Verortungen in der Jerusalemer Altstadt. – Johannes Becker – Rezensiert von: Thomas Feltes

Becker, Johannes; Verortungen in der Jerusalemer Altstadt. Lebensgeschichten und Alltag in einem engen urbanen Raum; transcript-Verlag Bielefeld, 2017, 456 S., ISBN 978-3-8376-3938-4, 44,99 Euro

Die Jerusalemer Altstadt ist aufgrund ihrer politischen und religiösen Bedeutsamkeit einer der bekanntesten Orte der Welt. Obwohl die Altstadt statistisch gut erfasst ist, sind die Perspektiven und Erfahrungen der palästinensischen Bewohner in diesem aufgeladenen und engen urbanen Raum weniger bekannt und in der sozialwissenschaftlichen Forschung vergleichsweise wenig diskutiert. Johannes Becker hat sich über mehrere Jahre hinweg immer wieder in Jerusalem aufgehalten und die Ergebnisse seiner Feldforschung und seiner Biographieforschung werden in diesem überaus lesenswerten Buch vorgestellt.

Das Buch ist nicht nur für alle, die schon einmal in der Jerusalemer Altstadt waren, ein Muss. Vielmehr verdeutlicht es, wie man sich dem Thema Raum und Menschen auch anders als durch statistische Zugänge nähern kann. Es ist somit auch ein Beispiel dafür, wie man kriminalgeografische Studien neu anlegen könnte – und sollte. Denn die Ergebnisse, die Becker in seiner Studie präsentiert, lassen sich nur durch diese Form von qualitativer Sozialforschung gewinnen. Dabei sind diese Ergebnisse sehr wichtig zum Verständnis eines Raumes und der dort lebenden Menschen, zum Verständnis ihrer Sorgen und Ängste und zum Verständnis ihres Verhaltens – alles das, womit sich die Kriminologie im Kontext von Raum und Kriminalität eben auch beschäftigt, oder zumindest beschäftigen sollte.

Becker beschreibt nicht, sondern er veranschaulicht wie Gesellschaft und Individuum ein Wechselverhältnis eingehen und sich gegenseitig bedingen. Selbst- und Fremddefinitionen spielen dabei eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Rolle. Entsprechend stellt er nicht die ansonsten thematisierten religiösen oder politischen Aspekte in den Vordergrund (auch dies etwas, von dem die Kriminologie lernen könnte), sondern die Untersuchung von Alltagspraktiken, Lebensgeschichten und der Art und Weise, wie die Menschen in der Jerusalemer Altstadt (miteinander) leben. Die so vermittelten Einsichten sind genau dies: Man sieht ein, warum sie sich so verhalten, wie sie es tun, und man versteht, warum Konflikte entstehen oder eben auch nicht entstehen.

Insgesamt geht es um die Frage, wie sich Menschen in einem ideologisch aufgeladenen und geographisch engen Raum verorten. Becker beschreibt und analysiert das palästinensische Alltagsleben in der Jerusalemer Altstadt, stellt Lebensgeschichten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner vor und zeigt wenig thematisierte geschichtliche Aspekte der palästinensischen Gemeinschaft Jerusalems auf. Aus der Perspektive der sozialkonstruktivistischen Biographieforschung sowie der Raum- und Stadtsoziologie schärft er den Begriff der Verortung und diskutiert, wie Städte anhand der Relevanzen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner erforscht werden können. So geraten wenig beleuchtete Aspekte der palästinensischen Sozialgeschichte in den Blick, die für die Bewohner relevant sind. Becker zeigt in seiner Studie die große Relevanz von Nachbarschaften, Häusern und des Symbols Jerusalem für diese „Verortungen“. Damit verknüpft er Raum- und Biographieforschung. Forschungen dieser Art machen die Prozesshaftigkeit und Wandelbarkeit von Nachbarschaften deutlich – ein Aspekt, der in der kriminologischen Forschung zu Raum und Kriminalität leider zu kurz kommt.

Neben der (teilnehmenden) Beobachtung des Lebens in Jerusalem hat Becker 35 biographisch-narrative Interviews durchgeführt. Schon dadurch wird deutlich, dass man eine solche Studie nicht in weniger Wochen durchführen kann. Dieser lange Atem, den Ethnologen oder bestimmte Sozialwissenschaftler haben und haben dürfen, fehlt den Kriminologen oftmals – nicht deshalb, weil sie das nicht wollen würden, sondern deshalb, weil ihnen das dazu nötige Geld, vielleicht aber auch das nötige methodische Wissen fehlt. Wenn das so ist, warum arbeiten wir dann als Kriminologen nicht öfters mit Ethnologen oder auch Geschichtswissenschaftlern zusammen? Vielleicht weil wir zu sehr mit uns selbst und unserem eigenen Überleben beschäftigt sind (das gilt natürlich umso mehr für Polizeiwissenschaftler)?

Konkret untersucht Becker drei Forschungsräume: eine „kleine Nachbarschaft“, Palästinenser, die im „jüdischen Viertel“ leben und Mönche in der Altstadt. Diese Forschungen in sozial stark kontrollierten Nachbarschaften, die Kombination von Interviews und teilnehmenden Beobachtungen und das Agieren in einem politisch aufgeladenen und für Forscher anspruchsvollen lokalen Umfeld sind gleichermaßen spannend wie inhaltlich anregend. Zeit, Raum und Ort sind soziale Konstrukte, und wenn man dies wahr- und ernst nimmt, dann wäre es beispielsweise an der Zeit, sich auf diese Art und Weise der Lebenswelt von Migranten zu nähern. Wer traut sich?

Rezensiert von: Thomas Feltes