Karlhans Liebl (Hrsg.) – Empirische Polizeiforschung XX: Polizei und Minderheiten

Liebl, Karlhans (Hrsg.); Empirische Polizeiforschung XX: Polizei und Minderheiten; 230 Seiten, Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main, 2017, ISBN 978-3-86676-487-3, 24,90 €

Der Sammelband beinhaltet Beiträge der 20. Tagung des Arbeitskreises Empirische Polizeiforschung, die im Juli 2016 in Rothenburg/Oberlausitz (Sachsen) stattfand. Leider verstarb Thomas Ohlemacher, der Mitbegründer des Arbeitskreises, während der Planungen für diese Tagung. Vor diesem Hintergrund ist der Band der Erinnerung an ihn gewidmet. In dem Band sind 11 Beitrage zusammengefasst. Zu einigen Autorinnen und Autoren gibt es am Ende des Buches ergänzende Hinweise.

In dem ersten Beitrag reflektieren Asmus/Enke ihre eigene Untersuchung aus Sachsen-Anhalt über den Umgang der Polizei mit migrantischen Opfern (vgl. Asmus/Enke 2016). „Die Studie geht der Frage nach, welche Ursachen und Hintergründe die wiederholt in der öffentlichen Kritik stehende mangelnde Sensibilität der Polizei im Umgang mit migrantischen Opfern in Einsätzen bei politisch motivierter Kriminalität hat“ (S. 2). In dem Beitrag prüfen die Autoren die Belastbarkeit ihrer Interpretation der von ihnen geführten Interviews und Gruppendiskussion anhand von Untersuchungen der Meinungsforschung, der Forschung zum „Ethnic Profiling“ und zum institutionellen Rassismus (S. 5). Aus polizeiwissenschaftlicher Sicht ist die Distanz zwischen den Führungskräften und den „operativen Kräften“ (S. 10) bemerkenswert und deshalb hervorzuheben. „Die operativen Kräfte fühlen sich nur noch unter gleichgestellten Kollegen verstanden und sicher“ (S. 10). Demgegenüber zeigen die Führungskräfte ein kritisch-distanziertes Verhältnis – auch in der Außendarstellung – gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Am 19. August 2015 kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Landeserstaufnahmestelle Suhl (Thüringen). Hierüber berichtete ein Artikel in einer polizeiinternen Zeitschrift. Heike Würstl erschließt diesen Artikel mit der Methode der objektiven Hermeneutik. Sie möchte dabei „möglichst viele kontrastierende Lesarten über die Logik der polizeilichen Deutungspraxis aufstellen“ (S. 20). Der Aufsatz zeigt das Untersuchungspotenzial auf, das in der Textanalyse polizeilicher Dokumente steckt. Leider wird die Analyse in diesem Aufsatz zugunsten eines vergleichsweise langen Fazits abgebrochen. Es ist nicht unproblematisch, dass sich der Beitrag auf ein polizeiinternes Dokument bezieht, das für viele Rezipienten nicht zugänglich ist. Zudem wird auf ein Dokument des LKA Thüringen Bezug genommen, das als VS-NfD eingestuft ist und damit ebenfalls nicht verfügbar ist; dennoch wird aus dieser Verschlusssache in einer Fußnote zitiert (S. 28). Methodische Probleme für forschende Polizisten werden auch in dem Beitrag von Dirk Herzbach deutlich, der Feldforschungen in Straßburg betrieb, und einleitend bereits darauf hinweist, dass er als Polizeibeamter „zahlreiche deutsch-französische Kooperationsprojekte begleitete“ und zudem als „Koordinator der deutsch-französischen Zusammenarbeit“ agiert (S. 41). Vermutlich ergab sich dadurch die Gelegenheit, die ‚Verschlossenheit der Police Nationale auf dem Gebiet der Polizeiforschung“ (S. 41) aufzubrechen. Nicht nur deshalb wäre eine detailliertere Beschreibung und kritische Reflektion der reaktiven Forschungsmethoden wünschenswert gewesen. Inhaltlich beruht der Aufsatz auf einem laufenden Promotionsvorhaben, das die Polizeiarbeit in einem Straßburger Jugendzentrum untersucht. Es gelingt dem Autor nicht immer, den Untersuchungsgegenstand anschaulich zu erläutern. So wird beispielsweise das Angebot im Jugendzentrum Neuhof folgendermaßen beschrieben: „So gibt es Angebote in den Bereichen Individuelle Prävention und Nachsorge, Prävention durch Ansprechbarkeit, Ferienprogramme, Prävention durch Teilhabe und Aktion, Prävention an Schulen und Sport“ (S. 51). Im Fazit wird die Präventionsarbeit der Police Nationale als „sehr erfolgreich“ beschrieben; worauf dieses Ergebnis beruht, bleibt unklar (S. 56). Leider fällt der Aufsatz gegenüber den vorherigen Beiträgen auch durch mehrere Textfehler aus dem Rahmen. Gegenstand des Aufsatzes von Peter Ullrich über die polizeilichen Kategorisierungen beziehen sich auf den Binärcode, der sich zwischen dem Normalbürger und dem Krawalltouristen bewegt. Die Untersuchung basiert auf Interviews und Feldbeobachtungen von Bereitschaftspolizisten. Ullrich, der auf Probleme beim Feldzugang hinweist (S. 67), kommt zu nicht unproblematischen Ergebnissen: „Die Sichtweisen von Bereitschaftspolizist/innen auf Demonstrationen sind geprägt von Unwissen über soziale Bewegungen, schematischen Wahrnehmungen von Protestierenden und einer hegemonialen, auch in der Wertorientierung vieler Beamt/innen angelegten intuitiven sozialen Distanz“ (S. 88). Bereits Asmus/Enke weisen in ihrem o. a. Beitrag zum Umgang mit migrantischen Opfern bereits auf Anpassungsbedarf bei der polizeilichen Aus- und Fortbildung hin. Im Anschluss berichten Körner et al. über erste Ergebnisse aus einem deutsch-österreichischen Forschungsprojekt über Einflussfaktoren auf die Strafverfolgung bei Zwangsprostitution. Der Beitrag ist deskriptiv angelegt und bietet durch die häufige Bezugnahme auf das Bundeslagebild zum Menschenhandel des BKA wenig Neues. Kritisch zu bewerten ist die unreflektierte Wiedergabe der offiziellen Begründung für das Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchG) durch die Autorenschaft, als hätte es dazu nicht kontroverse Diskussionen gegeben. Dass das in Kraft treten im Aufsatz fälschlicherweise mit „im Juni 2017“ (richtig: 1. Juli 2017) beschrieben wird, mag dem Redaktionsschluss geschuldet sein. Nach dem schönen vorherigen Beitrag von Ullrich lässt eine nahezu triviale Aussage, wonach für die „nachvollziehbare Darstellung“ der Tatbestände des Menschenhandels (§§ 232 StGB alt/neu) „die Aussage des Opfers unabdingbar“ ist, die Leserschaft staunen. Richtigerweise wird darauf hingewiesen, dass es den sich illegal in Deutschland aufhaltenden Zwangsprostituierten oft schwerfällt, sich Hilfe suchend an die Polizei zu wenden; deshalb – und das fehlt im Text – gibt es Beratungsstellen und Initiativen, da im ersten Schritt die Polizei nicht immer die beste Ansprechpartnerin ist. Auf S. 115 wird dann die Gefahr beschrieben, dass vernehmende Polizisten bei bildungsfernen Opfern zu Generalisierungen neigen können. Das Modell hierzu lautet: (A) Ich vernehme ein Opfer, das mich nicht gleich versteht. -> (B) Opfer ist naiv, bildungsfern und widerspricht sich. -> (C) Ich sehe das Strafverfahren als gefährdet und reagiere direktiv, schroff. An dieser Stelle darf man jedoch davon ausgehen, dass Fälle der Zwangsprostitution regelmäßig bei Fachkommissariaten bearbeitet werden, die die entsprechenden Problemstellungen kennen sollten. Die Autorenschaft weist später selbst darauf hin, dass sich „einige Dienststellen auf Milieukriminalität […] spezialisiert haben (S. 117). Mit der „Konstruktion von Raumwissen bei der Polizei im Kontext benachteiligter Stadtteile“ beschäftigt sich Daniela Hunold. Sie hat sich in der Vergangenheit bereits mit polizeilichen Kontrollpraktiken und Raumwissen auseinandergesetzt und so stellt diese Beitrag einen „Zusammenschnitt verschiedener, bereits veröffentlichter Ergebnisse dar“ (S. 123, FN 1). Dieser gehört leider zu den kürzeren Aufsätzen in diesem Sammelband und dieses Bedauern resultiert aus zweierlei Gründen. Erstens handelt es sich um einen der überzeugendsten Beiträge. Die Prägnanz des Textes verdient Hochachtung. Zweitens verdeutlicht er anschaulich Aspekte der Entstehung und Bedeutung des polizeilichen Alltagswissens für den Raum und die hieraus sich entwickelnden Kontrollpraktiken. Hier versprechen auch die IT-basierten Kartografierungen (Precops u.a.) wenig Besserung, da dort vorhandenes Wissen weitestgehend reproduziert wird, während – und darauf weist Hunold hin – komplexere multivariate Analysen mangels Methodenwissen bei der Polizei nur wenig Verwendung finden. Hier wird ein grundlegendes polizeiliches Manko deutlich, denn die zumeist deskriptiven Lagebilder können Kausalanalysen nicht ersetzen. Die Prostitution steht dann nochmals im Fokus eines Aufsatzes. Christiane Howe nimmt dabei allerdings die „Flanierende Polizeiarbeit im Quartier“ in den Blickpunkt. Sie möchte dabei die Frage beantworten, wie die Polizei Informationen erhält und zu Wissen verarbeitet. Hierzu wurden Polizisten (es handelt sich wohl um Bürgerpolizisten oder sog. Kontaktbeamte) begleitet. Aufschlussreich dabei ist, wie Howe – auch mit Blick auf die vorherige Beschreibung von Hunold – den Wissensaustausch innerhalb der Polizei beschreibt. Der „Austausch mit Bezugnahme auf vorliegende alltägliche Erfahrungen, Erkenntnisse und vorhandenes Wissen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist ein zentrales Element der Arbeit […] Mit diesen Deutungsprozessen wird Vorliegendes und Vorgefallenes geprüft und als wahr oder richtig eingeschätzt, wird Wissen legitimiert und geltend gemacht. Fehleinschätzungen und Enttäuschungen werden durch diese kontinuierliche Reflexion minimiert“ (S. 145). Kleinere Unschärfen ergeben sich, wenn Howe die kommunikative und bürgernahe Polizeiarbeit als „zunehmend“ beschreibt. Eine Begründung für diese Aussage wäre an dieser Stelle gut gewesen. Die „Wiederbelebung des Dorfpolizisten“ (Schreiber 2011, 18) ist an sich kein neues Phänomen. „Über das Flanieren als eine Methode der empirischen Sozialforschung“ (Legnaro 2010) hätte man gerne etwas mehr gelesen. Treffend zitiert Christiane Howe zwar Hartmut Rosa; sie nimmt dabei jedoch Bezug auf den sozialen Wandel und nicht auf Rosas (hier passenderen) Schlüsselbegriff der Beschleunigung (Rosa 2005). Denn gerade der Beschleunigungsbegriff steht im Kontrast zu dem flanierenden Ordnungshüter. In einer Diskussion würde sich zudem anbieten, die Notwendigkeit (oder Zuständigkeit) der Polizei zu thematisieren. Sind diese kommunikativen und anlassunabhängigen Streifengänge im Zuständigkeitsbereich der Sperrbezirksverordnungen tatsächlich Aufgabe des Polizeivollzugsdienstes oder nicht doch diejenige der Sicherheitsbehörden bzw. allgemeinen Polizeibehörden? Ausgehend von den bekannten pragmatischen Axiomen Paul von Watzlawicks und der (irrtümlichen) These, wonach die Polizei ein Spiegelbild der Gesellschaft darstellt, prüft Lilia Monika Hirsch, weshalb es polizeilicherseits „oft zu eskalierenden Gewalt- und Konfusionsspiralen“ (S. 162) kommt. Sie nimmt an, dass „der Grad der Konfusion wächst, je weiter das Milieu des handelnden Polizisten von dem Milieu des handelnden Bürgers entfernt ist“ (S. 163). Das „angeblich hohe Vertrauen der Bürger in die Polizei“ (S. 164) wird unter Hinweis auf eine Online-Umfrage von YouGov bekräftigt. Demnach soll „ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland  […] die Aussage, sie hätten Vertrauen in zu Polizisten als ‚Freund und Helfer'“ verneinen. Hier kann man der Autorin entgegenhalten, dass ein Blick in den etablierten ALLBUS-Datensatz zu anderen Ergebnissen geführt hätte (vgl. Guzy 2015; Lauber/Mühler 2017), auf die man hinweisen hätte können. Lena Lehmann nimmt die Bodycam in den Blick, stellt wesentliche Unterschiede zu der Umsetzung in den USA heraus und richtet ihren Fokus auf die Bedeutung für das Racial Profiling. Zwei Aspekte sind hervorzuheben. Zunächst der Hinweis, wonach das erste Pilotprojekt in Hessen nicht wissenschaftlich begleitet wurde. Des Weiteren versteckt sich in der Zusammenfassung (S. 188 ff) ein noch weiter zu beleuchtender Aspekt. Die Bodycam als Mittel, dem Autoritätsverlust der Polizei entgegenzuwirken, denn in Hamburg erfolgte die Einführung der Bodycam unter anderem mit dem Hinweis auf das respektlose Verhalten gegenüber Polizisten. Auch an dieser Stelle scheint sich der Begriff der Ordnung zu etablieren und möglicherweise verschiebt sich hier auch zunehmend der Gewaltbegriff ins Vorfeld. Die soziale Benachteiligung, die sich in der PKS und der Strafvollzugsstatistik widerspiegelt, ist der Aufhänger für den lesenswerten Beitrag von Andreas Ruch. Ruch thematisiert die Diskussion, das Opportunitätsprinzip auf die polizeilichen Ermittlungen auszuweiten und erläutert den Forschungsstand zum „faktischen Opportunitätsprinzip“ (S. 202 ff). Schlüssig wird zu dem Ergebnis hin argumentiert, wonach [d]die selektive Kontroll- und Ermittlungspraxis gegenüber Personen aus einer niedrigen sozialen Herkunftsschicht […] vor allem auf gesetzgeberische und kriminalstrategische Wertentscheidungen zurückzuführen“ ist (S. 211). Auf der Grundlage von Interviews von Expertinnen und Experten widmet sich Jana Möbius abschließend dem noch wenig beachteten Thema der weiblichen Homosexualität innerhalb der Polizei.

Der vielfältig ausgerichtete Sammelband kann in der Gesamtschau empfohlen werden. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge von Ullrich, Hunold und Ruch. Für den Rezensenten sind bei Sammelbänden auch die abschließenden Autorenhinweise von Interesse; in diesem Band fehlen jedoch einige Autorinnen und Autoren. Für eine Neuauflage wäre ein nochmaliges Korrektorat wünschenswert. Dabei sollten auch die nicht immer vollständigen Literaturverzeichnisse ergänzt werden (z. B. Hunold, Möbius).

Verwendete Literatur

Asmus, H.-J.; Enke, T.: Der Umgang der Polizei mit migrantischen Opfern. Eine qualitative Untersuchung, Wiesbaden, 2016

Guzy, N.: Vertrauen in die deutsche Polizei: Risikogruppen und Einflussfaktoren, in: Die kritisierte Polizei, hrsg. von Bernhard Frevel und Rafael Behr, Frankfurt am Main, 2015, S. 13 – 35

Lauber, K.; Mühler, K.: Ist das Vertrauen in die Institution Polizei eine Folge politischer Orientierungen? Manuskript, eingereicht – noch unveröffentlicht, Leipzig, 2017

Legnaro, A.: Über das Flanieren als eine Methode der empirischen Sozialforschung. Gehen – Spazieren – Flanieren, in: sozialersinn, 2/2010, S. 275 – 288. Verfügbar unter: www.wiso-net.de/document/SOSI__194B0CD9DCF2FEF20E92FA04963162DA. Abgerufen am: 21.05.2017.

Rosa, H.: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main, 2005

Schreiber, V.: Fraktale Sicherheiten. Eine Kritik der kommunalen Kriminalprävention, Bielefeld, 2011

Rezensiert von: Karsten Lauber