Norbert Nedopil – Jeder Mensch hat seinen Abgrund. Spurensuche in der Seele von Verbrechern

Nedopil, Norbert; Jeder Mensch hat seinen Abgrund. Spurensuche in der Seele von Verbrechern.[1]; ISBN: 978-3-442-31442-3, 318 Seiten, Goldmann Verlag, München, 2016, 19.99 €)

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Der Autor, Prof. Dr. med. Norbert Nedopil[2], ist forensischer Psychiater und Psychologe. Er leitete von 1992 bis September 2016 die Abteilung für Forensische Psychiatrie der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er berichtet in seinem im September 2016 vorgelegten, sehr lesenswerten ersten Sachbuch über seine langjährige berufliche Praxis als forensischer Gutachter und nähert sich dabei unter anderem den Fragen, wer wie und wann zum Mörder werden kann und ob es das Böse gibt?

Eine seiner diesbezüglichen Feststellungen beruhigt und macht nachdenklich zugleich. „Ich bin noch niemals einer Bestie gegenübergesessen, sondern immer einem Menschen, egal, was er getan haben mag.“ Er beschreibt, dass oft die Situation und nicht die Täterpersönlichkeit ausschlaggebend war und bejaht den Satz: „Jeder kann zum Mörder werden.“

Der Autor beschreibt sehr eingängig und für ein populär-wissenschaftliches Buch erfreulich differenziert den intensiven professionellen Prozess der Exploration von Probanden und die dabei unter Umständen auftretenden Konflikte, z. B. die auftretende Rollendifferenz zwischen dem Kundschaften im Vier-Augen-Gespräch und dem späteren Gutachten im öffentlichen gerichtlichen Hauptverfahren. Beeindruckend ist dabei die reflexive Professionalität, der beständige Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und der daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen und das nach vielen Berufsjahren erkennbar ungebrochene Interesse an den Menschen und ihren handlungsleitenden Motiven. Auch der gutachterliche „Restzweifel“ gegenüber den eigenen Explorationsergebnissen, insbesondere in Bezug auf die Rückfallprognose bei Entlassungsgutachten, wird überaus deutlich, eindringlich z. B. zum Ausdruck gebracht durch ein Zitat eines mit dem Autor befreundeten ärztlichen Direktors einer psychiatrischen Klinik mit Patienten im Maßregelvollzug: „Ich könnte die Hälfte meiner Probanden sofort entlassen, wenn ich nur wüsste welche!“

Nedopil beschreibt sich nach all den Jahren in seiner gutachterlichen Rolle in einer Metapher auf Kolumbus (S. 28) nach wie vor als „Suchender“, der trotz aller beruflichen Erfahrung und Professionalität anerkennt, dass es immer noch weiße Flecken, unbekanntes Terrain auf der Landkarte der menschlichen Psyche gibt. Die Rolle des Gutachters sei die eines Kundschafters, der „mit menschenkundlicher Neugier die Spuren in der Psyche (seines) Gegenübers verfolgt.“ So materialisiere sich vielleicht eine Trasse, von der er allerdings noch nicht wisse, wohin sie ihn führen wird. Eine solche Landkarte, Schritt für Schritt gefüllt und als Gutachten verfasst, biete zwar immer noch keine Sicherheit, dass er „alle Flüsse und Täler und Berge und Seen und Wälder an der richtigen Stelle aufgespürt habe.“ Dennoch dürfe er davon ausgehen, dass eine derartig explorierte „Landkarte die Realität des Menschen, der ihm gegenübersitze, deutlicher abbildet als eine Landkarte, die von Anfang an ausgefüllt gewesen wäre.“

Sehr kritisch betrachtet Nedopil im Übrigen den Umgang der Medien mit dem Phänomen Gewaltkriminalität. In einem „politisch-publizistischen Verstärker­kreislauf“[3] werde unangemessen Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung erzeugt, obwohl die Gewaltkriminalität seit vielen Jahren beständig abnehme. So gab es in Deutschland 2014 624 vollendete Tötungsdelikte. Das entspricht einer Häufigkeitszahl von 0,78 pro 100 000 Einwohner und 30 Prozent davon werden vom Partner begangen. Im Jahr 1890 gab es hingegen noch 2,5 „Gewalttote“ pro 100 000 Einwohner und 1990 1,7 (vgl. S. 20, 274). Besser als 0,6 pro 100 000 Einwohner wird es in Westeuropa (nach einer zitierten Schätzung von Pinker[4]) wohl nie gehen, weil es immer Familienstreiterei, psychische Aus­nahme­zustände und einige kriminelle Motive geben wird, die man nicht beseitigen könne. Faszi­nierenderweise habe sich die Angst vor dem Verbrechen allerdings nicht entsprechend reduziert, sondern sei sogar gestiegen. Die gefühlte Bedrohung wird greller beleuchtet als die Realität.[5]

Nedopil hat zum Ende seiner Karriere ein im besten Sinne aufklärerisches Werk vorgelegt. Sein Fazit für den Leser: „Die Welt ist besser, als Sie glauben.“ Und doch schließt er mit einer Mahnung: Zivilisation ist „kein Selbstläufer, sondern etwas, das man pflegen, fördern und auch verteidigen muss.“[6]

[1] http://www.sueddeutsche.de/leben/verbrechen-herr-nedopil-gibt-es-boese-menschen-1.3222888, Interview mit dem Autor in der Süddeutschen Zeitung vom 08.11.2016.

[2] http://forpsych.klinikum.uni-muenchen.de/index2.htm

[3] Begriff von Scheerer, Sebastian: Der politisch-publizistische Verstärkerkreislauf. Zur Beeinträchtigung der Massenmedien im Prozeß (sic.) strafrechtlicher Normgenese, in: Kriminologisches Journal (KrimJ), 10 (1978), S. 223 – 227.

[4] Pinker, Steven, 2011: Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit. Fischer-Verlag, Frankfurt a. Main.

[5] http://www.sueddeutsche.de/leben/verbrechen-herr-nedopil-gibt-es-boese-menschen-1.3222888, Interview mit dem Autor in der Süddeutschen Zeitung vom 08.11.2016.

[6] http://www.sueddeutsche.de/leben/philisophischer-alltag-menschliche-abgruende-1.3192220, in der Rubrik „Philosophischer Alltag“ der Süddeutschen Zeitung vom 07.10.2016, geschrieben von Lars Langenau.

Rezensiert von: Holger Plank