Dressler, Janina Lara Dr.; Gewalt gegen Rettungskräfte. Eine kriminologische Großstadtanalyse; ISBN: 978-3-643-13681-7, 301 Seiten, LIT Verlag, Reihe: Kriminalwissenschaftliche Schriften, Band 54, Berlin, 2017, 39,90,-€
Bei der Monographie mit dem Titel „Gewalt gegen Rettungskräfte. Eine kriminologische Großstadtanalyse“, erschienen in der Schriftenreihe Kriminalwissenschaftliche Schriften des LIT Verlags, handelt es sich um die Dissertationsschrift der Autorin Dr. Janina Lara Dressler, betreut am Kriminologischen Seminar der Universität Bonn. Diese befasste sich im Rahmen ihres Promotionsvorhabens mit einer Erhebung in den Großstädten Berlin, München, Hamburg und Köln zu den Gewalterfahrungen von Rettungskräften für einen Bezugszeitraum von einem Jahr, 2014.
Das eingangs im Rahmen der Einleitung bzw. Kapitel 1 erklärte Ziel der Forschungsarbeit bestand insbesondere darin, herauszufiltern, ob es sich bei Gewalt gegen Rettungskräfte lediglich um ein subjektiv empfundenes Phänomen handelt oder ob hier ein tatsächliches Problem besteht. Zudem sollte anhand der Ergebnisse bestimmt werden, an welchen Stellen Handlungsbedarf hinsichtlich wirksamer Vorsorgemaßnahmen besteht.
Im zweiten Kapitel geht die Autorin auf den bereits bestehenden Kenntnis- und Forschungsstand zum Thema Gewalt gegen Rettungskräfte ein. Hier werden zunächst Hellfelddaten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) der Jahre 2011-2015 herangezogen, die bereits einen Anstieg der Übergriffe auf Rettungspersonal andeuten. Im Folgenden erfolgt eine nähere Betrachtung der PKS des für die Erhebung relevanten Bezugszeitraums 2014 unter Hinzuziehung des Bundeslagebilds „Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte“, welches einen Rückgang der Betroffenheit gleichgestellter Personengruppen wie Rettungskräfte bei jedoch hoher Gewaltintensität herausstellt.
Des Weiteren beleuchtet die Autorin auch die strafrechtliche Bewertung von Gewaltübergriffen auf Rettungskräfte. Insbesondere steht hier erwartungsgemäß der 2011 auf Rettungskräfte ausgeweitete Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 StGB im Fokus. Zudem stellt die Autorin fest, dass für die Forschung zu diesem Thema zunächst kein feststehender Gewaltbegriff hilfreich ist. Vielmehr geht es darum, anhand des Erhebungsinstruments bestimmte Handlungen abzufragen, die für den objektiven Beobachter eindeutig unter die Kategorie Gewalt fallen (z. B. Beschimpfungen, Schubsen, Treten, Schlagen).
In methodischer Hinsicht handelt es sich bei Dresslers Forschungsprojekt um eine Online-Befragung, die es ermöglicht, einen breiten Adressatenkreis zu erreichen. Positiv hervorzuheben ist die Selbstreflexion der Autorin im Rahmen mit Blick auf die methodische Ausgestaltung der ihrer Dissertation zugrundeliegenden Erhebung. Richtigerweise stellt sie fest, dass es mittels einer nicht personalisierten Online-Befragung nicht möglich ist, eine Rücklaufquote zu beziffern, da man nicht wisse, wie viele Adressaten man tatsächlich erreicht habe. Dieses Vorgehen sei insbesondere den verzweigten Organisationsstrukturen der Rettungsdienste in den teilnehmenden Großstädten geschuldet. Nicht ganz deutlich wird leider, ob die mehrfache Teilnahme durch ein und denselben Teilnehmer möglich war oder ob dies auszuschließen war.
Die anschließende Auswertung der Ergebnisse in Kapitel 5 erfolgt deskriptiv unter Nennung von Häufigkeitszahlen. Insgesamt haben 1659 Adressaten aus den verschiedenen Großstädten an der Online-Befragung teilgenommen.
Hinsichtlich verbaler Übergriffe auf Rettungspersonal lässt sich auch in Dresslers Studie ein mit anderen Erhebungen vergleichbares Bild der Betroffenheit zeichnen.[1] Von den Befragten der verschiedenen Großstädte, gaben 88,9 % bis 96,9 % an, im Jahr 2014 Opfer eines verbalen Übergriffs (Beleidigung, Beschimpfung, Bespucken) geworden zu sein.[2]
Zu strafrechtlich relevanter, körperlicher Gewalt gegen Einsatzkräfte errechnet die Verfasserin Fallzahlen, um die Häufigkeit dieser Vorkommnisse für die gesamte Stichprobenpopulation beziffern zu können. Insbesondere mit Blick auf den Adressatenkreis, der nicht ausschließlich mit den Methoden der empirischen Sozialforschung vertraut ist, fällt die Erläuterung des Nutzens der Berechnung von Fallzahlen und deren Zustandekommen etwas zu knapp aus. Zwar spiegelt sich vor allem hier, das notwendige sozialwissenschaftliche Fundament dieser Forschungsarbeit wider, jedoch vermisst der Leser eine auf der Hand liegende Vergleichsmöglichkeit mit den Ergebnissen zur Betroffenheit durch verbale Übergriffe, was unter anderem daran liegen mag, dass verbale Gewalterfahrungen nicht beschränkt auf die letzten 12 Monate erhoben wurden. Zieht man die errechneten Opferzahlen heran, so ergibt sich eine körperliche Gewaltbetroffenheit von 55,5 % der Befragten für das Jahr 2014.[3]
Interessant ist die Erhebung der Worst-Case-Erfahrung der Studienteilnehmer. Hier zeichnet sich ab, dass die überwiegende Zahl der schlimmsten Vorfälle im Einsatzleben der Befragten nicht mit Verletzungen einhergehen. Hinsichtlich der Vorhersehbarkeit des Übergriffs stellten sich etwa 50 % der Fälle so dar, dass die Dienstlage bereits angespannt war, was jedoch den Überraschungseffekt des Übergriffs nicht minderte. Nur etwa 10 % der Befragten gaben an, dass sie zuvor mit dem Übergriff rechnen konnten.
Hinsichtlich der rechtlichen Folgen der Worst-Case-Erfahrung der Befragten zeigt sich, dass nicht einmal die Hälfte der Übergriffe in die Einsatzdokumentation aufgenommen wurden, lediglich 28,6 % der Übergriffe bei der Dienststelle gemeldet wurden und gerade einmal 21,7 % der Befragten Strafanzeige erstattet haben. Die Befragten gaben mit 37 % an, aus ihrer schlimmsten Gewalterfahrung im Einsatz keinerlei Konsequenzen gezogen zu haben. Folgerichtig plädiert die Autorin für die Einführung eines umfassenden Meldesystems, welches eine direkte statistische Erfassung von Übergriffen auf Rettungskräfte ermöglicht.
Neben Worst-Case-Erfahrungen hat Dressler zudem allgemeine Einschätzungen der Stichprobenteilnehmer zu Tätern, Tatmotiven und Tatorten erhoben. Verkürzt dargestellt zeigt sich, dass der Täter in etwa 70 % der Fälle der Patient selbst oder eine Person aus dem Kreis der Angehörigen bzw. Freunde ist. Über 60 % gaben an, dass der Täter in den meisten Fällen 20-29 Jahre alt ist und aus sozial schwächeren Verhältnissen stammt. Auch der Aussage, dass es viele Konflikte gebe, in denen der Migrationshintergrund des Täters eine Rolle spiele, stimmten die Befragten mehrheitlich zu. Nicht bewahrheiten konnte sich jedoch die Hypothese, dass eine überhebliche Form der Respektlosigkeit gegenüber Rettungskräften in bürgerlichen Gegenden besonders auffällig sei. Im Gegensatz zu anderen Studien zeichnet sich hinsichtlich der Tatmotive für Übergriffe auf Rettungspersonal hier ein anderes Bild ab. Insbesondere wurde der Mangel an Respekt als Tatmotiv angegeben, wohingegen die Unzufriedenheit mit den medizinischen Maßnahmen oder der Auswahl des Krankenhauses nur geringfügig eine Rolle zu spielen scheinen. Im Anschluss an die Darstellung der Täter nähert sich Dressler durch kriminaltheoretische Erklärungsansätze einer Ursache für das Zustandekommen der übergriffigen Situationen an. Besonders positiv fällt auf, dass ebenso eskalationsförderndes Verhalten des Rettungspersonals in die Betrachtung einbezogen wird. Als Tatort für Übergriffe werden in allen Städten soziale Brennpunkte, Partymeilen oder die Innenstadt angegeben.
Bezüglich der erhobenen Folgen von Übergriffen im Einsatz haben 17,9 % der Befragten haben angegeben, dass Übergriffe für sie folgenlos seien. 66,3 % verspüren Wut und Zorn, bei 53,6 % führten Übergriffe dazu, dass Vorurteile bestätigt wurden.
Die Annahme, dass der Austausch über Gewalterfahrungen mit Kolleginnen und Kollegen ein Tabuthema unter den Rettungskräften sei, kann nicht bestätigt werden. Die überwiegende Mehrheit der Befragten hat diese Hypothese verneint.
Interessant ist zudem, dass die Mehrheit der Befragten angegeben hat, die Zusammenarbeit mit der Polizei bei der Gefahrenabwehr am Einsatzort funktioniere gut, wenngleich das Rettungspersonal in den meisten Fällen noch vor der Polizei am Einsatzort ist. Zudem scheint nach Angaben der Befragten die Kommunikation mit der Leitstelle in der Hinsicht gut zu funktionieren, dass diese bereits eine Einschätzung der Lage vor Ort an das Einsatzpersonal übermitteln kann.
Dressler befasst sich im Rahmen ihrer Erhebung zudem mit dem aktuell vieldiskutierten Thema der Aufzeichnung der Einsätze mit Mobiltelefonen durch Gaffer. Die Mehrheit der Befragten geben an, dass dies ein zunehmendes Problem darstelle, welches sich belastend auf die Rettungstätigkeit auswirke.
Dressler stellt zudem heraus, dass es sich bei dem Phänomen Gewalt gegen Rettungskräfte um kein typisch deutsches Problem handle. In westlich geprägten Ländern insgesamt sei ein Anstieg der Respektlosigkeit und des Aggressionspotenzials gegenüber Rettungskräften erkennbar.
Entsprechend dem Wunsch der Befragten nach mehr Ausbildung in Bezug auf eskalierende Einsatzsituationen schlussfolgert Dressler, dass Einsatzkräfte besser geschult in den Einsatz gehen sollten. Trainings in Eigensicherungs-, Deeskalations- und Selbstverteidigungstechniken könnten die Rettungskräfte insbesondere vor dem Hintergrund ihrer im Rahmen der Studie nicht sonderlich positiv evaluierten Ausbildung besser auf eskalierende Einsatzsituationen vorbereiten. Präventiv sollten überdies nicht nur die Rettungsdienste selbst arbeiten. Insbesondere im Kindesalter könnte sich eine Vorbereitung auf Notfallsituationen und dem damit verbundenen Umgang mit Rettungspersonal langfristig positiv auswirken. Maßnahmen die Einsatzausrüstung der Einsatzkräfte betreffend sind mit Vorsicht zu behandeln. Bereits die in Deutschland teilweise erfolgte Einführung von stich- und schusshemmenden Schutzwesen wurde kontrovers diskutiert und insbesondere von den Rettungskräften selbst häufig negativ kritisch gesehen.
Abschließend kann für die Forschungsarbeit von Janina Lara Dressler eine klare Leseempfehlung ausgesprochen werden. Der Autorin gelingt es, mit ihrer Dissertationsschrift einen wichtigen Beitrag zu einem noch zu wenig erforschten Kriminalitätsphänomen zu leisten. Ihre Erhebung sowie die Auswertung sind durchdacht und bieten ein umfassendes Bild zumindest in Bezug auf die Lage in den befragten Großstädten. Insbesondere für Unfallversicherungsträger und weitere für den Rettungsdienst verantwortliche Träger ist die Lektüre ein Muss, um Präventions- und Nachsorgemechanismen überdenken zu können.
[1] Bspw. Schmidt, Gewalt gegen Rettungskräfte, S. 7.
[2] Dressler, Gewalt gegen Rettungskräfte, S. 82.
[3] Ebenda, S. 116.
Rezensiert von: Marvin Weigert