Benjamin Carter Hett – Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens.

Hett, Benjamin Carter;  Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens.; Rowohlt-Verlag Reinbek 2016. 640 Seiten, ISBN 978-3498030292; 29,95 Euro

reichstagsbrand

Der Autor, Professor für Geschichte in New York, hat Jura studiert und als Rechtsanwalt gearbeitet, bevor er an der Harvard University in Geschichte promovierte. Er rollt in diesem Buch einen der größten und rätselhaftesten Kriminalfälle des 20. Jahrhunderts neu auf: den Reichstagsbrand von 1933.

„Adolf Hitler war noch keine vier Wochen an der Macht, als am Abend des 27. Februar das Reichstagsgebäude in Berlin in Flammen aufging. Kaum war das Feuer gelöscht, erließ die Reichsregierung eine Notverordnung, die einen permanenten Ausnahmezustand schuf und die bis zum Ende des Nazi-Regimes die Grundlage zur Verfolgung politischer Gegner bleiben sollte. Somit markierte der Reichstagsbrand den eigentlichen Beginn des „Dritten Reiches“. Noch am Tatort wurde der mutmaßliche Brandstifter verhaftet, der niederländische Kommunist Marinus van der Lubbe. Die nationalsozialistische Regierung behauptete umgehend, der junge Mann gehöre einer kommunistischen Verschwörung an. Doch handelte van der Lubbe wirklich auf eigene Faust, wie sich die meisten Historiker seit langem einig sind? Oder steckten die Nazis selbst hinter dem Anschlag, um ihn für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?“ (aus der Verlagsankündigung).

Benjamin Carter Hetts umfassende Auswertung der Originalquellen wirft, so der Verlag „neues Licht auf diesen Fall und entlarvt nicht nur die Schwächen der Einzeltäterthese, sondern auch, welche große Deutungsmacht NS-Seilschaften in der Geschichtswissenschaft noch lange nach 1945 hatten“. Tatsächlich ist das Buch in weiten Teilen eine politisch-historische Analyse. So ist das Buch im ersten Teil vor allem für deutsche Leser, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus einigermaßen intensiv beschäftigt haben, etwas ermüdend zu lesen, weil es (ursprünglich an eine englischsprachige Leserschaft gerichtet) viele Abläufe erläutert, deren Bedeutung für das Thema des Buches nicht direkt relevant sind, für das Verständnis der Zeit und der Rahmenbedingungen aber sehr wohl.

Für den Polizeiwissenschaftler ist natürlich vor allem die Analyse des Autors interessant, die sich auf den unmittelbaren Prozess und dort auf den Umgang mit Zeugen und Gutachtern bezieht sowie auf die Rolle der Beteiligten nach 1945. Hett macht immer wieder deutlich, dass nicht nur der politische Umgang mit dem Ereignis von konkreten Machtinteressen geprägt war, sondern dass auch das Strafverfahren gegen den niederländischen Täter Marinus van der Lubbe und vor allem der Umgang mit den Dokumenten bis in die jüngste Zeit von solchen Interessen geprägt war und ist. Selbst renommierte Historiker wie Hans Mommsen, der 1968 einen Lehrstuhl an der Ruhr-Universität Bochum bekam, und vom Spiegel als der „bedeutendste deutsche Zeithistoriker“ bezeichnet wurde[1], geraten in diesen Strudel (S. 457 ff.). Für Mommsen war es schlichtweg undenkbar, NS-Diktatur, Krieg und Judenvernichtung allein aus der Person Hitler heraus erklären zu wollen – und entsprechend artikulierte er sich auch im Kontext des Reichstagsbrandes.

Stefan Aust hatte in einem Beitrag für die „WELT“ im Juni 2015[2] anlässlich einer Veranstaltung im LKA Niedersachsen geschrieben: „Vergangenheitsbewältigung auf hannoverische Art: Niedersachsens Landeskriminalamt veranstaltet ein Symposium zur Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit. Doch die Öffentlichkeit ist davon ausgeschlossen“. Konkret ging es dort um dieses Buch von Hett und die darin behandelten Personen des Niedersächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz. So hatte Fritz Tobias zunächst im Auftrag der Behörde in Hannover den Fall untersucht. „Es ging vor allem darum, den niedersächsischen Kriminalbeamten Dr. Walter Zirpins aus der Schusslinie zu nehmen. Dieser war 1933 maßgeblich an den Ermittlungen gegen Marinus van der Lubbe beteiligt gewesen – und deshalb auch für dessen Verurteilung zum Tode mitverantwortlich.“ Aust: „Doch auch das, was Hett in seinem 2014 im renommierten Verlag Oxford University Press erschienenen Buch […] veröffentlicht hat, muss in Niedersachsen offenbar als Staatsgeheimnis behandelt werden“.

Hinweise auf mögliche weitere Täter gab es, und für van der Lubbe war es nach Ansicht der Sachverständigen kaum möglich, in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit alle Brände im Plenarsaal des Reichstages allein zu legen. Die Alleinschuldthese war aber nicht nur 1933 praktisch, sondern auch für die beteiligten Beamten, die nach 1945 wieder im Staatsdienst waren.

Das Ergebnis stellt der Autor auch in einem kurzen Interview vor, das auch Bilder vom Originalschauplatz enthält und daher sehr sehenswert ist. Verfügbar unter https://beta.welt.de/videos/video141517368/Warum-der-Reichstagsbrand-bis-heute-Raetsel-aufgibt.html

Der zweite, für die Polizeiwissenschaftler und Kriminalisten vielleicht sogar noch wichtigere Aspekt ist die Rolle der Brandsachverständigen in diesem Verfahren. Wir wissen, dass in den letzten Jahrzehnten Fortschritte in der forensischen Wissenschaft gemacht, fehlerhafte Vorgehensweisen bei Branduntersuchungen entdeckt und einige der allgemein am stärksten anerkannten Annahmen dazu, was als Brandstiftungsbeweis angesehen werden kann, als unzutreffend entlarvt wurden.[3] Ungeachtet dessen sind die Gutachten zum Reichstagsbrand und vor allem ihr Umgang damit, so wie er von Hett beschrieben wird, nicht nur historisch bedeutsam. Vielmehr macht dies auch deutlich, wie mit solchen Gutachten umgegangen werden kann und umgegangen wird (S. 488 und S. 501 ff.). Denn Brandexperten haben es von 1933 bis heute als höchst unwahrscheinlich bis unmöglich angesehen, dass van der Lubbe allein das Feuer gelegt hat (S. 513). Warum, so muss man sich fragen, wurden diese Gutachten aber immer wieder ignoriert? Hier, d.h. ab S. 509 in dem Buch von Hett, werden die wesentlichen Ergebnisse auch noch einmal sehr anschaulich zusammengefasst. Wenn Hett schreibt, dass ihm „jüngere deutsche Kollegen anvertraut (hätten), dass sie durchaus an der Einzeltäter-Theorie zweifeln, sich aber in der überschaubaren akademischen Communitas in Deutschland nicht entsprechend äußern wollen“ (S. 520), dann wirft dies kein gutes Licht auf die deutsche Wissenschaftslandschaft, ist aber für erfahrene Insider in allen Wissenschaftsdisziplinen mehr als plausibel.

Und weitere Details am Rande finden sich auch in dem Buch: Wenn Hett bspw. die Rolle des Verfassungsschutzes (und des BND) bzw. einzelner Beamter beschreibt (ab S. 462 ff.), und deutlich macht, wie tief der Verfassungsschutz in die Kontroverse um den Reichstagsbrand bis in die 2000er Jahre hinein verwickelt war, dann hat man durchaus das eine oder andere déjà-vu-Erlebnis. Dass dabei immer auch die Politik (in diesem Fall Stuttgarter Ministerien) ihre Finger im Spiel hat, erstaunt dann nicht.

Und noch etwas: Dass von der Lubbe offensichtlich nach seiner Verhaftung und bis zu seiner Hinrichtung unter Drogen gesetzt wurde, hat offensichtlich bislang kaum interessiert – auch wenn der Spiegel das bereits 1959 (!) thematisierte[4]. Und dass (am Rande?) auch ein deutscher Kriminologe an der Aufarbeitung des Verfahrens beteiligt war, wird zwar nicht in Hett´s Buch angesprochen, ist aber anderweitig dokumentiert: “Further to my report on the German stoker who testified after the war about the true perpetrators (the SS) of the Reichstag fire, I now have the details. The stoker was Heinrich Grunewald, born in 1893, and he gave his testimony to Heinz Leferenz, director of the Criminological Institute at the University of Heidelberg. “There is not the least doubt in the truth of witness Grunewald´s statement”, declared Leferenz in March 1976. It takes time, however, for truth to catch up with legend. When I was in Berlin in 1978, the German guide was still blaming the arson on Van der Lubbe. It would be interesting to know what visitors to the Reichstag are told today”[5] (Hervorh. Von TF).

Das Buch von Hett macht deutlich, dass selbst Ereignisse, die mehr als 80 Jahre zurückliegen, wert sein können, näher beleuchtet zu werden. Dass dies so gründlich und umfassend durch einen US-amerikanischen Wissenschaftler erfolgt, wirft auch noch andere Fragen auf. Lesenswert ist das Buch vor allem im zweiten Teil allemal. Vielleicht sogar als Pflichtlektüre für junge Polizeistudenten.

[1] http://www.spiegel.de/einestages/hans-mommsen-nachruf-auf-den-beruehmten-historiker-a-1061413.html

[2] https://beta.welt.de/politik/deutschland/article142133012/NS-Aufarbeitung-hinter-verschlossenen-Tueren.html

[3] S. newsletter : polizeiwissenschaft September 2016, Meldung Nr. 4

[4] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42623617.html

[5] https://waisworld.org/go.jsp?id=02a5&objectType=post&o=9647&objectTypeId=3897&topicId=166 ; s.a. Walther Hofer/Edouard Calic/Christoph Graf/Friedrich Zipfel (Hrsg.), Der Reichstagsbrand. Eine wissenschaftliche Dokumentation. Bd. 2. Mit Sachverständigen-Äußerungen v. Karl Stephan u. Heinz Leferenz. München-Berlin 1978. Ergänzte Neuausgabe in einem Band, bearb. u. neu hrsg. v. Alexander Bahar, Freiburg 1992.

Rezensiert von: Thomas Feltes