Martin Löhnig / Mareike Preisner / Thomas Schlemmer (Hrsg.) – Ordnung und Protest. Eine gesamtdeutsche Protestgeschichte von 1949 bis heute.

Löhnig, Martin  [1] / Preisner, Mareike [2] / Schlemmer, Thomas [3] (Hrsg.); „Ordnung und Protest. Eine gesamtdeutsche Protestgeschichte von 1949 bis heute.“[4]; ISBN: 978-3-16-153793-6, 307 Seiten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2015, 69.- €

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Der vorliegende Band ist aus einer Ringvorlesung, gemeinsam im Sommer 2013 veranstaltet durch das Institut für Zeitgeschichte (München / Berlin, vgl. Fn. 3) und den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht der Universität Regensburg, Prof. Löhnig, hervorgegangen. Nach einer sehr gut gegliederten, ambitionierten und gut lesbaren Einführung in das Thema[5], werden in insgesamt 15 Beiträgen ausgewählte Aspekte der gesamt­deutschen Protestgeschichte[6] aus interdiszi­plinärer (v. a. rechts-, ge­schichts-, sozial- und politikwissen­schaft­licher) Perspektive beleuchtet. Dabei legen die Herausgeber zurecht in besonderer Weise Wert auf die Feststellung, dass „zulässiger Protest selbst Bestandteil einer mittels eines rechtlichen Rahmens konstituierten demo­kratischen Ordnung ist und das Verhältnis beider zueinander demgemäß nur als dialektisches denkbar sei.“[7] Diese übergrei­fende wissenschaftliche Sicht auf die Thematik ist sehr gewinnbringend und in dieser Form m. E. auf dem Marktplatz der einschlägigen Fachliteratur rund um die inhaltlich vielgestaltige Thematik der Versammlungs- und Demonstrations­freiheit nach Art. 8 GG ein durchaus bedeutender neuer Beitrag. Darin werden in sehr anschaulicher Weise nicht nur die über die Jahrzehnte höchst heterogenen Protestformen (in einer trotz des Umfangs des Werkes keineswegs vollständigen themenzentrierten Auswahl) dargestellt, sondern auch Grenz­bereiche des rechts- und verfassungsstaatlich konstituierenden, zurecht extensiven demokratischen Versammlungs- und Demonstrationsrechts be­handelt. In Teilen, z. B. erläutert anhand des Auftretens rechtsextremistisch orientierter Parteien und Splitter­gruppen (Beitrag von Tobias Hof, S. 217 – 238), werden auch Grenzüber­schreitungen legitimer politischer Teilhabe, etwa solche, die sich erkennbar gegen die staatliche Ordnung als solche richten, thematisiert.

Dabei werden in interdisziplinärer Form nicht nur Fragen nach den rechtlichen, sondern auch nach den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die kurzfristigen Protest oder sogar eine lange angelegte Protestbewegung entstehen lassen oder zulassen, und nach den Auswirkungen von Protest, etwa als Motor sozialen Wandels oder schon als Symptom einer bereits erfolgten Wandlung, behandelt. Gerade vor dem soziologischen Hinter­grund aktueller, völlig inhomogener und abseits konkreter Themenstellungen organisierter Protestbewegungen als ein Ausdruck all­gemeiner Ablehnung demokratisch le­gitimierter Institutionen und Verant­wortungs­träger in einer reprä­sentativ angelegten Demokratie ist gerade das Thema „Ordnung und Protest“ nach wie vor präsent und brandaktuell. Dies wird auch am Beispiel zahlreicher Neuerscheinungen von Sachbüchern namhafter Soziologen bzw. Politik­wissenschaftler[8] deutlich, die die aktuelle Hoch­konjunktur der „Politik der Straße“ thematisieren und die Frage zu beantworten suchen, ob „solche Versammlungen als Ausdruck der Souveränität des Volkes aus radikal­demokratischer Perspektive zu begrüßen sind oder ob sie etwa Anlass zur Sorge vor einer Herrschaft des ‚Mobs’ sein können“ und die sich ferner fragen, wer denn in diesem Zusammenhang überhaupt „das“ Volk ist und wie bzw. von wem derartige Protestbewegungen ggf. bewusst instrumentalisiert werden.

Der Sammelband ist also gleichwohl hochmodern, etwa wenn es um die gesellschaftliche, politische, ökonomische bzw. ökologische Legitimation baulicher Großvorhaben über das Planfeststellungsrecht (Beitrag von Gerrit Manssen, S. 267 – 266[9]) oder kritische Ausdrucksformen eines gespaltenen Verhältnisses gegenüber anderen (monotheistischen) Religionsformen, vielfach in grenzverletzender bzw. sogar beleidigender oder sogar einseitig schmähender (Protest-)Form vorgetragen (Beitrag von Jörg Eisele, S. 239 – 256), geht. Viele Beiträge bergen auch allgemeine und berufliche Reminiszenzen an längst vergessen geglaubte, historische Themenstellungen, etwa die breiten und am Ende beinahe unversöhnlich ausgetragenen gesellschaftlichen Proteste rund um den „Nato-Doppelbeschluss“ vom 12.12.1979 (Beitrag von Susanne Schregel, S. 133 – 148) und damit im weiteren Verlauf z. B. zusammenhängende „Protest- und Blockade­aktionen“ (Beitrag von Arndt Sinn zur Nötigungsstrafbarkeit von Protesthandlungen, S. 115 – 132) bis weit in die 1980er Jahre hinein oder aber an die Protestbewegung anlässlich der Pariser Verträge vom 23.10.1954, dem damit verbundenen Beitritt der jungen Bundesrepublik in die NATO und der damit verbundenen Wiederbewaffnung einer zunächst kleinen Bundeswehr ab Mai 1955.

Auch wenn Balz (vgl. Fn. 5) die inhaltliche und thematische Ungeordnetheit im Hinblick auf eine notwendige Abstimmung, die gegenseitige Bezugnahme der Beiträge aufeinander vielleicht sogar berechtigt kritisiert, so bleibt dennoch der Gesamteindruck, wie fruchtbar eine derartige interdisziplinäre Verzahnung von Zeitgeschichte Sozial- und Rechtswissenschaft sein kann.

[1] Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht an der Universität Regensburg, vgl. Website http://www.uni-regensburg.de/rechtswissenschaft/buergerliches-recht/loehnig/team/martin-loehnig/, zuletzt abgerufen am 28.11.2016.

[2] Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post Doc) am Lehrstuhl von Prof. Löhnig, vgl. Website http://www.uni-regensburg.de/rechtswissenschaft/buergerliches-recht/loehnig/team/, zuletzt abgerufen am 28.11.2016.

[3] Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaftler, Privatdozent an der LMU München und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München / Berlin, vgl. http://www.ifz-muenchen.de/das-institut/mitarbeiterinnen/ea/mitarbeiter/thomas-schlemmer/, zuletzt abgerufen am 28.11.2016.

[4] https://www.mohr.de/uploads/tx_sgpublisher/produkte/leseproben/9783161537936.pdf, Inhaltsverzeichnis und kurze Einführung in den Band auf der Website des Verlages, zuletzt abgerufen am 28.11.2016.

[5] Hanno Balz von der John Hopkins University in Baltimore resümiert jedoch in einem Beitrag in H-Soz-Kult vom 04.01.2016, „hier werde ein eher durchwachsenes Buch vorgelegt, das dem in der ambitionierten und gut lesbaren Einführung formulierten Anspruch nicht immer gerecht werde. Daran zeige sich auch ein wenig die sehr deutsche Herangehensweise, aus jeder Tagung oder Ringvorlesung einen Sammelband entstehen zu lassen – was in der heterogenen Form der Beiträge deutlich werde, die teilweise noch zu sehr den Vortragsmanuskripten ähneln.“

[6] Die gesamtdeutsche Perspektive ist schon deshalb interessant, weil sie ihre Beobachtungen auf der Grundlage der beiden völlig unterschiedlich gestalteten deutschen Verfassungen trifft und die jeweils breite gesellschaftliche Protestbewegung in der ehemaligen DDR, in einem völlig anderen politischen System, als zunächst weitgehend gewaltfreier „Volksaufstand“ durch das Eingreifen sowjetischer Truppen gewaltsam niedergeschlagen am 17. Juni 1953 und als ebensolcher im Oktober und November 1989 kulminierend und die deutsch-deutsche Wiedervereinigung ermöglichend, perspektivisch einschließt. Insofern wird sowohl in der Einführung von Löhnig et al. wie auch in dem den Sammelband abschließenden Beitrag von Müller-Franken (S. 267 ff.) die vereinigende Klammer, der besondere gesamtdeutsche Bezug des Bandes deutlich. „Während die Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, gerade wegen der langfristigen Wirksamkeit politischer Proteste, einer signifikanten Dynamik hinsichtlich ihrer Ausdeutung und Konkretisierung unterlegen seien, sei derlei Veränderung für die Verfassungen der Deutschen Demokratischen Republik nicht feststellbar gewesen“, so bspw. Lemke in einer kurzen Bewertung des Sammelbandes im Portal für Politikwissenschaften.

[7] Dabei wurden im Laufe der vergangenen über 60 Jahre die Grundrechte stetig angepasst und verändert, so dass die Herausgeber als Leitlinie für ihren Band feststellen: „Die historische Entwicklung und Entfaltung der Grundrechte in der Bundesrepublik und ihre jeweilige Konkretisierung durch das geltende einfachgesetzliche Recht sind daher nicht nur Protestgeschichte, sondern zugleich die Geschichte unserer bundesrepublikanischen Ordnung.“

[8] Vgl. z. B. nur das gerade bei Suhrkamp erschienene Buch der Berkley-Professorin Judith Butler zum Thema „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“ oder der soziologische Essay „Was ist Populismus“ von Jan-Werner Müller, ebenfalls 2016 bei Suhrkamp/Insel erschienen.

[9] Die sich deshalb zurecht die Frage stellt, ob das deutsche Recht angesichts aktueller Erfahrungen, bspw. im Zusammenhang mit den Schlichtungsforen und des Plebiszits rund um den Stuttgarter Tiefbahnhof oder etwa auch der „(Bundestags-)Kommission Lagerung hochradioaktiver Abfallstoffe“, vulgo „Endlagerkommission“, neue (gesamtgesell­schaft­liche) „Arenen zur Stärkung der Legitimität von Großvorhaben“ brauche, denn man müsse „aus schlechten Erfahrungen lernen, aber eher politisch als rechtlich“, so die Autorin abschließend.

Rezensiert von: Holger Plank