Fatima El-Tayeb – Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft

El-Tayeb, Fatima; Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft; transcript-Verlag Bielefeld, 2016, 256 Seiten, ISBN 978-3-8376-3074-9, 19,99 Euro

undeutsch

Wer zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Oktober 2016) ein Buch veröffentlicht, in dem im Untertitel von einer „postmigrantischen Gesellschaft“ die Rede ist, gerät in Verdacht. Man mutmaßt, dass das Buch veraltet ist und die aktuellen Entwicklungen nicht berücksichtigt. Das genaue Gegenteil ist aber er Fall, das Buch ist (fast) tagesaktuell. Daher müssen wir uns diesem „Verdacht“ stellen und fragen, woher er kommt.Die aktuelle Diskussion führt eher dazu, dass wir im Moment glauben in einer Gesellschaft zu leben, die man als „pre-migrantisch“ bezeichnen könnte: Von den rund eine Million Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, werden viele bleiben (müssen), und weitere werden hinzukommen.

Nach Jahrzehnten scheinbarer Stabilität stolpert Europa in jüngster Zeit von Krise zu Krise. Hier zeigen sich für die Autorin dieses Buches die Folgen einer einseitigen Geschichtsaufarbeitung, „die nach dem Mauerfall postfaschistische und postsozialistische Narrative zu einer westlich-kapitalistischen Erfolgsgeschichte verband, während die koloniale Vergangenheit unbeachtet blieb“ (Klappentext). Fatima El-Tayeb zeigt die Auswirkungen dieses Prozesses anhand des Beispiels deutscher Identität: Immer wieder werden insbesondere Schwarze, Roma und Muslime als »undeutsch« nicht nur gebrandmarkt, sondern, so die Autorin, gerade auch produziert. Es sind Gruppen, die nicht nur nicht zur nationalen Gemeinschaft gehören, sondern diese durch ihre Anwesenheit gefährden. Ein postmigrantisches Deutschland braucht daher – so der Klappentext – nicht nur neue Zukunftsvisionen, sondern auch neue Vergangenheitserzählung. Und eine solche legt die Autorin hier vor. Nicht leicht zu lesen, auch wegen der sprachlichen Besonderheiten (und damit sind nicht Begriffe wie „Dunkeldeutsche“ oder „migrantisiert-deutsch“ o.ä. gemeint). Was die Autorin als „rassifizierte und migrantisierte Deutsche“ bezeichnet, muss man sich erschließen, ebenso, was sie mit „Anti-Rom_nja-Rassismus“ meint. In einem Satz erklären kann man beides nicht.

Diese „Vergangenheitserzählung“ kann und muss durch eine zukunftsgerichtete, europäische Erzählung ergänzt werden. Für Claus Leggewie ist das eine „Erzählung davon, wie wir in den nächsten beiden Jahrzehnten ein nachhaltiges Europa schaffen, aber auch eines, das sozial gerechter ist, das öffentliche Räume erhält und schafft, das lebenspraktisch klarmacht, welche Vorzüge europäische Urbanität besitzt, wie eine Kultur des Pluralismus aussieht. Vieles von dem existiert ja längst. Aber wir müssen präziser beschreiben, was wir an Europa gut finden, es ausmalen, so dass das Bild zukunftsfest und für künftige Generationen anziehend ist. Da ist besonders die mittlere Generation gefragt, die im Beruf, im Alltag, im sozialen Engagement Europa sozusagen täglich lebt und baut, dies aber zu wenig nach außen deutlich macht[1].

Rassismus braucht keine Fremden, um zu existieren, er produziert sie“ (S. 14). Mit Aussagen wir dieser verdeutlicht die Autorin, dass wir vieles, was wir (auch in der „linken“ Szene) als bekannt voraussetzen, in Frage stellen oder zumindest hinterfragen müssen. Warum bspw. haben wir die Welle rassistischer Gewalt und die sog. „Asylkrise“ in den 1990er Jahren schon vergessen? Warum fahren wir (nicht nur aktuell) so auf die Idee ab, dem „besorgten Bürger“ entgegenzukommen (in der aktuellen Diskussion nicht nur bei allen Parteien, sondern und auch bei vielen Wissenschaftlern zu bemerken)? Wir haben die größte Flüchtlingskrise seit Ende des Ersten Weltkrieges und schaffen es nicht, diese in unsere eigene Historie einzuordnen, weil wir glauben, den Lautsprechern von AfD und Pegida hinterherlaufen zu müssen. Wichtig dagegen wäre eine Aufarbeitung der Entwicklung, die uns an diesen Punkt unserer Gesellschaft geführt hat. An den Punkt, an dem zum Tag der „deutschen Einheit“ am 03. Oktober 2016 „besorgte Bürger“ in Dresden „Merkel nach Sibirien, Putin nach Berlin“ rufen und demokratisch gewählte Politiker übelst und als „Volksverräter“ beschimpfen. Wer diesen Tag benutzt, um seinen Hass auf die Politiker herauszuschreien, „dem kommt es darauf an, die Symbolik des 3. Oktobers umzukehren und gesellschaftliche Grundsätze in ihr Gegenteil zu verkehren. Deshalb handelt es sich bei den herausgebrüllten Protesten 2016 nicht um ein Randphänomene von marginaler Bedeutung. Wer so mit der Demokratie und seinen gewählten Vertretern umgeht, dem ist wesentlich Schlimmeres zuzutrauen[2]. Gerade (Sozial)Wissenschaftler tun gut daran, sich historisch neu zu verorten und sich dabei bewusst zu werden, was sich in den letzten 100 Jahren in Deutschland ereignet hat. Nur so können Sie die Risiken bewerten, die mit der Verniedlichung von Aussagen wie die von einer „Umvolkung“ durch eine CDU-Politikerin im September 2016 oder

Was sind es für Zeiten, in denen jemand wie Michel Houellebecq, der mit Schreckensbildern einer Muslimisierung des Abendlandes agiert (und vor allem kokettiert),sich als „halber Prophet“ bezeichnet und das u.a. am Verschwinden der Miniröcke in islamisch geprägten französischen Großstädten festmacht, als „Aufklärer mit dem Mut zum Risiko“[3] bezeichnet und mit dem Frank-Schirrmacher-Preis geehrt wird?

Bei aller Wichtigkeit von Europa und/oder Globalisierung: Eine Gesellschaft entsteht nicht von jetzt auf gleich, sie entwickelt sich, sie ist das Produkt ihrer Vergangenheit. E-Tayeb´s Buch ist auch und gerade deshalb so wichtig und aktuell.

Klassenfragen sind auch Rassenfragen: „Die lange zurückreichende, aber unterdrückte Geschichte von Rasse und Rassismus in Europa lässt den gegenwärtigen kontinentalen „Multikulturalismus“, festgemacht an Markern des Nicht-Europäischseins, wie Kopftuch oder dunkle Haut, wieder einmal als etwas nie Dagewesenes erscheinen; eine überraschende und dramatische Entwicklung, die im besten Fall gesellschaftliche Anpassung, im schlimmsten Ablehnung hervorruft und die vor allem bei Bedarf als gescheitert erklärt werden kann“ (S. 15 f.).

Um erneut Claus Leggewie zu zitieren: „Nehmen wir das Beispiel der Einwanderer: Erst waren sie „ausländische Arbeitnehmer“, es ging also um soziale Aspekte, dann waren sie „Türken / Kurden“, sie wurden also über ihre Nationalität oder Ethnizität definiert. Heute sind sie „Muslime“, werden also religiös definiert. Auf diese Weise werden eine in sich schon vielseitige Ich-Identität und ein gelegentlich auftretendes Gemeinschaftsgefühl zum starren Wir-Gefühl stilisiert: „Wir“ gegen „die“, zum Beispiel: „Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes“. So, als wäre man nichts sonst als Christ und als wären Muslime mit allen Herkunftsbrüdern und Glaubensschwestern unverbrüchlich im Bunde[4].

Weiße Wissenschaft und gesellschaftlicher Rassismus gehen Hand in Hand, und Rassismus-Forschung ist in Deutschland nach wie vor verpönt. Warum sie aber notwendig ist, zeigt Fatima El-Tayeb in ihrem Buch – nicht einfach zu lesen, aber wichtig.

Zur Autorin: Fatima El-Tayeb (Dr. phil.), geb. 1966, ist Professorin für Literatur und Ethnic Studies und Direktorin des Programms »Critical Gender Studies« (CGS) an der University of California, San Diego. Sie ist Vorstandsmitglied der »Critical Ethnic Studies Association« und war Ko-Kuratorin des Projekts »The Black Atlantic« (2004, Berlin) und Ko-Organisatorin des Netzwerks »Black European Studies« (2005, Mainz). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Rassismus in Europa, Queer Theory, Populärkultur und Widerstand. Zu ihren Veröffentlichungen zählen »European Others. Queering Ethnicity in Postnational Europe« (2011, 2015 auf Deutsch erschienen) und »Schwarze Deutsche. Der Diskurs um ›Rasse‹ und nationale Identität 1890-1933« (2001).

[1] http://www.taz.de/!5340431/

[2] Kommentar von Klaus Hillenbrand in der taz vom 04.10.2016, http://www.taz.de/Kommentar-Rechte-Proteste-in-Dresden/!5340815/

[3]

[4] aaO.

Rezensiert von: Thomas Feltes