Dr. Mirko Schulte – Die Methode der richterlichen Straftatenprävention.

Schulte, Mirko Dr.; Die Methode der richterlichen Straftatenprävention[1]; ISBN: 978-3-16-154920-5, 716 Seiten, Verlag Mohr Siebeck, Reihe: Studien und Beiträge zum Strafrecht, Band 6, Tübingen, 2016, 139 €

Der Autor ist Direktor des Amtsgerichtes Biedenkopf[2] und Lehrbeauftragter an der TH Mittelhessen. Im Vorwort seiner im Jahr 2016 an der Philipps-Universität in Marburg angenommenen Dissertation[3] erläutert er mittels einer einleitenden Sentenz von Niklas Luhmann[4] seine Be­weggründe für diese bemerkenswerte Arbeit über die praktischen Schwierigkeiten wirksamen (evidenzbasierten) Strafens – gerade auch aber nicht ausschließlich im Kontext tatursächlicher psychischer Störungen:

„Als Strafrichter hat mich stets das Unbehagen begleitet, dass in der Praxis trotz intensiver juristischer Ausbildung wesentliches Wissen und  Regeln zu den Erfolgsfaktoren rechtsstaatlicher Beeinflussung menschlichen Verhaltens fehlen könnten (…). Ich habe gelernt, dass es dabei viel zu wissen gibt, fast nichts davon im Gestz steht und auch niemand etwas übergreifend Methodisches in Kommentaren und Lehrbüchern erläutert hat. Deshalb habe ich irgendwann meine Fragen aufgeschrieben und nach Antworten gesucht (…). Das ist das Phänomen der Komplexitätsreduktion……“

 

Die Arbeit der richterlichen Straftatenprävention, so Schulte, ist aufwändig aber lohnend zugleich. Überhaupt sei eine derart verstandene Evidenzbasierung staatlichen Handelns, nicht nur auf dem Gebiet des Strafrechts als Ultima Ratio staatlichen Eingreifens in individuelle Rechte, im Rahmen regelgeleiteten Empirietransfers (bei aller Begrenztheit der Möglichkeiten empirischer Wissenschaften) in das (Straf-)Recht unabdingbar. Nur so könne die Kom­plexität der Lebenswirklichkeit mit dem zielgerichteten richterlichen Ent­scheidungszwang eines – neben der Feststellung der individuellen Schuld und des Findens einer tat- und täterangemessenen Sanktion –  auch der Sicherheit der Bürger verpflichteten handlungsfähigen Strafrechts miteinander angemessen in Ausgleich gebracht werden.

Ein sicher nicht allgemein übliches, überaus selbstreflexives richterliches Bekenntnis zu einer „Gesamten Strafrechts­wissenschaft“ im Liszt`schen Denkzusammenhang[5], bei der ganz im Sinne des Autors strafrechtliche Dogmatik und Evidenzbasierung eben keine unvereinbaren Gegensätze darstellen, vielmehr zwei sich gegenseitig ergänzende, interdisziplinäre Bestandteile eines übergeordneten Ganzen bilden.

Schulte untersucht sehr feingliedrig insbesondere die gesetzliche Steuerungsleistung und die vollziehende richterliche Methode innerhalb des Rahmens der §§ 56 ff. (Strafaussetzung zur Bewährung), 59 ff. (Verwarnung mit Strafvorbehalt; Absehen von Strafe) StGB und der §§ 136 Abs. 2 und 3 (Vernehmung zur Sache und Person), 153 a (Einstellung des Verfahrens bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen), 243 Abs. 5 (Äußerung des Angeklagten in der Hauptverhandlung) und 244 Abs. 2 (Amtsaufklärungsgebot bei der richterlichen Beweisaufnahme) StPO. Er legt dabei die Maßstäbe des Gesetzeszwecks, den Stand der empirischen Erkenntnisse der Rückfall- und Wirksamkeitsforschung und die Grundsätze allgemeiner Qualitätssicherung staatlicher Entscheidungsprozesse an. Dabei stellt der zusammenfassend fest, dass das Gesetz mit „zweckgesetzlichen Generalklauseln und unzureichender Programmatik den zeitgemäßen empirischen Mindeststandards nur noch eingeschränkt Rechnung trägt.“ Es mache „den Richter zum Ersatzgesetzgeber und überfordere ihn mit der notwendigen Etablierung einer eigenen, gesetzeskonkretisierenden Methode ausreichend empirisch bewiesener und rationaler Prognose, Diagnostik und Interventionsauswahl.“

Er hält eine allgemeine „Meta-Methode zur Organisation erfahrungs­wissenschaftlicher Prämissen und des QM im Recht“ auch für die richterliche Rezeption empirischer Erkenntnisse in das Recht unter Beachtung des Gesetzmäßigkeitsprinzips und der richterlichen Unabhängigkeit nicht nur für herstellbar sondern sogar für zwingend erforderlich. Mit Hilfe der Rezeptionsregeln einer derart verstandenen „Methode richterlicher Straftatenprävention“ könne die „Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit der strafrechtlichen Prävention messbar gesteigert werden.“ Die Grundlagen für diese Annahme belegt er in seiner Zusammenfassung ab S. 634 in insgesamt 14 gut nachvollziehbaren Thesen.

Die Arbeit besteht aus sechs Hauptkapiteln, einer dezidierten Zusammenfassung im Abschlusskapitel, bietet im Anhang mit insgesamt 14 Checklisten zur Prognose, Diagnostik, Interventionsauswahl und zum Qualitätsmanagement ausreichend Anschauungsmaterial und Hilfestellung und bietet in einem umfänglichen Literaturverzeichnis zahllose weitere Anknüpfungspunkte.

Schulte hat eine strukturell ausgezeichnet aufgebaute, nachdenkenswerte, da in ihren Thesen gut nachvollziehbare Arbeit vorgelegt und einen Ankerpunkt der Empirie mitten in die Strafrechtsdogmatik gelegt. Man kann dem Werk nur wünschen, dass es über die Fachkreise hinweg eifrig diskutiert werden wird.

[1] Vgl. Inhaltsverzeichnis auf der Verlags-Website: https://www.mohr.de/buch/die-methode-der-richterlichen-straftatenpraevention-9783161549205, zuletzt abgerufen am 12.01.2017.

[2] https://ag-biedenkopf-justiz.hessen.de/irj/AMG_Biedenkopf_Internet?cid=56b48509fa88d7cd2dfeed60d53af756

[3] https://www.uni-marburg.de/fb01/studium/studiengaenge/promotion/ankuendigungdisp.pdf/dispu_schulte.pdf

[4] „Der Entscheidungszwang transformiert Kontingenz in eine Arbeitslast, vor der man eben deshalb nicht unter Berufung auf Kontingenz ausweichen darf“, in: Luhmann, Kontingenz und Recht, 2013, S. 198.

[5] Schulte bringt v. Liszt an mehreren Stellen selbst in die Diskussion ein, bspw. in der Fn. 7 auf S. 632, wo er unter Rückgriff auf eine Forderung desselben bemängelt, dass es eine Kriminalstatistik, die nicht nur rechtsgutbezogen nach den Tatbeständen  des StGB Daten abbildet, sondern weitergehende Daten, insbesondere solche zu justiziellen Reaktionen und zu deren Wirksamkeit darstellt, mehr als 120 Jahre nach der Forderung v. Liszts immer noch nicht existiert.

Rezensiert von: Holger Plank