Chalkiadaki, Vasiliki Dr. LL.M[1]; „Gefährderkonzepte in der Kriminalpolitik. Rechtsvergleichende Analyse der deutschen, französischen und englischen Ansätze“[2]; ISBN: 978-3-658-16011-1, 472 Seiten, Springer-Verlag / Fachmedien, Wiesbaden, 2017, 54.99 €
Ausgangspunkt der Untersuchung ist der in der aktuellen sicherheitspolitischen Diskussion seit den Anschlägen vom 11. September 2001 beinahe selbstverständlich, ja fast inflationär gebrauchte sicherheitsbehördliche „Arbeitsbegriff“ des Gefährders[3], dem es jedoch angesichts aus ihm heraus begründeter potentiell schwerwiegender Eingriffe, die auf eben jener Gefahrenprognose beruhen, nach wie vor an einer Legaldefinition[4] mangelt.
„Seit den 1990er Jahren entwickelt die Polizei Praktiken für bestimmte, als gefährlich eingeschätzte Gruppen (gewaltbereite Fußballfans[5], junge Intensivtäter[6], Gewalttäter im sozialen Nahraum[7], in den folgenden Jahren seit 2007 um die Risikogruppe der haftentlassenen Sexualstraftäter[8] und zuletzt um Personen aus dem dschihadistischen Spektrum[9] ergänzt). Solche Gefährderkonzepte konzentrieren sich (nicht nur) auf die Einstufung von bestimmten Personen in sog. Gefährderdateien (und den Austausch dieser Daten unter den Sicherheits- und Verfassungsschutzbehörden) auf der Basis der Annahme, dass diese Personen künftig schwere Straftaten begehen werden“, so die Autorin in der Beschreibung des Forschungsansatzes ihrer detailreichen Studie. Sie setzt sich in ihrer Arbeit dergestalt mit der rechtlichen Gestaltung und den Praktiken zur Prävention von schwerer Gewalt auseinander, als mit derartigen Gefährderkonzepten natürlich auch eine neue (Sicherheits-) „Architektur“ implementiert wird, in der das Strafrecht in ein System der Herstellung und Bewahrung von Sicherheit eingebaut ist und damit naturgemäß die Grenzen zwischen Straf- und Gefahrenabwehrrecht verschoben werden, oder, wie in der Literaturbeilage im CILIP-Heft 112 zu lesen ist:
„Die Freiburger juristische Dissertation untersucht vergleichend die Rechtsform des „Gefährders“ in den Bereichen Fußballhooliganismus, Terrorismus und bei rückfälligen entlassenen Sexualstraftätern. Als Gemeinsamkeiten in den drei Ländern identifiziert Chalkiadaki: die Vorverlagerung der Strafbarkeit, die Nutzung gefahrenabwehrender Maßnahmen, den Ausbau von Datenerhebungen zur Gewinnung von „intelligence“ sowie die Zusammenarbeit verschiedener Behörden, die je nach Phänomenbereich unterschiedlich ausfalle. Trotz Unterschieden im Detail sieht die Autorin auch ein übereinstimmendes Verständnis von „Gefährdern“: Es handele sich um Personen, „bei denen bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass ihre Aktivitäten zukünftig eine Bedrohungslage für die öffentliche Sicherheit bzw. den Frieden der Gemeinschaft schaffen können“ (S. 445). In den drei Ländern lasse sich eine „Präferenz des Gesetzgebers“ feststellen, „Sicherheit gegen zukünftige Gefahren durch Strafrecht“ zu schaffen (S. 448). Eine solche „Prävention durch Strafrecht“ sei nur dann akzeptabel, wenn die „traditionellen Kernelemente des Strafrechts, nämlich der Bezug auf die Person, die Angemessenheit der Antwort auf das Unrecht und die Schuld, das Schutzziel, … intakt bleiben“ (S. 451 f.) – eine Bedingung allerdings, die der Natur des vorverlagerten, präventiv intendierten Zugriffs deutlich widerspricht.“[10]
Die Definitionskriterien (des rechtsstaatlich bedenklichen Begriffs[11]) des „Gefährders“, mit denen sich die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (mehrfach) gutachtlich auseinandergesetzt haben[12], oder auch der so genannten dem Gefährder nahestehenden „relevanten Person“ waren insbesondere im Hinblick auf den dschihadistischen Terrorismus in der jüngeren Vergangenheit vielfach Gegenstand parlamentarischer Anfragen. Zuletzt im Bundestag z. B. am 03.03.2017 (Antwort der Bundesregierung, Bt.-Drs. 18/11369 auf eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“, Drucksache 18/11064) oder am 06.04.2017, erneut im Rahmen einer kleinen Anfrage der Fraktion „Die Linke“ (Bt.-Drs. 18/11959), auf die die Bundesregierung mit der Drucksache 18/12196 vom 02.05.2017 antwortete und klarstellte, dass „eine (derartige) Einstufung von Personen nach dem Gefährderprogramm allein keine Rechtsfolgen auslöse (…),“ sondern vielmehr „Anlass zur Prüfung der rechtlichen Grundlagen zur Ergreifung eben solcher Maßnahmen nach den Bestimmungen des Gefahrenabwehrrechts“ hervorrufe.
Im Gegensatz zu England und Frankreich, so abschließend die Autorin in ihrem „Ausblick“, lasse sich in Deutschland das Polizeirecht (durchaus noch) als distinktes Feld des Gefahrenabwehrrechts erkennen.
Dennoch sei auch im deutschen Strafrecht (in entgegengesetzter Bewegung) eine ausgiebige Vorverlagerung der Strafbarkeit durch die Einführung von Vorbereitungs- und Vereinbarungsdelikten erkennbar, was die Tendenz des Strafrechts zu einem intensivierten Vorfeldschutz (die Autorin spricht explizit von „Prävention durch Strafrecht“ bzw. von einem §Sicherheitsstrafrecht“, S. 454) signalisiere. Neuere Entwicklungen in deutschen Gefahrenabwehrgesetzen, z. B. die Einführung von Regelungen zur einfachen Restriktion der Bewegungsfreiheit (z. B. mit einer denominativen Einführung von Aufenthaltsgeboten oder -verboten[13], im Einzelfall durch „Eskalationsmaßnahmen“ im Rahmen der notwendigen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterstützt z. B. durch die nicht mehr ganz junge, aus der „Führungsaufsichtsweisung“ nach § 68b Abs. 1 Nr. 12 StGB gegenüber haftentlassenen Sexualstraftätern entstandene elektronische Aufenthaltsüberwachung[14]) oder zur Führungsaufsichtsmaßnahmen (bei sogenannten Vollverbüßern) im Rahmen von vielfältigen Weisungen nach § 68 b StGB, die im Einzelfall wie in England (dort allerdings über sogenannte und weitgehend zivilrechtlich gestützte „orders“) zu einer weitreichend (sicherheitsbehördlich bzw. justiziell) modifizierten Ausgestaltung des Lebens der betroffenen Person führen können, nähern sich immer weiter den bereits seit längerem bestehenden Vorschriften in England und Frankreich an und es kommt auch in Deutschland zu einer Verlagerung / Verschmelzung der Grenzen zwischen Straf- und Gefahrenabwehrrecht.
Die detailreiche rechtsvergleichende Studie zeigt in beeindruckender Weise am Beispiel der drei untersuchten Länder das empfindliche Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit auf. Nachdenklich stimmt einen dabei auch, die Arbeit wurde 2015 in Freiburg als Dissertation angenommen und berücksichtigt den Rechtsstand bis September 2015, die unglaubliche legislative Dynamik im Sicherheits- und Ordnungs- wie auch im Straf- und Strafprozessrecht seither. Man möchte instinktiv mit Solons Sentenz: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!“ (aus den „Gesta Romanorum“, Cap. 103) auf diese rasante Entwicklung antworten.
[1] Promotion 2015 an der International „Max Planck Research School für Comparative Criminal Law“ mit der vorliegenden Arbeit bei Prof. Dr. Hans-Jörg Albrecht, z. Zt. Associate bei Deloitte Legal in München, zuletzt abgerufen am 04.09.2017.
[2] Website des Springer-Verlags: http://www.springer.com/de/book/9783658160104, zuletzt abgerufen am 04.09.2017 (Inhaltsverzeichnis).
[3] Zurückgehend auf eine Definition der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes („AG Kripo“) des AK II der IMK aus dem Jahr 2004.
[4] Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, „Aktueller Begriff: Gefährder“, Ausgabe 36/2008)
[5] Vgl. z. B. die beiden Buchbesprechungen von Müller-Eiselt: „Die Gewährleistung der Sicherheit bei Fußballspielen“ und Kehr: „Datei Gewalttäter Sport“ im Buch-Blog des PNL.
[6] Vgl. hierzu bspw. nur die Masterarbeit von Jan-Volker Schwind aus dem Jahr 2012 zu diesem Thema.
[7] Nach der Verabschiedung des Gewaltschutzgesetzes im Jahr 2002 haben alle Bundesländer mit enormem personellen und logistischen Aufwand hierzu Aktionspläne (vgl. z. B. nur in Niedersachsen „Wer schlägt muss gehen“) eingeführt und zumeist ihrer Polizei- bzw. Gefahrenabwehrgesetze diesbezüglich mit spezifischen Eingriffsbefugnissen (z. B. „erweiterte Platzverweise“, „banning orders“, erleichterter Gewahrsam etc. ergänzt).
[8] Vgl. zum Beispiel nur die verbindliche Einführung von „KURS“ (Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern in Niedersachsen), verkündet und verbindlich eingeführt im Ministerialblatt Nr. 27, 2010 oder „HEADS“, 2007 in Bayern eingeführt bzw. ähnliche mit Akronym bezeichnete Programme in nahezu allen Bundesländern.
[9] Seit Anfang 2017 auch hinterlegt mit einem vom BKA entwickelten fragebogengestützten Prognose- und Risikobewertungsinstrument namens RADAR-iTE.
[10] So ein kurzer Beitrag in der Rubrik Buchbesprechungen bei CILIP, Ausgabe 112 vom 09.03.2017.
[11] So bspw. Denkowski , Beitrag auf der Website der „Humanistischen Union“ vom 17.12.2009.
[12] Z. B. Aktenzeichen WD 3 – 3000 – 046/17 vom 27.02.2017, „Legaldefinition des Begriffs Gefährder“ bzw. oben Fn. 4.
[13] Z. B. § 20y BKAG neu (seit 09.06.2017 in Kraft) oder seit 01.08.2017 Art. 16 Polizeiaufgabengesetz Bayern.
[14] Z. B. § 20z BKAG neu (seit 09.06.2017 in Kraft) oder seit 01.08.2017 Art. 32 a Polizeiaufgabengesetz Bayern.
Rezensiert von: Holger Plank