Armin Mätzler / Ingo Wirth – Todesermittlung – Grundlagen und Fälle

363) Mätzler, Armin / Wirth, Ingo; „Todesermittlung – Grundlagen und Fälle“[1]; ISBN: 978-3-7832-0046-1, 434 Seiten, Verlag C. F. Müller, Heidelberg, 5., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2016, Reihe „Grundlagen – Die Schriftenreihe der Kriminalistik“, 28,99 €

Maetzler_Todesermittlung

Das Werk, erstmals aufgelegt im Jahr 1985, wird nun in der Reihe „Grundlagen der Kriminalistik“ in der 5., neu überarbeiteten und (deutlich) erweiterten Auflage 2016 zum ersten Mal in „Ko-Autorenschaft“ herausgegeben. Neben dem pensionierten leitenden Kriminalbeamten aus NRW, Armin Mätzler[2], der das Werk abschließend bis zur 4. Auflage bearbeitet hat, ist nun der frühere Rechts­mediziner und Kriminalist Ingo Wirth[3] als „Neuherausgeber“ / „Mit­autor“ in der Nachfolge von Mätzler „an Bord“, was das ohnehin schon recht akzentuierte Werk noch aussagekräftiger macht.

Das Werk bietet einen sehr profunden Überblick über alle wesentlichen Aspekte der kriminalpolizeilichen Leichensachbearbeitung und Identifizierung. Ziel­gruppe sind aber (eher und) nicht (nur) erfahrene Tötungs­sachbearbeiter in den entsprechend spezialisierten Kriminal­kommissariaten. Vielmehr richtet es sich explizit an zwar geschulte, aber nicht ständig mit der Bearbeitung von Todesermittlungsverfahren betrauten Krimina­listen und will Hilfe und An­regung geben, den Leichenfundort und Leichen­erscheinungen richtig zu beurteilen. Fehler beim polizeilichen „Ersten Angriff“ an einem derartigen Ereignisort führen im extremsten Fall dazu, dass ein Tötungsdelikt nicht erkannt wird oder können die spätere Aufklärungsarbeit in den Fach­kommissariaten enorm erschweren.

Wie Mätzler im Vorwort zur 3. Auflage erwähnt, liegen „die Probleme nicht dort, wo es darum geht, einen Mord zu bearbeiten, sondern dort, wo es gilt, ihn zu erkennen!“ Das gilt gleichermaßen für die Ärzteschaft[4] wie auch für die an einem Ereignisort eines ärztlich „nicht-natürlich“ bescheinigten Todesfalles zuerst eintreffenden Polizei- bzw. Kriminalbeamten. Nicht umsonst kursiert unter deutschen Rechts­medizinern und erfahrenen Todesermittlern der zynische Spruch: „Wenn auf jedem Grab, in dem ein Ermordeter beigesetzt ist, eine Kerze brennen würde, wären unsere Friedhöfe Nachts taghell erleuchtet.“ [5] Die Zeitung DIE WELT bilanziert in ihrer Online-Ausgabe vom 05.11.2014 an­gesichts eines entsprechenden Beschlusses (vgl. Beschluss zu TOP II.5)  der 85. Jus­tiz­ministerkon­fe­renz vom 06. November 2014 in Berlin zur „Verbesserung der Qualität der äußeren Leichenschau“ mittels einer „elektrisierenden“ Metapher und sehr zynisch, dass „für jeden verbeulten Kotflügel in Deutschland mehr Aufwand betrieben wird als für einen toten Menschen.“

Ohne wegen der sehr indifferenten Faktenlage letztlich einen Beweis erbringen zu können, gehen verschiedene (ältere rechtsmedizinische) Studien davon aus, dass es im Verhältnis zwischen erkannten vorsätzlichen Tötungsdelikten und schon bei der gesetzlich vorgeschriebenen ärztlichen Leichenschau bei sogenannten „nicht-natürlichen Todesfälle“ nicht erkannten Tötungsdelikten eine sehr hohe Dunkelziffer (Brinkmann et al., 1997, gingen sogar von einer Dunkelziffer von 1 : 1 aus!) gibt. Das ist und bleibt nicht tolerabel. Auf diesen unerträglichen Umstand hinzuweisen und diesen Zustand zu verbessern, hierfür sind sowohl das theoretische Konzept als auch die praktischen Hinweise des Buches sehr geeignet.

Das Buch ersetzt sicher nicht das für erfahrene Todesermittler (zusätzlich) notwendige Studium rechtsmedizinischer Fachliteratur. Diese werden regel­mäßig auch auf eine enge Kooperation mit dem Rechtsmediziner angewiesen sein. Trotzdem muss auch der erfahrene Ermittlungsbeamte sich schon beim „Er­sten Angriff“ der Möglichkeiten und Grenzen rechts­medizinischer Be­fundinterpretationen gegenwärtig sein und seinen im Rahmen des „Aus­werteangriffs“ zu erstellenden „Tatortbefundsbericht“ und die Folge­er­mitt­lungen daraufhin anpassen / ausrichten.

Für die weiter o. g. Zielgruppe der „unerfahreneren Kriminalisten“ bietet es durch seinen didaktischen, immer wieder mit praktischen Beispielen und Fällen angereicherten Aufbau aber die Möglichkeit, sich spezifisches kriminalistisches Wissen zur zielgerichteten Verdachtsschöpfung anzueignen und so die indi­viduelle (krimi­nalistische) Erfahrung enorm zu verbreitern. Sehr zutreffend stellt der neue Herausgeber Wirth in seinem Vorwort deshalb im Hinblick auf die von Mätzler vorgenommene und von ihm fortgeführte Anlage des Werkes mit zahlreichen „Fallberichten“ auch ein Zitat des bekannten Berliner Kriminalisten / Juristen und langjährigen Lehrbeauf­tragten am „Krimina­listischen Seminar“ der Humboldt-Universität Berlin, Hans Schneickert, in den Mittelpunkt:

„Die kriminaltaktische Lehre kann selbstverständlich nicht auf eine Kasuistik verzichten. Auch ältere Kriminalfälle können als Lehrbeispiele ein theoretisches Interesse beanspruchen. Die Berücksichtigung der Kriminalgeschichte wird immer von einigem Nutzen sein, weil sie geeignet ist, die Kombinationsfähigkeit des jungen Kriminalisten anzuregen.“[6]

Ziel muss es dabei sein, die Schwelle der festgestellten Referenzfälle nicht-natürlicher Todesursache zu erhöhen und bei diesen im Rahmen der Entscheidungshoheit der Staatsanwaltschaft nach § 159 StPO die weitere Sach­aufklärung zur Todesursache, ggf. über die Anordnung einer gesonderten Lei­chenschau / -öffnung gem. § 87 StPO (Umfang gesetzlich bestimmt in § 89 StPO) bzw. überhaupt einer Identifizierung des Verstorbenen (vor der Lei­chen­öffnung) gem. § 88 StPO und die Fest­stellung möglicher Fremd­einwirkung hierbei in die Hände von erfahrenen Rechts­medizinern zu geben und mit größter Beschleunigung (vgl. Nr. 36 RiStBV)  durchzuführen.

Das Buch ist in 6. Kapitel gegliedert:

  1. Strafprozessuale Grundlagen der Todesermittlung (s. o.)
  1. Leichenschau und Leichenöffnung

Hier werden am Beispiel von (verfremdeten) praktischen Fallbeispielen typische Fehlerquellen im Zusammenhang mit der ärztlichen Leichen­schau, der Todesbescheinigung, bei der polizeilichen Todesfallermittlung und bei der Bearbeitung von Vermisstensachen benannt und bereits zahlreiche Empfehlungen zur Beseitigung derselben gegeben. Ferner werden allgemeine kriminalistische Grundsätze für den „Ersten Angriff“ in Todesermittlungsfällen und für den sogenannten „Tatortbefundbericht“ (vgl. Ziff. 2.2.5, S. 19 ff.) dargelegt.

  1. Identifizierung unbekannter Toter

Das Kapitel legt die strafprozessrechtlichen Vorschriften (s. o. § 159 StPO) und die relevante polizeiliche Vorschriftenlage (z. B. Polizeidienstvorschrift / PDV 389, Ziff. 3.1 ff.) für den Umgang mit solchen Fällen dar und beschreibt verschiedene kriminalistische Identifizierungsverfahren.

  1. Kriminalistische Ermittlungen bei Todesfällen

In diesem Kapitel werden die bereits dargestellten verschiedenen Ermittlungsphasen („Erster Angriff“, „Sicherungs- und Auswerteangriff“, „Ereignis- bzw. Tatortbefundbericht“ etc.) und die dabei kriminalistisch notwendigen Maßnahmen sowie typische Fehlerquellen bei diesen Maßnahmen dargelegt.

  1. Die Phänomenologie des nicht natürlichen Todes, dargestellt an Fällen

Am Beispiel von zahlreichen Fällen werden in diesem Abschnitt Vorgehensweisen bei Tötungsverbrechen in Bezug gesetzt zu typischen kriminalistischen  Problemstellungen bei der Spurendetektion und –bewertung.

  1. Möglichkeiten und Grenzen der Aufdeckung rechtlich relevanter Todesfälle – ein Resümee

Die (populär-) wissenschaftliche Literatur zur Rechtsmedizin und insbesondere zur Todesfallermittlung hat sich in den letzten Jahren exponentiell erhöht. Das zeigt auch, dass derartige Ermittlungen im Fokus öffentlicher / medialer  Aufmerksamkeit stehen. Darunter sind neben wenigen durchaus wertvollen Werken kasuistischer Prägung, die in angemessener Weise auf rechtsme­dizinische und strafprozessuale Problemstellungen eingehen, auch viele Schrif­ten, die – fachlich größtenteils wertlos – offenkundig nur zur Befriedigung „voyeuristischer“ Bedürfnisse oberflächlicher Kriminalliteratur zugeneigter Le­ser­schaft dienen.

Das vorliegende Werk von Mätzler / Wirth gehört in keine der beiden Kategorien. Es stellt empirisch wie auch rechtsmedizinisch in sehr fundierter Weise wesentliche Problemstellungen bei der ärztlichen und polizeilichen Leichensachbearbeitung dar. Gerade weil dieses Thema leider weder in der ärztlichen noch in der (kriminal-)polizeilichen Ausbildung vertieft behandelt wird, ist dieses umfassende Grundlagenwerk wertvoll und gehört mindestens in die Bibliotheken der polizeilichen Aus- und Fortbildungseinrichtungen wie auch als Fachliteratur in die inzwischen bundesweit institutionell verankerten 24/7-Kriminaldauerdienste der Polizeipräsidien. Als didaktisch sehr brauchbar aufgebautes und sehr gut lesbares Grundlagenwerk eignet es sich aber auch für Ärzte, die sich mit der Problematik „Leichenschau“ näher beschäftigen wollen, sehr gut als naturwissenschaftlich-juristische Einstiegslektüre.

Prädikat: Nach wie vor, auch in der Neuauflage, sehr empfehlenswert!

[1] Siehe Hinweis auf der  Verlags-Website von C. F. Müller

[2] http://www.cfmueller.de/autoren/Armin-Maetzler/

[3] Prof. Dr. med. Dr. phil Ingo Wirth war Gerichtsarzt am Institut für Gerichtliche Medizin an der Humboldt-Universität in Berlin und ab 1990 Hochschuldozent für Kriminalistik / Forensische Medizin an der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität. Ab 1993 lehrte er Kriminalistik an der Fachhochschule der Polizei in Brandenburg und ist Autor und Herausgeber mehrerer Werke bei  C. F. Müller, unter anderem auch des Bandes „Rechtsmedizin“, 3. Auflage 2012 und hat zahlreiche fachbezogene und allgemein kriminalistische Beiträge, u. a. in der Zeitschrift Kriminalistik (vgl. Jg. 62, 2008, S. 348 ff – „Beweisführung – Probleme beim Sexualmord“; Jg. 56, 2002, S. 385 ff. – „Erhängen / Suizid oder Tötungsdelikt“; Jg. 50, 1996, S. 726 ff. – „Sadistischer Knabenmörder“; Jg. 61, 2007, S. 660 ff. – „Brandstiftungsserien“; Jg. 54, 2000, 595 ff., 655 ff., 731 ff. u. 799 ff.  – „Zur Kriminalistik als Wissenschaft im System der Kriminalwissenschaften“) veröffentlicht.

[4] Das Bestattungswesen, in dem das behördliche Verfahren der „Leichenschau“ geregelt ist, liegt in der Regelungskompetenz der jeweiligen Bundesländer (vgl. z. B. § 9 „Leichenschau, Todesbescheinigung und Unterrichtung der Behörden“ des Gesetzes über das Friedhofs- und Bestattungswesens in NRW vom 17. Juni 2003, zuletzt geändert durch Gesetz vom 09. Juli 2014). Hier werden auch „Qualitätsansprüche“ definiert. Weit überwiegend ist es so, dass jeder niedergelassene Arzt, unabhängig von evtl. vorhandenen rechtsmedizinischen Kenntnissen, zur Leichenschau verpflichtet sind. Aktuell läuft eine Studie zur Verbesserung der Leichenschau im Saarland.

[5] Vgl. z. B. nur Masterarbeit F. Spormann, Berlin, 2005, S. 10.

[6] Schneickert, in: Kriminaltaktik mit besonderer Berücksichtigung der Kriminalpsychologie, 5., völlig umgearbeitete Auflage,1940, Vorwort, S. IV.

Rezensiert von: Holger Plank