Dirk Kurbjuweit – Angst

Kurbjuweit, Dirk[1]; „Angst“[2]; ISBN: 978-3871347290, 256 Seiten, Rowohlt Verlag, Berlin, 2013, Hardcover 18,95 €, E-Book 16,99 €, Taschenbuch 9,99 €

Warum bespricht man einen sehr spannenden, sowohl in seiner psychosozialen Anlage beeindruckenden als auch sprachlich eingängigen Kriminalroman aus dem Jahr 2013, wenn er ob seiner Qualitäten schon vielfach besprochen wurde (vgl. hierzu nur Fn. 2)? Dafür gibt es viele gute (kriminologisch-sozial­wissen­schaftliche / kriminaltaktische und -strategische / straf- und strafprozess­rechtliche / kriminalpolitische wie – zugegebenermaßen – in diesem Fall auch durchaus eigennützige) Gründe. Hier nur einige davon:

Kriminalpolitische Komponente des Romans: Kurbjuweit verarbeitet in diesem spannenden Kriminalroman fiktiv selbst erlebtes „Nachstellungs-Verhalten“, stellvertretend am Beispiel einer gutsituierten Akademikerfamilie mit zwei Kindern, aufgrund der losen und im Roman verstreuten Chronologie auf das Jahr 2006 (Februar – September) zu datieren; Schauplatz ist Berlin. Der Roman spielt also in einer Zeit, in der es den § 238 StGB – Nachstellung noch nicht gab[3] und das Gewaltschutzgesetz, seit 2002 in Kraft, zwar zivilrechtlichen Schutz, verbunden mit einer (von Experten allerdings als sachfremd im Zivilrecht verorteten) Strafbe­stimmung in seinem § 4, aber eben trotzdem kaum aus­reichenden straf­rechtlichen (Opfer-)Schutz bot. Das Gefahrenabwehrrecht in den Ländern war zu jener Zeit in diesem Kontext wegen einer notwendigen „konkreten Gefahr“ indirekt noch weitgehend reflexiv auf das Strafrecht bezogen und Opfer hörten zu jener Zeit wohl häufig Sätze wie z. B.: Wieso, es ist doch nichts passiert …!

Der „Nachstellungs-Paragraph“ 238 StGB trat erst mit dem 40. Strafrechts­änderungsgesetz am 31.03.2007[4] in Kraft und seither kam es aufgrund der (trotz umfassender Beratung „der Kriminalpolitik (gibt es diese überhaupt?)“ durch die Experten im langwierigen legislativen Geneseprozess) tatbestandlich-dogmatisch eigenwilligen Konstruktion des Ge­setzes kaum zu Verurteilungen. Mutmaßlich hätte er schon deshalb auch der Romanfamilie Tiefenthaler, hätte es diese zusätzliche rechtliche Variante im fiktiven Tatzeitraum in der kurze Zeit später in Kraft getretenen Fassung bereits gegeben, wohl nicht wirklich geholfen. Nicht nur aufgrund der statistischen Daten ist deshalb die Aussage erlaubt, dass es sich damals vorwiegend um einen Akt „symbolischer Gesetzgebung“, eine in Paragraphenform gegossene „Kompromissformel“ aus dem Feinwaschgang parteipolitischer Interessen­findung handelte, der schon qua dogmatischer Anlage weitgehend wirkungslos verpuffte. Angesichts der in der Vorlage wirksamen emotionalen Kräfte „auf dem Spielfeld hochbelastender psychosozialer Ausnahme­situationen“ für die Opfer, die sich bis dato häufig im „Grenzbereich zwischen sozialer Adäquanz und Strafwürdigkeit“ abspielten, ein rechtsstaatlich unerträglicher Zustand.

Die Große Koalition hat es sich daher im Koalitionsvertrag zur 18. Legislatur­periode[5] zur Aufgabe gemacht, den offenkundig lückenhaften Opferschutz auf diesem Feld zu verbessern[6]. Dieses Vorhaben haben die Koalitionäre auch tatsächlich vollzogen und den § 238 StGB neben dem „Gewaltschutzgesetz“ und dem „Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)“ am 10.03.2017 modifiziert bzw. ergänzt in Kraft ge­setzt.[7] Diese aktuelle Version hätte schon aufgrund der Änderung des Delikts­charakters vom „Erfolgsdelikt“ zu einem „Gefähr­dungsdelikt“[8] im fiktiven Fall sehr wahrscheinlich polizeiliche / justizielle Hilfe impliziert, obwohl das derzeit gültige Gesetz wiederum Anlass zu einiger Kritik gibt (etwa die mangelhafte Bestimmtheit bei dem Auffangtatbestand des § 238 Abs. 1 Nr. 5: „ … eine andere vergleichbare Handlung vornimmt).

Normvertrauen / Normakzeptanz / Gewaltmonopol: Der Roman beleuchtet in seiner Anlage außerdem, vor allem auch durch sein für alle Akteure tragisches Ende, eine weitere zivilgesellschaftlich wichtige Facette. Er bringt durch seine Konstruktion „plastisch“ zum Ausdruck, wie wichtig es ist den Betroffenen das Gefühl zu vermitteln, der Rechtsstaat nehme sich (präventiv wie auch repressiv) entschlossen der Sorgen und Nöte an, die nachdrücklich, trotzdem aber sehr rational und angemessen bei verschiedenen Behörden und Institutionen vorgetragen wurden. Andererseits – und dies wird hier im Besonderen deutlich – besteht die Gefahr, dass nicht nur die vom Strafrecht so hochgelobte und für wichtig erachtete passive wie aktive Normakzeptanz, sondern auch das Gewaltmonopol des Staates über den Verlust des Normvertrauens[9] – ein Grund­problem symbolischer Gesetzgebung gerade im Strafrecht – brüchig wird.

Sicherheitsbehördliches Versagen durch nahezu völlige Untätigkeit in der Romanvorlage: Der Roman beschreibt aus der Perspektive eines gutbürger­lichen und gutsituierten Familienvaters, wie seine Familie durch das „Nach­stellungsverhalten“ eines Hausbewohners im Jahr 2006 (im Übrigen nicht nur aufgrund der damaligen Rechtslage) aus den Fugen gerät und wie sich der Protagonist – bedingt durch das kollektive Versagen / die unverständliche Untätigkeit der Behörden und Institutionen – zur Selbstjustiz getrieben sieht. Ein praktisch relevantes und realistisches Beispiel? Durchaus! Zwar bleibt die Gesamtdarstellung des äußeren Geschehens und vor allem der – hinsichtlich der dichten inneren Monologe der Protagonisten für den Leser weitgehend gewahr werdenden – Gefühlswelt der Darsteller subjektiv; sie ist aber insofern objektivierbar, als sie in sich schlüssig und objektiv nachvollziehbar ist. Der Roman zwingt den kriminalistisch interessierten Leser nahezu, gedanklich begleitend zum fiktiven Fall ein inter­disziplinäres, behördenübergreifendes kriminalstrategisches Konzept, bestehend aus präventiven und repressiven Komponenten und basierend auf aktuellen wissenschaftlichen krimino­logischen, sozialwissenschaftlichen und -psycholo­gischen sowie straf- und strafprozess­rechtlichen Erkenntnissen als Gegenentwurf zu skizzieren. Der Rezensent hat dies auch getan und – den Roman als begleitende Fallvignette nutzend – so eine (rechts-)theoretisch begründete und fallpraktisch angereicherte (kriminalstra­tegische) Arbeit (gleichzeitig dissertatio juris) unter dem Titel „Gesamte Strafrechts­wissenschaft. Ein fallanalytischer Diskurs am Beispiel eines Kriminalromans“angefertigt, die im Herbst des Jahres[10]  erscheinen wird. Ein wenig Eigennutz spielt bei dieser Besprechung also durchaus auch eine Rolle.

Gerade am Beispiel dieses komplexen Handlungsgeflechts lassen sich nämlich alleine über die Verknüpfung mit den handelnden Institutionen bzw. Organen der Rechtspflege „de lege lata“, respektive auch „de lege ferenda“, Ansatzpunkte herausarbeiten, bei denen sich die Akteure u. U. auch aus einem limitierten professionellen Selbstverständnis he­raus, handlungsunfähig zeigten. Kurbjuweits fiktiver Plot, ein fast alltäglicher Geschehensablauf, welcher jedoch durch seine Dauer und zahlreiche von den Protagonisten angelegte Irrwege irgendwann unübersichtlich und kaum mehr umfassend psychosozial zu durchdringen ist, weist beispielhaft die Schwächen im System der Instanzen der formellen und informellen Sozialkontrolle durch eine evidente Spezialisierung der Institutionen und arbeitsteilige Vorgehensweise der Handelnden nach. Solche beschreibens- und untersuchenswerten Phänomene sind in der Praxis häufig anzu­treffen, gerade wo verschiedene Professionen mit unterschiedlichen beruflichen Handlungs­mustern und / oder differierender Wissenschaftsorien­tierung aufein­ander­treffen. Hier helfen gerade oftmals durch Kasuistik unter öffentlichem Druck entstandene lokale / regionale Ansätze, unter der Klammer einer problemzentrierten praktischen und wissenschaftlichen Gesamtsicht, die Professionen bei deren selbstverständlicher Zieldifferenz dennoch gezielt zu vernetzen. Gut gelungen ist dies in den letzten 15 Jahren (auch unter dem Dach einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ – auch wenn der Terminus isoliert zunächst nur die Sichtweise „Prävention durch Repression“ impliziert) ferner im Rahmen zahlreicher gut untersuchter Projekte Kommunaler Kriminalprävention.

Zur Handlung: Protagonisten sind das Ehepaar Randolph und Rebecca Tiefenthaler, er erfolgreicher Architekt mit eigenem Büro, sie studierte (Bio-) Medizinerin. Sie findet nach der (geplanten) beruflichen Eltern(aus-)zeit nach der Geburt der beiden gemeinsamen Kinder Paul und Fee (zu Beginn der Handlung ca. 5 und 2 Jahre alt) nicht mehr in den Beruf zurück. Das Ehepaar bewohnt eine großzügige Eigentumswohnung im Hochparterre (mit eigenem Zugang über einen zur Wohnung gehörenden Gartenanteil) eines unter Denkmalschutz stehenden gepflegten Gründerzeit-Hauses im Südwesten Berlins. Über dem Ehepaar, im zweiten Stock und im Dachgeschoss des Hauses, wohnen zwei weitere Familien als Eigentümer.

Im Souterrain wohnt Dieter Tiberius zur Miete, ein etwa 40-jähriger arbeitsloser Informatiker, der (wie sich erst gegen Ende der Vorlage anlässlich des Prozesses gegen Randolph Tiefenthalers Vater zeigt) als Kind, nach dem Auszug des an ihm uninteressierten Vaters, mit der alleinerziehenden Mutter unter schwierigen Bedingungen zu Hause und schließlich, ab dem neunten Lebensjahr, im Heim aufwuchs. Als kleines, dickleibiges, zugleich aber überaus kluges Kind war er dort ein „prädisponiertes“ Opfer für die älteren Heimkinder, die ihn als Ventil zum „Druckausgleich“ ihrer angestauten eigenen Frustrationen missbrauchten. Er war massiver seelischer, körperlicher und auch sexueller Gewalt ausgesetzt, wurde also über lange Zeit massiv viktimisiert und so traumatisiert. Trotzdem schien er nach der Entlassung aus dem Heim sein Leben meistern zu können. Er holte das Abitur mit Anfang 20 nach und ließ sich anschließend zum Informatiker ausbilden. Einige Jahre später kündigte er seine Arbeitsstelle wegen schwerer depressiver Störungen, die auf Veranlassung des Sozialamtes, als Tiberius ca. 28 Jahre alt war, auch therapeutisch behandelt wurden (vgl. S. 227), und zog sich seitdem total aus der Gesellschaft zurück.

Herr Tiberius ist zu einem prototypischen, psychopathologischen Störer („Stalker“) ohne evidente Gewaltneigung, der das Leben der Familie Tiefenthaler mit seinen sexuellen Anspielungen gegenüber Frau Tiefenthaler und fälschlichen Anschuldigungen (vor allem des sexuellen Missbrauchs der beiden Kinder durch die Eltern Tiefenthaler) in ein „Krisengebiet“[11] verwandelt. Die Angst um die körperliche Integrität der Familie, den Familienzusam­menhalt, vor allem aber auch Bedenken wegen des möglichen Verlusts des für die Familie Tiefenthaler statusbegründenden Rufs wohlanständiger „neuer“ Bürgerlichkeit und nicht zuletzt die Verzweiflung über die Ohnmacht des Rechts­staats während eines siebenmonatigen „Martyriums“ verwandeln in einem schleichenden Prozess zunächst die Gedankenwelt, dann die Haltung, die Rhetorik und schließlich auch die Handlungen[12] und damit insgesamt das (innerfamiliäre) wohlanständige großbürgerliche Selbstbild des Ehepaares Tiefenthaler.

Obgleich „die Wohlanständigkeit (der Familie Tiefenthaler) und die krankhafte Verwahrlosung (des Herrn Tiberius) so klar kontrastieren“[13], die konkrete Gefahr einer Eskalation des Geschehensablaufes evident ist, bleibt der Rechts­staat tatenlos. Alle Versuche, bei der Polizei, dem Jugendamt, dem Sozialamt, den Gerichten und beim Eigentümer der Souterrain-Wohnung (dort mittels einer Kündigung des Mietverhältnisses des Tiberius) die inzwischen angespannte Lage zu entschärfen, verlaufen ergebnislos. Sogar chiffrierte Versuche, etwa bei Freunden wenigstens psychische Unterstützung ihrer gedanklichen Konstrukte der gewaltsamen Selbsthilfe im Umgang mit Personen der Kategorie Tiberius` zu erhalten, scheitern kläglich. Tiefenthalers verzweifeln fast daran, isolieren sich zusehends untereinander und von ihrem Freundeskreis und es entwickelt sich bei Randolph Tiefenthaler, dem rechtsstaatsgläubigen Pazifisten, ein massiver intrapersonaler Rollenkonflikt. Soll oder muss er die Sache selbst, ggf. sogar mit Gewalt, in die Hand nehmen? Dramaturgisch über die Handlung gestreut, scheitern alle diese angedeuteten Ansätze, jedenfalls bis zum „Kulminationspunkt“ der Handlung, entweder an seiner tief verinnerlichten rechtsstaatlichen Überzeugung, an einer inneren Blockade mutmaßlicher bourgeoiser Überlegenheit, der Feigheit vor dem gefährlichen und unbotmäßigen Tun oder ob deren dilettantischer Vorbereitung (vgl. z. B. „tschetschenische Lösung“, S. 203 f.).

Prädispositiv für die Persönlichkeit Randolph Tiefenthalers ist ein latenter Vater-Sohn-Konflikt (Entfremdung). Der Vater Hermann, geb. 1929, ein Waffennarr und aktiver Schütze, der beinahe immer und überall eine geladene Waffe mit sich herumträgt, versucht seine drei Kinder (zwei Söhne und eine Tochter) schon früh an Waffen zu gewöhnen. Er nimmt sie schon als Kinder mit in den Schützenverein, verspricht ihnen auch eigene Waffen. Randolph entwickelt dabei eine tiefe Abneigung gegen Waffen und gegen die krankhaft anmutende „Manie“ des Vaters. Mit knapp 10 Jahren entschließt er sich, seinen Vater nicht mehr zum Schießplatz zu begleiten. Es kommt zum emotionalen Bruch zwischen den beiden. Der Vater bevorzugt nach Randolphs Ansicht anschließend scheinbar Randolphs ältere Schwester und seinen jüngeren Bruder. Randolph leidet sehr unter der Entfremdung, ängstigt sich aber gleichzeitig, der Vater könnte auf ihn oder seinen ­Bruder Bruno schießen, wenn er wütend wird. Dadurch bedingt verlässt er – zwar studienbedingt, dennoch aber sehr früh – das Haus und entfremdet sich zusehends von seiner Familie.

Die „Fallvignette“ gewinnt ihre Tiefe durch die Darstellung umfassender „innerer Dialoge“, vor allem des Randolph Tiefenthaler, die dem Leser einen Einblick seiner inneren Zerrissenheit, seiner Hilflosigkeit und Verzweiflung bis hin zum Vertrauensentzug ggü. seiner Frau erlauben. Über dieses literarische Stilmittel wird eine tiefgreifende viktimologische Einsicht im Hintergrund eines beinahe alltäglichen Geschehens, mit einem gewiss hohen Dunkelfeld über die durchschnittlich in der PKS erfassten rund 25.000 Fälle p. a. hinaus, erzeugt. So eröffnet der Roman eine sehr viel weitere Perspektive als die einer „Alltagsvorstellung der Kriminalität“, wie sie Walter et al. [14] als Grundlage ihres „Werkstattberichts“ zu sogenannten „Alltagsvorstellungen“ nutzen.

Die Geschichte nimmt letztlich eine unerwartete dramaturgische Wendung. Die Eingangsszene beschreibt einen Besuch Randolphs bei seinem Vater im Gefängnis Tegel, wo er, wegen Totschlags an Dieter Tiberius verurteilt, eine 8-jährige Freiheitsstrafe verbüßt. Tatsächlich, wie Randolph im Epilog des Buches ausschließlich seinem Tagebuch anvertraut, hat aber er den „Mord“ begangen. Angesichts der verzweifelten Lage seines Sohnes beendete Hermann Tiefenthaler unversehens die zwischen beiden herrschende „Sprachlosigkeit“. Der Vater lieferte ihm anlässlich eines mehrtägigen spontanen Besuchs in Abwesenheit der „wahrscheinlich“ nicht eingeweihten Familie eine Pistole aus seiner Sammlung. Er reinigt die Waffe nach der Tat, veranlasst seinen Sohn, sich die Hände zu waschen und übernimmt gegenüber der von Randolph verständigten Polizei die alleinige Verantwortung für die Tat. Trotz offenkundiger Zweifel des ermittelnden Kriminalbeamten wird, der vom Vater beschriebene Tather­gang auch in der Gerichtsverhandlung nicht angezweifelt.

Kurze Bewertung:

Kurbjuweit nimmt den Leser mit auf eine fiktive Reise in zahlreiche intra- und interpersonale, tiefenpsychologische Konflikte. Besonders gewinnbringend er­scheint hierbei die dicht gewobene Beschreibung der Gedankenwelt der Prota­go­nisten, v. a. des Randolph Tiefenthaler aber auch anderer Charaktere. Während man bei sich schleichend entwickelnden und dadurch komplexen Fällen in der Praxis häufig nur den objektiv feststellbaren Tatbestand erheben kann, führt der Protagonist Randolph T. in seinen Gedanken den Leser durch „seine“ seelischen Abgründe. Dabei kann man auch die Authentizität durch die subjektive Erfahrung mit diesem Deliktsfeld bei Kurbjuweit deutlich erkennen. Anders als in der Fiktion gewinnt man durch in der Praxis übliche, subjektiv eingefärbte Rationalisierungsprozesse und dadurch ausgelöste Wahrnehmungs­ver­zerrungen, sofern man überhaupt verwertbare Aussagen der Beteiligten bekommt, kaum ein solch belastbares und dichtes Bild einer intrapersonalen Entwicklung „in die Barbarei“, wie Randolph Tiefenthaler selbst einige Male angesichts seiner und der Entwicklung seiner Frau, trotz vermeintlich bürgerlichen Habitus, mit Erschrecken feststellt (vgl. u. a. S. 56, 90, 159, 175, 240).

Durch die geschickt angelegte Dramaturgie, zusätzlich mit einem interessanten Spannungsbogen, u. a. versetzt mit zahlreichen Zeitsprüngen in Kindheit und Adoleszenz der Protagonisten, zeichnet der Roman ein facettenreiches Bild der Persönlichkeiten der fiktiven Hauptdar­steller. Er liefert ein zwar kontrastreiches, dennoch nur schwer zu ordnendes Konglomerat möglicher Erklärungsansätze für die finale Übersprungshandlung. Die Rückblenden in die Kindheit und Jugend des Randolph Tiefenthaler, der in bürgerlichen und geordneten Verhältnissen aufwuchs, dem jedoch die empfundene Zurückweisung durch den schweigsamen, sicherheitsorientierten Vater, einen Waffenfanatiker mit umfangreicher häuslicher Sammlung verschiedener Schusswaffen, zusetzt; der vermeintliche Liebesentzug durch den Vater seit der Pubertät, den er mit Reaktanz beantwortet; wie auch die kurze Charakterisierung des Werdegangs und des Charakters von Dieter Tiberius mögen als beredte Beispiele hierfür dienen. Diese Prägungsprozesse erlauben Rückschlüsse auf zahlreiche kriminogene, kriminovalente und kriminoresistente Faktoren bei den Protagonisten und auch im Geschehensablauf und machen die engen Bezüge zur „Gesamten Strafrechtswissenschaft“, auch ohne den expliziten Verweis auf die dichten Zusammenhänge mit weiteren relevanten Bezugswissenschaften, deutlich.

„Was du bist, hängt von drei Faktoren ab: was du geerbt hast (Anlage), was deine Umwelt aus dir macht (Umwelt) und was du in freier Wahl aus deiner Umgebung und deinem Erbe gemacht hast (Autonomie).“[15]

Der etwas andere, allerdings wirklich sehr gute Kriminalroman, auch für das (strafrechts-)wissenschaftlich interessierte, kriminologisch-kriminalistische Pub­li­kum unbedingt lesenswerte Roman, den ich jedenfalls in einem Zug nächtens verschlungen habe.

Im Übrigen zur Kompletierung: Dirk Kurbjuweit erläutert seinen Roman anl. der Verfilmung für das ZDF (Uraufführung in der Reihe Fernsehfilm der Woche voraussichtlich im Herbst des Jahres 2017, von der Produktionsfirma Network Movie – auf FB angekündigt für den 16. Oktober) auf YouTube (hierzu hat er im Übrigen selbst das Drehbuch geschrieben):

 

[1] Kurbjuweit war viele Jahre Leiter des Hauptstadtbüros des SPIEGEL in Berlin und ist heute dessen stv. Chefredakteur, Hinweis auf den Kriminalroman auf der Verlags-Website von Rowohlt:  https://www.rowohlt.de/hardcover/dirk-kurbjuweit-angst.html.

[2] Der Roman ist vielfach in den Buchbesprechungsseiten renommierter Tageszeitungen besprochen worden, z. B. Matthias Hannemann, „Angriff auf die innere Sicherheit“, FAZ vom 18.02.2013, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/dirk-kurbjuweit-angst-angriff-auf-die-innere-sicherheit-12085222.html, oder von Lothar Müller, „Wenn sich das Leben in ein Krisengebiet verwandelt“, SZ vom 26.01.2013, http://www.sueddeutsche.de/kultur/roman-angst-von-dirk-kurbjuweit-wenn-sich-das-leben-in-ein-krisengebiet-verwandelt-1.1583631, oder von Ijoma Mangold, „Ein familiärer Waffengang“, ZEIT vom 17.01.2013 bzw. und nicht zuletzt von Richard Kämmerlings unter dem Titel: „Natürlich habe ich ihn erschossen“, in der Welt vom 11.01.2013, https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article112714514/Natuerlich-habe-ich-ihn-erschossen.html. Kurbjuweit, so wird in den meisten Besprechungen klar, hat selbst eine „Nachstellungs-Erfahrung“, arbeitet also gewissermaßen autobiographisch.

[3] Vgl. die aussagekräftige Gesetzgebungsdokumentation des BGH zur Genese des § 238 StGB http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP16/S/StRAendG40_Nachstellungen.html(zuletzt geöffnet am 25.05.2107).

[4] Vgl. 40. StrÄndG vom 22.03.2007.

[5] Vgl. „Deutschlands Zukunft gestalten“ vom 27.11.2013.

[6] A. a. O., S. 145: „Beim Stalking stehen vielen Strafanzeigen auffällig wenige Verur­teilungen gegen- über. Im Interesse der Opfer werden wir daher die tatbestandlichen Hürden für eine Verurteilung senken. Zudem werden wir Maßnahmen zur Kontrolle der Einhaltung von Kontakt- bzw. Näherungsverboten erarbeiten.“

[7] BGBl., Jahrgang 2017, Teil I, Nr. 11 vom 09.03.2017

[8] Neben dieser bedeutsamen strafrechtsdogmatischen Änderung wurde die „Nachstellung“ im Rahmen der Reform auch aus dem Katalog der Privatklagedelikt in § 374 StPO gestrichen und ein neuer § 214 a FamFG – „Bestätigung des Vergleichs“ mit einem Korrelat zur Strafvorschrift in § 4 GewaltschutzG eingeführt.

[9] Vgl. hierzu nur den mit hierzu interessanten Beiträgen „gefüllten“ rechtssoziologischen Sammelband „Normerosion“, bereits 1996 hrsg. von Monika Frommel und Volkmar Gessner bei Nomos,

[10] Erscheint im Herbst 2017 beim Felix-Verlag Holzkirchen.

[11] Treffender Ausdruck: Vgl. SZ vom 26.1.2013: http://www.sueddeutsche.de/kultur/roman-angst-von-dirk-kurbjuweit-wenn-sich-das-leben-in-ein-krisengebiet-verwandelt-1.1583631)

[12]  In Anlehnung an den Talmud-Spruch: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.“

[13] Vgl. die „ZEIT“ vom 17.01.2013: http://www.zeit.de/2013/04/Dirk-Kurbjuweit-Angst-Psychothriller

[14] Walter et al., 2004

[15]  Aldous Huxley, britischer Schriftsteller, * 26. Juli 1894 in Godalming, + 22. November 1963 in Los Angeles, Nachweis bei Lange, 1970, S. 335, allerdings ohne belegten Bezug zur Originalquelle.

Rezensiert von: Holger Plank