Tino Frieling – Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers. Fallgruppen verbindlicher Willensäußerungen

Frieling, Tino Dr.[1]; Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers. Fallgruppen verbindlicher Willensäußerungen. [2]; ISBN: 978-3-16-155707-2, 250 Seiten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, Reihe: Grundlagen der Rechtswissenschaft, Band 34, 2017, 74.– €

Die Dissertation Frielings knüpft an Grundfragen der juristischen Metho­denlehre an und behandelt grundsätzliche Fragen zu Inhalt und Ausmaß aner­kannter Methoden zulässiger Auslegung, hier am Beispiel des „Willens des Gesetzgebers“, der stärker bei (heute eher untergeordneter) „subjektiver“[3], aber auch bei aktuell gebräuchlicher „objektiver“[4] Theorie grds. zum Tragen kommt. Dabei stellt er eingangs die (so von ihm bezeichneten) „Ewigkeitsfragen“, über die sich „die Rechtswissenschaft seit mehr als einhundert Jahren nicht geeinigt habe, (nämlich) ob man aus den Gesetzesmaterialien einen Willen des Gesetzgebers ermitteln könne? Wenn ja: Welchen Wert man einem derart ermittelten Willen innerhalb seiner Auslegungsbemühungen zumessen dürfe?“ Die Fragen betreffen also einerseits „Konstruierbarkeit“ des gesetzgeberischen Willens und andererseits dessen „Verbindlichkeit“. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, es „herrsche wegen der großen Uneinigkeit darüber, ob bei der Auslegung der gesetzgeberische Wille zu ermitteln sei und inwiefern die Gesetzesmaterialien dabei verbindliche Erkenntnisquellen darstellen, im Wesentlichen Willkür im Umgang mit den Gesetzesmaterialien“ (S. 209). Es fehle eine überzeugende Methode, wie der gesetzgeberische Willen aus den Gesetzesmaterialien zu ermitteln sei, wobei die methodische Unsicherheit dabei in scharfem Kontrast zur praktischen Relevanz der Gesetzesmaterialien stehe. Diese seien nämlich mit Abstand das wichtigste Auslegungsmittel in der Gerichtspraxis!

Diese nach wie vor virulente Frage[5] hat auch das Bundesverfassungsgericht schon einige Male beschäftigt, z. B. mit recht klarer Formulierung im Jahr 2011 zum „nachehelichen Unterhalt“ (§ 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB), in der der 1. Senat mit Beschluss die in diesem Fall unzulässige richterliche Rechtsfortbildung unter anderem mit diesem Argument gerügt hat, vor allem aber auch im Rahmen der Entscheidung zur „Verständigung im Strafprozess“, BVerfGE 133, 168 (insbesondere dort Rn. 66) vom 19.03.2013. Hier wird an mehreren Stellen ganz ausdrücklich auf den Willen des Gesetzgebers (2011 – Rn. 53 bzw. vor allem aber ausführlich 2013 – Rn. 66) Bezug genommen und es werden hierbei auch explizit die Gesetzesbegründungen einbezogen:

„Maßgebend für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (vgl. BVerfGE 1, 299 [312]; 11, 126 [130f.]; 105, 135 [157]; stRspr). Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen (vgl. BVerfGE 11, 126 [130]; 105, 135 [157]). Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift. Er gibt allerdings nicht immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers. Unter Umständen wird erst im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich, der sich der Richter nicht entgegenstellen darf (vgl. BVerfGE 122, 248 [283] — abw. M.). Dessen Aufgabe beschränkt sich darauf, die intendierte Regelungskonzeption bezogen auf den konkreten Fall — auch unter gewandelten Bedingungen — möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfGE 96, 375 [394f.]). In keinem Fall darf richterliche Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der Regelungskonzeption des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen (vgl. BVerfGE 78, 20 [24] m.w.N.). Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugrunde liegt, kommt daneben den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen.“

Frieling zitiert zum Einstieg in seine Untersuchung allerings drei andere obergerichtliche Entscheidungen zum Thema, einmal des Bundesarbeitsgerichts vom 06.04.2011 (dort Rn. 16 ff.) zur „sachgrundlosen Befristung eines Arbeitsver­trages“, dann des BGH zur Revisibilität ausländischen Rechts (i. R. d. Neufassung des § 545 Abs. 1 ZPO) vom 04.07.2013 und zuletzt des BFH (unter Vorlage zum BVerfG) zur Anerkennung von Aufwendungen für ein Erststudium vom 17.07.2014. Obgleich sich also bereits unzählige Entscheidungen und Untersuchungen[6] mit dem Thema beschäftigt haben und dabei alles gesagt zu sein scheint, wagt sich Frieling mit Verve erneut an die schwierige Thematik, widmet sich dabei im Schwerpunkt vor allem einem bisher scheinbar etwas vernachlässigtem Aspekt, der „Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Arten von ‚Willensäußerungen’, die in den Gesetzesmaterialien zu finden sind“, betrifft sie nun den Aspekt der „Entscheidungshilfe“ für den Rechtsanwender oder auch die „Begründung“ der Entscheidungsinstanz. Der Autor grenzt seine Untersuchung zunächst mit fünf Prämissen notwendigerweise ein:

  1. Die weitere Ausdifferenzierung der traditionellen Auslegungsmethoden hat ihren eigenen Wert für die Rationalität der Entscheidungsbegründung. Sie soll aber keinesfalls die Entscheidungsverantwortung des Richters ausklammern oder die wertenden Aspekte seiner Tätigkeit leugnen.
  2. Die juristische Methode kann nicht das einzig richtige Auslegungs­ergebnis gewährleisten, insofern sei eine naturwissenschaftliche Rationa­litäts­anforderung fehl am Platz – bei der juristischen Methode geht es einzig um die rational nachvollziehbare Begründung der Rechtsan­wen­dung.
  3. Zu ermitteln ist insbesondere der „Maßstab“, nach welchem Aussagen zu den „richtigen“ oder „zutreffenden“ Methodensätzen getroffen werden können.
  4. Die Untersuchung betrifft die Regeln der Überprüfbarkeit der tatsäch­lichen Handhabung der Methoden und den Umgang mit den Gesetzes­materialien und ist damit nicht empirisch, sondern normativ.[7]
  5. Zuletzt die Frage, ob nicht jedes Rechtsgebiet einer eigenen diesbezüglichen Methode bedürfe.

Frieling widmet sich nach dem Einführungskapitel (1. Teil) zunächst (im 2. Teil der Untersuchung) einem historischen Überblick zur Entstehung der Ausle­gungsmethodik, bevor er im 3. Teil „Fallgruppen von Willensäußerungen im Gesetzgebungsverfahren“ herausarbeitet. Im seine Studie abschließenden 4. Teil wagt er einen methodischen „Schluss von den Gesetzgebungsmaterialien auf den Willen des Gesetzgebers“.

Zu den im dritten Teil klar identifizierbaren Ereignisfallgruppen zählt Frieling

  • konkrete Vorstellungen über die Bedeutung einzelner Wörter und Formulierungen des Gesetzestextes,
  • Aussagen zu den Zielen, die mit einer gesetzlichen Regelung verfolgt werden,
  • Fallbeispiele, die zur Erläuterung einzelner Bestimmungen angeführt werden,
  • Rechtsauffassungen bezüglich anderer Rechtsakte, die allerdings unterschiedliche Bezugspunkte haben können wie z. B. europäische Richtlinien oder die Auslegung bereits bestehenden Rechts,
  • Prämissen, die dem Gesetzgebungsverfahren in tatsächlicher Hinsicht zugrunde lagen und
  • Aufträge an Wissenschaft und Rechtsprechung, ungeregelte Fälle zu lösen, im Sinne einer Delegation der Normsetzungsbefugnis.

Interpretationsbedürftige Ereignisse im Gesetzgebungsverfahren seien darüber hinaus

  • das „Schweigen des Gesetzgebers“,
  • verworfene Änderungsanträge,
  • laufende Gesetzgebungsverfahren,
  • gescheiterte Gesetzesinitiativen sowie
  • Irrtümer im Gesetzgebungsverfahren.

Abschließend versucht sich der Autor über die Frage der Verbindlichkeit des „Willens des Gesetzgebers“ an einer Festlegung (S. 213):

„Gemeinsam mit der begrenzenden Funktion des Gesetzeswortlauts ergeben sich – zusätzlich gestützt auf Argumente aus der Funktion der Gesetzesmaterialien, dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Forderung nach Methoden­ehrlichkeit folgende Fallgruppen von (grds. verbindlichen) Willensäußerungen:

  • Verbindlich sind erstens konkrete Normvorstellungen, die im Gesetzgebungs­verfahren entwickelt werden und in den Gesetzesmaterialien dokumentiert sind, (…). Diese sind allerdings nur solange zu berücksichtigen, wie sie sprachlich mit dem dafür gewählten Gesetzestext vereinbar sind. Eine Rechtsfortbildung, bezogen auf das ‚eigentlich’ Gemeinte, ist unzulässig.
  • Verbindlich sind außerdem Ziele, die mit dem Gesetz verfolgt und im Gesetzgebungsverfahren dokumentiert werden. (…) Anders als konkrete Normvorstellungen erläutern sie aber nicht unmittelbar den Gesetzestext, sondern müssen als teleologisches Argument vorgebracht werden. Dabei ist die besondere Struktur teleologischer Argumente zu berücksichtigen, weil häufig mehrere Auslegungsvarianten das angestrebte Ziel verwirklichen und das Gesetz auch eine Entscheidung über den Weg zum Ziel enthält.
  • Weiterhin verbindlich sind Aufträge an Wissenschaft und Recht­sprechung, mit denen der Gesetzgeber bestimmte Fragestellungen ausdrücklich der Rechtsfortbildung durch die Gerichte überlässt.“

Bei der Einordnung müssten allerdings neben der Gesetzesbegründung auch andere Ereignisse sorgfältig auf evtl. Wertungswidersprüche geprüft werden, z. B. die Ausschussberichte, nicht aber die Äußerungen einzelner Abgeordneter, die regelmäßig nicht das gemeinsame Verständnis aller Beteiligten bildeten.

Neben den genannten „verbindlichen“ Fallgruppen sollen die folgenden „Willensäußerungen“ i. S. der Untersuchung nicht als „gesetzgeberischer Wille“ überzeugen können:

  • Subsumtionsvorgaben oder Entscheidungen als Verweise auf einzelne Rechtsfälle i. R. v. Beispielen widersprechen dem Gewaltenteilungs­grundsatz.
  • Gleiches gelte für Rechtsauffassungen oder auch
  • für Äußerungen über tatsächliche Prämissen.

Die bemühte und sehr dichte Differenzierung Frielings ist ein weiterer Versuch, die Griffigkeit der Methodenlehre, insbesondere der Auslegungsmethodik zu verbessern. Der Mehrwert der Arbeit besteht vor allem darin, alle wesentlichen Argumente vereint und sehr fundiert in kategorisierter Gestaltung („Fallgrup­pen“) dargestellt zu finden. Trotzdem bleibt der Rechtsanwender sicher auch nach dem Studium der Arbeit an der einen oder anderen Stelle, an der seine „Entscheidung“ sich im Reifestadium befindet, weiterhin mitunter im Ungefähren. Den Anspruch, alle derartigen Unklarheiten und Unschärfen ein für alle Mal zu beseitigen, hat Frieling aber auch an keiner Stelle explizit erhoben. Allerdings liefert er für die der „inneren Entscheidung“ folgende notwendige „Begründung“ viele sehr brauchbare Anhaltspunkte.

 

[1] Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Prof. Dr. Matthias Jacobs an der Bucerius Law School in Hamburg, welcher zugleich Betreuer der vorliegenden Promotionsarbeit war, zuletzt abgerufen am 17.09.2017.

[2] Vgl. Website des Mohr Siebeck Verlags, Tübingen, zuletzt abgerufen am 17.09.2017.

[3] Nach der heute in „strenger Form“ nicht mehr angewandten „subjektiven Theorie“, die man aber trotzdem noch häufig in der Argumentation von Gerichten finden kann, bedeutet Auslegung die „Feststellung des Sinns, welchen der Gesetzgeber mit den vom ihm gebrauchten Worten verbunden hat; demgemäß müsse der Rechtsanwender stets bestrebt sein, „sich (…) möglichst vollständig in die Seele des Gesetzgebers hineinzudenken“, was mit den Gesetzesmaterialien grds. möglich ist. Grundannahme: Es ist ja der Gesetzgeber, der die Norm erlässt. Werden Rechtssetzung und Anwendung aufgespalten, so muss der Wille des Normgebers für die Behebung von Unklarheiten maßgeblich sein (Art. 20 III GG, 97 I GG – Einschränkungen hierzu z. B. bei Walz).

[4] Heute ist die „objektive Theorie“ aber wohl vorherrschend. Sie geht davon aus, dass sich mit dem Akt der Gesetzgebung das Gesetz „verselbstständigt“ und sich in ein objektives Dasein erhebt. Das Gesetz kann im Laufe der Zeit eine Bedeutung annahmen, die ihm sein Urheber nicht zugedacht hat, weshalb sich die „objektive Theorie“ an dem Sinn, welchen ein typischer, sorgfältiger Normadressat unter den aktuellen Bedingungen der gesetzlichen Regel entnehmen kann und muss, an dem „objektiven Zweck“ der Norm orientiert. Grundannahme: Das „Gesetz ist klüger als der Gesetzgeber“. Der “Willen” einer Personengemeinschaft, wie z. B. der eines Parlaments ist nur „Fiktion“. Diesbezüglich können sich dereinst angenommene Tatsachen und Wertungen durchaus andern, womit die Bedeutung der Gesetzesmaterialien in ihrer Indizwirkung nachlässt.

[5] Vgl. hierzu z. B. nur Walz, ZJS 4/2010, S. 482 ff..

[6] U. a. verweist Frieling auf eine spannende empirische Untersuchung zu Auslegungsfragen im Strafrecht von Eric Simon, „Gesetzesauslegung im Strafrecht. Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung“ (des BGH in Strafsachen), 2005 bei Duncker & Humblot herausgegeben. Es waren übrigens mit Verweis auf Carl Georg von Wächter und dessen 1835 erschienenes Werk „Abhandlungen aus dem Strafrecht“ die Strafrechts­wissenschaftler, die die (ersten) strafrechtlichen Kodifikationen derart diskutierten.

[7] Dieser Teil der Prämisse verkörpert das Verständnis des Autors „vom gesetzgeberischen Willen als normativem Willen“, also der Absicht, „dem abstrakten Verfassungsgebilde ‚Gesetzgeber’ einen Willen zuzurechnen“. Die Argumentation folgt also einem „Willens­argument“ (das Gesetzgebungsverfahren ist ein arbeitsteiliger Prozess und so ließen sich Äußerungen einzelner Beteiligter der Gesamtheit zurechnen, wenn diese Gesamtheit auf der Grundlage der Äußerungen über das Gesetz abstimmt) und begründet danach entlang des „Grundsatzes der Gewaltenteilung“ und der darauf begründeten „parlamentarischen Befugnisse“.

Rezensiert von: Holger Plank