Klaus Dörner, Ursula Plog, Thomas Bock, Peter Brieger, Andreas Heinz, Frank Wendt – Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie;

Dörner, Klaus; Plog, Ursula; Bock, Thomas; Brieger, Peter; Heinz, Andreas; Wendt, Frank; Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie; 992 Seiten, ISBN 978-3-88414-610-1, 24., vollständig überarbeitete Auflage 2017, Psychiatrie-Verlag Köln, 39,95 €

Die Tatsache, dass ein medizinisches Lehrbuch in der 24. Auflage erscheint, ist an sich nicht weiter verwunderlich – Pschyrembel´s Klinisches Wörterbuch erscheint inzwischen (2017) in der 267. Auflage. Davon können juristische und vor allem kriminologische Lehrbücher nur träumen, sieht man von Schwind´s Lehrbuch, das nun in der 23. Auflage erschienen ist, einmal ab.

Der Titel des Buches, die Formulierung „Irren ist menschlich“, ist eigentlich jedem bekannt. Sie geht auf die lateinische Redewendung „errare humanum est“ zurück (auch das dürfte zumindest denen, die ein großes oder kleines Latinum haben, bekannt sein), die so jedoch nicht vollständig wiedergegeben ist. Vollständig lautet der Ausspruch wie folgt: „Errare (Errasse) humanum est, sed in errare (errore) perseverare diabolicum.“ was wie folgt übersetzt wird: „Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch.“[1] Und insofern ist der Buchtitel durchaus doppeldeutig: Die Irrtümer der frühen Psychiatrie sind eine Sache, auf ihnen zu bestehen, wäre teuflisch. Denn nicht nur die (umstrittenen) Bewegungen der Antipsychiatrie und die (weniger umstrittenen) der Sozialpsychiatrie haben deutlich gemacht, dass Begriffe wie Verrücktheit und psychische Normalität keine objektiven Diagnosen, sondern subjektive Urteile mit gesellschaftlichen und politischen Wirkungen sind. Und nach Foucault wird die Abgrenzung zwischen Normalität und Verrücktheit sogar zur gesellschaftlichen Kontrolle benutzt. Umso wichtiger ist es sich immer wieder mit der Frage zu beschäftigen, was ist „normal“ an unserer Normalität und was nicht – und was muss behandelt werden, und wenn ja, wie?

So banal und allgemein be- und anerkannt dieser Ausspruch des „Irren ist menschlich“ ist, so wenig wurde er in der Realität tatsächlich beherzigt, denn bis in die 1980er Jahre hinein (und teilweise auch noch darüber hinaus) wurde „Irre Sein“ als etwas unnatürliches, teilweise sogar Teuflisches, in jedem Fall als etwas gesehen, was aus der Gesellschaft aussortiert gehört. Noch heute sind die meisten psychiatrischen Kliniken nicht in den Städten (wo man sie leicht erreichen könnte), sondern auf dem flachen Land, fernab unserer Wahrnehmung. Ein Schicksal, das sie übrigens mit vielen Gefängnissen teilen.

Inzwischen haben wir glücklicherweise eine etwas aufgeklärtere Auffassung von psychischen Erkrankungen, vielleicht auch deshalb, weil psychische Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit sind und wir bundesweit von rund einem Drittel der Bevölkerung ausgehen können, das mindestens einmal im Jahr eine oder mehrere klinisch bedeutsame psychische Störungen aufweist[2].

Auch in der Strafverfolgung ist der Umgang mit psychiatrisch gestörten oder kranken Menschen noch immer umstritten[3] und zuletzt am Beispiel des polizeilichen Schusswaffeneinsatzes bei psychisch gestörten Personen diskutiert worden[4].

Erst die 1968er Aufbruchstimmung sorgte dafür, dass der überkommene Umgang mit psychisch kranken Menschen hinterfragt wurde und neue Modelle z.B. gemeindenaher Psychiatrie entwickelt und die geschlossene Psychiatrie teilweise sogar abgeschafft wurde[5].

Wenn der Verlag dann das vorliegende Werk (auf der hinteren Umschlagseite) mit den Worten ankündigt: „Die neue Generation für eine bessere Psychiatrie: Seit fast 40 Jahren prägt »Irren ist menschlich« mit klaren Positionen die Versorgung psychisch erkrankter Menschen – genauer gesagt: die Menschen, die psychiatrisch arbeiten, aber auch das Selbstbewusstsein derjenigen, die in irgendeiner Weise von psychischen Störungen betroffen sind“, dann trifft dies genau den Punkt: Das Buch ist Pflichtlektüre für alle, die in und um die Psychiatrie herum, ambulant oder stationär, ständig beruflich oder hier und da zufällig tätig sind oder mit psychischen Störungen konfrontiert werden. Da dazu auch Polizeibeamte gehören, kann man dieses Werk getrost auch ihnen empfehlen – zumindest sollten alle Bibliotheken der polizeilichen Ausbildungsstätten es vorhalten, und die (zu wenigen) Psychologen, die bei der Polizei tätig sind, sollten es im Regal stehen haben.

Im Buch selbst werden nicht nur die einschlägigen, bekannten Störungen vorgestellt und anhand von Beispielen erläutert; vielmehr werden alle relevanten Aspekte von der Diagnose bis zur Behandlung (einschl. der Selbst-Therapie) gleichermaßen verständlich wie wissenschaftlich fundiert behandelt. Insofern kann das Buch auch für diejenigen lesenswert sein, die direkt oder indirekt, im Familien-, Freundes-, Bekannten- oder Kollegenkreis mit psychischen Störungen konfrontiert sind. Allein das Erkennen der entsprechenden Störung, der oftmals für außenstehende unverständlichen Artikulation und des „merkwürdigen“ Erscheinungsbildes kann in vielen Fällen helfen zu verstehen – und aus dem Verstehen heraus zu analysieren und angemessen zu handeln. So hilft z.B. das Kapitel „Der für sich und andere gefahrvolle Mensch“ (S. 521 ff.) dabei, Verhaltensweisen von als gefährlich wahrgenommenen Personen zu verstehen (Beispiele aus dem Polizeialltag gibt es genug[6]) und zu interpretieren und darauf aufbauend sich richtig zu verhalten. Auch das Kapitel über Krisen und Krisenintervention (S. 493 ff.) ist hilfereich bei ebendiesen (eigenen und fremden). Abgeschlossen wir das Buch durch mehrere Kapitel, die sich mit Behandlungs“techniken“ beschäftigen.

Spannend ist auch, dass das Buch eine „Gebrauchsanweisung“ enthält: Ab S. 19 wird beschrieben, wie man das Buch lesen soll, was die Philosophie hinter dem Buch und wie der Aufbau des Buches ist. Und schön auch, dass es eine Website gibt (http://www.irren-ist-menschlich.de/), auf der man sich vor dem Kauf über das Buch ausführlich informieren kann. Ein guter Service des Verlages, der beispielhaft ist. Dort findet sich auch ein Streitgespräch zwischen Klaus Dörner und Peter Brieger. Mehr als 30 Jahre Altersunterschied trennen die beiden Psychiater, die sich wegen der Neubearbeitung des Lehrbuchklassikers »Irren ist menschlich« immer wieder getroffen, auseinandergesetzt, manchmal gestritten haben. Sie geraten in einen spannenden, lesenswerten Diskurs, der vieles über die Entwicklung der Psychiatrie zeigt.

Um Klaus Dörner, einen der Pioniere der kritischen Psychiatrie, und Ursula Plog (die leider 2002 verstarb) versammelt sich ein hochkarätiges Herausgeber- und AutorInnenteam. Entstanden ist ein einmaliges Lehrbuch. Es liefert das ausbildungsrelevante Wissen über psychische Krankheiten, therapeutische Ansätze und Methoden, wissenschaftliche Grundlagen und den gesellschaftlichen Kontext – verständlich, kritisch, differenziert. Der anthropologisch fundierte Diskurs zu Krankheitsmodellen, Diagnosen und Therapien ergänzt das Wissen über die verschiedenen Störungsbilder. Ein Standardwerk der Sozialpsychiatrie, das wahrlich Begrenztheiten überwindet und mitten in der Realität steht.

[1] https://de.wiktionary.org/wiki/Irren_ist_menschlich

[2] https://www.aerzteblatt.de/archiv/134430/Psychische-Erkrankungen-Hohes-Aufkommen-niedrige-Behandlungsrate ; https://www.seelischegesundheit.net/aktuelles/2-kurzmeldungen/341-psychische-erkrankungen-ursachen-praevalenz-und-auswirkungen-auf-die-arbeitsfaehigkeit

[3] S. dazu die Besprechung des Buches von Nedopil, Jeder Mensch hat seinen Abgrund. Spurensuche in der Seele von Verbrechern, durch Holger Plank unter http://polizei-newsletter.de/wordpress/?p=583

[4] Vgl. das Interview mit mir in der taz vom 17.05.2017, http://www.taz.de/!5408530/

[5] Vgl. die Meldung des PNL aus dem Jahr 2015: „Nachdem in Triest bereits die geschlossene Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern abgeschafft wurde, soll dies nun in ganz Italien geschehen. Eine Bestandsaufnahme (auch mit Bezug zur Anti-Psychiatrie-Bewegung um Basaglia aus den 1970er Jahren) findet sich unter http://arbeit.psychiatrische-landschaften.net/?page_id=10http://polizei-newsletter.de/newsletter_german_search_show_article.php?N_ID=3989

[6] Fall Neptunbrunnen und Berlin: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-11/berlin-neptunbrunnen-polizei-schuss-toter ; weitere (zu viele und auch aktuelle) Beispiele findet man, wenn man bei Google eingibt: „Polizei erschießt psychisch Kranken“.

Rezensiert von: Thomas Feltes