden. Eine liberale Gesellschaft, eine Welt der aufgeklärten Vernunft repräsentiere eben auch eine Ordnung, die mit ihren Widersprüchen und Antagonismen leben müsse. So sei der „Schwarm“ in einer liberalen Rechtsordnung eine neue, aber letztlich normale und legale Form der Grundrechtsausübung seiner Bürgerinnen und Bürger, biete sogar zahlreiche Chancen (bspw. im Rahmen frühzeitiger Beteiligung bei großen Infrastruk­turprojekten oder im Rahmen der Anwendung einzelner, die Meinungsbildung befruchtende Elemente direkter Demokratie etc.).

Allerdings berge eine derartige „anonymisierte Kollektivität“ auch einige Risiken, bspw. in der Form des „Schwarms als rechtsfreier Raum“. Wenn sich „Schwärme“ gegen die Rechtsordnung wendeten, zeige sich das ganze „subversive Potential“ dieser Gattung. Nämlich die Absicht, die Regeln des eigenen Schwarms an die Stelle der staatlichen Rechtsordnung zu setzen. Dieses „subversive Potential“ sei dann auch kaum noch zu kanalisieren.[8] Trotzdem, so beruhigt der Autor, verfüge der Staat schon heute im Umgang mit Schwärmen im Allgemeinen wie auch im Umgang mit derart subversiven Schwarmmustern – bei aller Notwendigkeit weiterer struktureller Anpassungen – über zahlreiche rechtliche wie auch tatsächliche Regelungsmöglichkeiten (S. 113 ff.).

Schon deshalb, so Kersten, „können und müssen wir lernen, mit Schwärmen zu leben.“ Dieser Paradigmenwechsel in der (umfänglichen) literarischen Perzep­tion von Schwarmphänomenen lasse sich auch verfassungspolitisch und verfassungsrechtlich reformulieren: „Die Entfaltung emergenter Kollektivität durch menschliche Schwarmbildung ist nicht einseitig negativ, sondern ambivalent einzuordnen. Und in der liberalen Demokratie können wir noch einen Schritt weitergehen. Menschliche Schwarmbildungen sind (trotz zahlreicher wort- und wirkmächtiger Opponenten gegen dieses basisde­mokratische Muster, wie bspw. den Diskurstheoretiker Jürgen Habermas, S. 129, Byung-Chul Han, S. 131, Botho Strauß, S. 139 und vielen anderen) prinzipiell positiv zu bewerten, da die Bürgerinnen und Bürger dafür ihre Grundrechte und demokratischen Partizipationsmöglichkeiten in Anspruch nehmen.“

Auch wenn man ihnen dabei mitunter etwas mehr Geduld wünschen möchte, denn, „eine Demokratie brauche ihre Zeit, weil sie sich diskursiv entfalte. Diesen demokratischen Institutionenverstand“, so rät der Autor mit einem Zitat der ehemaligen Richterin am Bundesverfassungsgericht, Gertrude Lübbe-Wolff[9], „müsse man auch unter den Bedingungen digitaler Kommunikation weiter pflegen“, oder, sprichwörtlich mit Siegfried Kracauer[10], „die Demokratie zu praktizieren, ist eine Sache der Übung.“

Prof. Kersten legt eine formal abgeschlossene, sehr kluge und inhaltsreiche Studie zu einem aktuell bedeutsamen Thema vor.  Das Buch ist in vielerlei Hinsicht außerordentlich lesens- und empfehlenswert. Es ist sehr griffig und pointiert formuliert, zahlreich und geschmackvoll durch ansprechende Quellen gewürzt und greift doch viele komplizierte diskursive Ansätze auf.  Damit macht Kersten auch deutlich, dass sich über das Thema eben nicht ausschließlich rechtstheoretisch – seiner Profession folgend –  diskutieren lässt, sondern es sich nur interdisziplinär umfänglich erschließen lässt. Hierfür enthält das Buch mannigfaltige und sorgfältig ausgewählte Belege aus vielen Gattungen und wissenschaftlichen Disziplinen. So erzeugte Anknüpfungspunkte und Handlungsstränge ließen sich wahrscheinlich nahezu unendlich in unterschiedlichste Richtungen weiter ausbreiten und ­diskutieren. Der Autor versteht es aber geschickt, das Thema konzentriert und in der absolut notwendigen disziplinären Breite wie auch in der erforderlichen Dichte und Tiefe interessant aufzubereiten.

 

[1] Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU München, zuletzt abgerufen am 06.09.2017, Inhaltsverzeichnis.

[2] Website des Mohr Siebeck Verlags: https://www.mohr.de/buch/schwarmdemokratie-9783161551659, zuletzt abgerufen am 06.09.2017 (Inhaltsverzeichnis).

[3] Nach Albert Ingold „ein kollektives Verhalten, das sich nicht auf die Summe der einzelnen Handlungen zurückführen lässt“, weshalb er die Emergenz auch als „ontologische Form der Irreduzibilität“ bezeichnet hat.

[4] So das erweiterte Vorwort des Autors auf der Seite „Neuerscheinungen“ der Juristischen Fakultät der LMU München, abgerufen am 06.09.2017

[5] Bspw. Flash-, Smart- (demonstrative Protest gegen ACTA, TTIP, Atomkraft oder Globa­liserung sowie legale Arbeitskampfmaßnahmen von Gewerkschaften), Event- oder Konsumentenaktivismus in Form von Carrotmobs, „Critical Mass“, Crowdinvesting, -wor­king, -funding, -sourcing, -information (z. B. zur Information freier Fluchtwege für Migrantenströme via Smartphone oder auch Internetenzyklopädien) oder auch e-Petitionen etc.

[6] Wobei er allerdings allzu schlichte Analogien zum Verhalten sozialer Tierarten kritisiert!

[7] Zitiert aus dessen 1973 in 2. Auflage erschienenen Werk „Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf“, Kapitel „Über Wolken und Uhren, S. 233 ff..

[8] So zitiert Kersten bspw. eine sehr eingängige Sentenz von Mercedes Bunz aus deren 2012 erschienenen Buch „Die stille Revolution“, wonach gerade dem Internet als einem der Werkzeuge bzw. „Spielwiesen“ des Schwarms „ein politisches Moment innewohne, das als Gesellschaftstechnik zwar gezähmt, kanalisiert und reguliert werden könne, dessen politische Sprengkraft sich aber nicht vollständig bändigen lasse.“

[9] Vgl. http://www.jura.uni-bielefeld.de/lehrstuehle/luebbe-wolff/

[10] Vgl. dessen kurzen Lebenslauf im Klappentext seiner bei Suhrkamp 2016 herausgegebenen Biografie.

Rezensiert von: Holger Plank