Stefan Reinecke – Ströbele. Die Biografie

365) Reinecke, Stefan; Ströbele. Die Biografie; Berlinm Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin / München 20165, ISBN 978-3-8270-1281-4, 24.– €, 464 S.

stroebele

Viele Zeitgenossen von Christian Ströbele werden dieses Buch immer wieder verärgert beiseitelegen müssen, weil sie die Darstellung der Rahmenbedingungen teilweise unerträglich finden und die selbstherrlichen Analysen und abenteuerlichen Interpretationen des 1959 geborenen Autors in völligem Widerspruch zur eigenen Wahrnehmung der jeweiligen Epoche stehen.

Das beginnt mit der Beschreibung der Kindheit von Ströbele, in der die Leserinnen und Leser zwar eine ganze Menge über die gesellschaftlichen Bedingungen während des zweiten Weltkriegs und die Jahre danach erfahren, aber wenig über Ströbele selbst. So ähnlich kann man es bereits in der 2003 erschienenen „Schily Biografie“ des gleichen Autors lesen.  Wie die Familie Ströbele diese Zeit erlebt haben könnte, wird nur angerissen, weil dem Autor authentische Aussagen fehlen. So muss er denn auf Aussagen von Schulfreunden zurückgreifen oder auf Informationen über populärere Verwandte wie den Radio-Reporter Herbert Zimmermann, wobei er auch da nur spekulieren kann, was der Soldat Zimmermann von den Ereignisse in seiner Umgebung mitbekommen haben könnte (S. 31, 33). Übrig bleibt, dass Christian Ströbele mit 16, 17 Jahren ein paar Sachen gut, außergewöhnlich gut könne: „Er kann hartnäckig sein. Er kann gut reden und argumentieren. Und er kann schweigen.„  (S. 47). Hinzu kommt die nicht gerade individualtypische Feststellung, dass Verstöße gegen das Erlaubte in dieser Zeit typisch pubertäres Austesten der Grenzen, die durch Überschreiten erkundet werden, gewesen seien. „Sie sind auch Protestzeichen gegen die Autoritäten, deren Erwartungen er nicht genügt.“ (S. 53)

Ähnlich verhält es sich mit der Darstellung der Zeit bei der Bundeswehr, die Reinecke als Urszene des RAF-Verteidigers Ströbele beschreibt, der auf Schläge mit Gegenschlägen antworte und nach dem Motto: mit den Regeln gegen die Autoritäten agiere (S. 64, 66).

Die folgenden vier Kapitel (Die Radikalisierung. 1967 bis zum 1. Mai 1969; Der Aufstieg. 1. Mai 1969 bis 1972; Der Anwalt der RAF. 1972 bis 1975; Der Verteidiger auf der Anklagebank. 1976 bis 1982) strotzen von Psychologisierungen bezüglich Ströbele und Pathologisierungen der Studentenbewegung. Aus Sicht von Reinecke ist die Bundesrepublik in den Jahren 1968/69 eine „liberale Demokratie, sie kann ohne Gewalt verändert werden.“ Auf dieser Grundlage sieht er die Überzeugung von Ströbele und der Studentenbewegung, dass die Bundesrepublik eine Revolution brauche, als „Wahrnehmungsverzerrung des radikalen Teils der Apo.“ (S. 105). Die Erschießung von Benno Ohnesorg am 02. Juni 1967, 5.000 Verfahren gegen Demonstrationsteilnehmer wegen Bagatelldelikten wie kurzfristigen Straßenblockaden, die Verabschiedung der Notstandsgesetze, das Attentat auf Rudi Dutschke oder der Umgang der Justiz mit Nazirichtern  fechten ihn in dieser Einschätzung nicht an, obwohl er diese Beispiele für autoritäres Staatsverhalten selbst anführt. Für ihn ist der Staat „1970 nicht der monolithische Block, den die linke Szene fantasiert.“ (S. 113) Als Beleg dafür dient ihm die Amnestie von 1970. Der Umstand, dass erst die völlig überzogene Einleitung von 5.000 Strafverfahren wegen geringfügiger Demonstrationsvergehen, Rektoratsbesetzungen und Ähnlichem ausnahmsweise einmal Anlass für eine echte Amnestie in der Bundesrepublik war, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass in den siebziger Jahren Tausende von Studierenden wegen ihrer politischen Einstellungen und/oder Aktivitäten von Berufsverboten durch den sog. Radikalenerlass bedroht waren, für Reinecke eine beiläufig erwähnte bedauerliche Übertreibung der Abwehr einer liberalen Demokratie gegen totalitäre Angriffe (S. 201).

Die Bundesrepublik war in den 60er und 70er Jahren kein liberaler Rechtsstaat, sondern zunächst in Schulen, Bundeswehr, Justiz und Politik  von Nazis durchsetzt und später von der Auseinandersetzung mit der RAF geprägt mit dem Ziel, abweichendes Verhalten soweit als möglich auszuschalten.

Ähnlich einäugig betrachtet Reinecke die Entwicklung der RAF. Die RAF war keine Spontanerfindung durchgeknallter Idioten, sondern konnte nur auf Grundlage der repressiven Strukturen in der Bundesrepublik entstehen. Holger Meins war ein vielversprechender Filmstudent (vgl. dazu den Film „Starbuck Holger Meins“ von Gerd Conradt, 2001). Wie Reinecke zugestehen muss, war Ulrike Meinhof in den 60er-Jahren „die scharfsinnigste Publizistin der Neuen Linken“, was er sogleich mit dem Hinweis relativiert, sie „gehörte zur linksliberalen Hamburger Schickeria“ (S. 165). Ihre Kolumnen in der „Konkret“ zur Klassenjustiz oder der Film „Bambule“ über die repressive Heimerziehung waren wegweisend für eine Generation von jungen Menschen, die nach den Ereignissen seit 1967 nicht mehr daran glaubte, dass „systemimmanente“ Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen etwas verändern würde, sondern dass allenfalls durch Provokation die für Änderungen erforderliche Aufmerksamkeit gewonnen werden könne, sei es im kulturellen oder politischen Bereich. Reinecke führt in seinem Buch zahlreiche Beispiele für Strategien in Gerichtsverfahren und anderswo an, in denen mit Mitteln von Ironie und Phantasie das  „System vorgeführt“ wurde. Selbst in der Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahre oder den Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluss galt „ziviler Ungehorsam“ als unabdingbare Voraussetzung, wahrgenommen zu werden, und in dem Widerstand gegen die Atomendlagerung in Gorleben lebt dieser Politikansatz, durch den mehr Veränderung in der Gesellschaft erreicht worden ist als durch noch so viele sachliche Debattenbeiträge, fort. 1968 haben Zimmervermieter noch Besuchsverbote für das jeweils andere Geschlecht verhängt, weil sie Anklagen wegen „Kuppelei“ befürchteten, haben Frauenärzte die Anti-Baby-Pille nur verheirateten Frauen verschrieben. Diese Zusammenhänge interessieren den Autor nicht oder sie sind ihm als „Nachgeborenen“ nicht bekannt. Insofern ist die RAF auf der Basis der Apo entstanden und hat selbst nach dem Schleyer-Attentat 1977 noch Unterstützung erfahren (Stichwort: „Mescalero“ und anschließende Reaktion des Staates). In diesem Zusammenhang davon zu sprechen, dass die RAF-Gefangenen die Anwälte und insbesondere Ströbele instrumentalisiert hätten, ist abwegig, weil die Anwälte vor allem wegen der sie unmittelbar betreffenden Einschränkungen von Verteidigerrechten durch den Gesetzgeber auf die Barrikaden gingen. Und selbst die von Reinecke als besonders „leichtsinnig“ bezeichnete Etablierung des Info-Systems der RAF-Gefangenen (S. 217) war in der linken Anwaltschaft als notwendig erachtet worden, um dem neu eingeführten Verbot der Mehrfachverteidigung in Kollektivverfahren etwas entgegen setzen zu können. Wenn in einer Talk-Show im deutschen Fernsehen am 29.05.2016 ein türkischer Abgeordneter der AKP süffisant darauf verweisen darf, dass wegen 34 Terrorismustoten in der BRD eine Nachrichtensperre durchgesetzt werden konnte, dann zeigt das, wie disponibel Grundrechte sind. Insofern ist das von Reinecke entwickelte Bild von Christian Ströbele, die Repression des Staates „mobilisiere in ihm jenes wütende Gerechtigkeitsempfinden, das er zu Hause verspürte, wenn ihn sein Vater rüffelte wegen etwas, das er nicht angestellt hatte“ (S. 110) aus der Luft gegriffen. Nicht vermeintlich frühkindliche Erfahrungen haben das Verhalten von Christian Ströbele in dieser Zeit geprägt, sondern die von vielen geteilte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität.

Im folgenden Kapitel 7 (Vom Terrorismus über die taz ins Parlament. 1978 bis 1987) kann Reinicke endlich über einen Bereich schreiben, in dem er sich als Redakteur der „taz“ auskennt. Zwar fehlen hier sämtliche Auskünfte über den Vorläufer „ID“ (Informationsdienst über unterbliebene Nachrichten), ohne den das Projekt einer alternativen Tageszeitung nicht denkbar gewesen wäre, aber zur Entstehung der „tageszeitung“ (taz) verfügt der Autor über hinreichendes Material, um adäquat zu berichten. Aber selbst in diesem Kapitel kommt Reinecke nicht ohne wilde psychoanalytische Spekulationen aus, sobald es um die Auseinandersetzung der „Neuen Linken“ mit dem Nationalsozialismus oder den imperialistischen Aktivitäten der USA geht. Die Studentenbewegung war kein „Kampfplatz der ödipalen Revolte, des Aufstands der 68er gegen ihre Eltern“ (S. 297), sondern fußte auf den zunehmenden Erkenntnissen über das im Geschichtsunterricht in den Schulen bis dahin weitgehend ausgeblendete NS-Regime und die weiterhin in der Bundesrepublik aktiven Repräsentanten dieses Regimes. Die Kritik an den USA wiederum speiste sich nicht aus einem „nur verschlüsselt aussprechbaren Entschuldungswunsch der Kriegsverlierer“ (S. 301), sondern aus den Erkenntnissen über die von den USA in Vietnam, Mittelamerika und dem Irak geführten Kriege, wobei gegen den Golfkrieg 1991 Hunderttausende protestierten.

Schließlich erliegt Reinecke auf Grundlage seines psychologisierenden Ansatzes auch bei der Beurteilung der politischen Arbeit Ströbeles bemerkenswerten Fehleinschätzungen. Dazu ein letztes Beispiel: Reinecke wirft Ströbele vor, Rechtspolitik prinzipiell aus der Perspektive des Verteidigers zu denken, weil er sich 1986 im Rahmen der Diskussion um das Antidiskriminierungsgesetz gegen eine härtere Bestrafung ausspricht („Ich kann mich nicht überall gegen Gefängnisse und für niedrigere Strafen einsetzen und hier eine Verschärfung mittragen.“ S. 291). Doch die Zurückdrängung von Gefängnisstrafen bis hin zur Abschaffung hat nichts mit Ströbeles Verteidigerhintergrund zu tun, sondern resultiert aus einer u.a. von dem norwegischen Kriminologen Martinson („nothing works“) in den 70er Jahren angestoßenen Debatte um die Abschaffung von Gefängnissen („Abolitionismus“) die bei den Grünen seinerzeit insgesamt auf große Zustimmung stieß. Nicht ohne Grund lautete der Titel der von den Grünen im Bayerischen Landtag herausgegebenen Nachrichten aus Kriminalpolitik und Strafvollzug „Abolitio“.

Insgesamt zeichnet Reinecke von Ströbele das Bild eines ewig gestrigen Strategen, geprägt von seinem Elternhaus (S. 442), den er meist als pragmatisch beschreibt, ihm dann aber  wieder zugesteht, dass er im Zweifel Prinzipientreue und Basisnähe dem Pragmatischen vorziehe (S. 344). Das wird verknüpft mit einer grundsätzlichen Kritik an einer Bewegung, die sich in „zeittypischer Hysterie“ 1987 gegen eine Volkszählung wehrte (S. 288) und ohnehin zu extrem überzogener Kritik an der Bundesrepublik, bis an die Grenze der Hysterie, neige (S. 294). Dabei nennt er selbst genügend Beispiele aus Ströbeles Berufsleben und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Berufsverbote, Entlassungen wegen Beziehung zu RAF-Anwälten, Ehrengerichtsverfahren usw.), die einen realen Hintergrund für die von den Menschen seinerzeit gehegten Befürchtungen für die Entwicklung in der BRD nahe legen. Insofern leistet die Biografie wenig sachgerechte Aufklärung, auch wenn sie manche Zusammenhänge deutlich macht. Und wenn man berücksichtigt, dass Bewegungen wie „attac“ oder die neue Anti-AKW-Bewegung auch heute noch junge Menschen in größerem Umfang mobilisieren können, ist das ein Beleg, dass Ströbeles Politikansatz noch immer aktuell ist und Respekt verdient.

Rezensiert von: Michael Alex