Byung-Chul Han – Müdigkeitsgesellschaft

Han, Byung-Chul; Müdigkeitsgesellschaft; um die Essays Burnoutgesellschaft & Hoch-Zeit erweiterte Neuauflage von 2016, Verlag Matthes & Seitz Berlin, ISBN 978-3-95757-274-5, 14,00 Euro

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Der Verlag beschreibt Müdigkeitsgesellschaft im Klappentext als „eines der wichtigsten zeitdiagnostischen Essays des neuen globalen Zeitalters“, zurecht? – Byung-Chul Han, Philosoph und Kulturwissenschaftler, Professor in Berlin mit akademischen Stationen in Freiburg, München, Basel und Karlsruhe, zeichnet in 2010 ein Bild unserer heutigen Leistungsgesellschaft, das sich sehr unbequem liest: Die von ihm skizzierte Phänomenologie, die für das von ihm benannte neuronale Zeitalter, in dem wir seiner Einschätzung nach leben, bezeichnend sei – Merkmale sind (Hyper)-Aktivität, Beschleunigung, Selbstausbeutung und Positivität, als von ihm negativ konnotierter Begriff – bedinge psychopathologische Störungen wie Burn-Out, Depression und ADHS. Han sieht, in ähnlicher Lesart wie sie bei Zygmunt Baumann möglich ist, eine Passivität, die aus dem letztlich unfreien Streben nach Freiheit im Sinne der Maxime der Spätmoderne eben notwendigerweise resultiert. Diese Passivität entsteht aufgrund der Komplexität des vielfach Möglichen, das einen Zugewinn verspricht, tatsächlich aber nur die Ohnmacht ob der eigenen Positionierung im gesellschaftlichen Spiel verdeutlicht und schließlich im Erkennen einem tatsächlichen Verlust an Freiheitsgraden in unserem Dasein und unserer Geistigkeit gleichkommt.

Interessant ist seine Betrachtungsweise hinsichtlich der Erscheinungsformen und -häufigkeit psychopathologischer Störungen, die er als Auswuchs der durch Positivität bestimmten Individuen beschreibt, und damit auch eine gewisse Gegenposition zu einigen ätiologischen Modellen in der Psychologie einnimmt. Seine Erklärungsansätze und Kausalmodelle erscheinen logisch, eingebettet in eine ernüchternde Tristesse des steigenden Therapiebedarfs. Sie können aber nicht jedwede Form psychischen Krankseins erklären, wie beispielsweise die endogene Depression – oder Depression beim Kind, sofern eine Mittelbarkeit ausgeschlossen wird – was aber seinen als ergänzend zu betrachtenden Analysen keinen Abbruch tut, die sicherlich auch dem in der klinischen Psychologie geführten Diskurs darüber, was effiziente Behandlungsformen ausmachen kann, dienlich sein können.

Han plädiert für die Kraft des Innehaltens, der Leere und einer tiefgründigen Langeweile, für die positiven Aspekte der Wut und Negativität, die uns wieder zu uns selbst finden lassen könnten, die als Antezedens für das Denken, Kreativität und Freiheit zu sehen seien. Und die letztendlich auch erst ein zwischenmenschliches Fürsein, anstelle des nur Neben- und Mitseins, ermöglichen, welches in unserem heutigen, betont individualisierten Gesellschaftskonstrukt – betrachtet man globale Entwicklungen und die damit einhergehende Besorgnis – eine Chance für oder gar Notwendigkeit in unserer letztendlich nur gemeinschaftlich bestreitbaren, ungewissen Zukunft und Wiederherstellung der Zuwendung zueinander darstellt. Mit anderen Worten: Unsere Zukunft ist unausweichlich gemeinschaftlich, aber vielfach möglich. Man kann dabei nur hoffen, dass die Existenz der Reflexion der Paradigmen Burnoutgesellschaft und Müdigkeitsgesellschaft auch ein Zeichen ihres Untergangs ist oder sein wird. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang aber stellen mag, ist, was denn auf das neuronale Zeitalter, in dem der interindividuelle Fokus vom krankmachenden, intraindividuellen Um-sich-selbst-Kreisen abgelöst wird, folgen wird und welche neuen phänomenologischen Skizzen dann zur Eigenreflexion erhoben werden. Wir persönlich würden, sicherlich etwas euphemistisch, eine Ausgestalt des systemischen Zeitalters favorisieren, in dem die Ergebnisse der Analysen der von Han beschriebenen bakteriellen, immunologischen und neuronalen Zeitalter integrativ neu zusammengesetzt werden und somit das neue Ganze eine Art anderes, (in der Retrospektive sicherlich dann nicht zwingend) besseres Ganzes als die Summe seiner einzelnen Teile ergeben wird und sich insofern eine neue Hoffnung abzeichnen kann.

Der Essay, der erstmals in 2010 erschien, liest sich ebenso wie die beiden nunmehr ergänzten Betrachtungen nicht an jeder Stelle geschmeidig, aber das muss er definitiv auch nicht. Wer hier versucht, durchzueilen oder querzulesen, kann das Buch gleich wieder aus der Hand legen, weil dann das Zentrale, dass sich von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, von Seite zu Seite entwickelt, nicht verstanden werden kann, und was schließlich für das freie Denken und Geistigkeit unabdingbar und diesem zugleich immanent ist – Irritation. Jeden Moment, den man in eigenen Gedanken zu diesen Analysen verweilt, ist in diesem Sinne ein für sich gewonnener Moment, der vielleicht ein kleiner Beitrag zur Selbstheilung in diesem neuronalen Zeitalter sein kann, oder der gar zudem die hiermit assoziierten, aus einem Übermaß an Positivität, die verlangt alles immer und zwar sofort zu machen, unvermeidlich resultierenden psychischen Infarkte vielleicht auch abzuwenden weiß.

Ebenso erhältlich und absolut empfehlens- bzw. sehenswert ist die in 2015 erschienene Dokumentation Müdigkeitsgesellschaft von Isabella Gesser, ebenfalls vom gleichen Verlag herausgegeben, die in knapp einer Stunde nicht nur einen begleitenden Einblick in die scheinbar abseits des Mainstreams lebende Person des Byung-Chul Han gewährt, sondern auch das Phänomen der Müdigkeitsgesellschaft am konkreten Beispiel seiner Heimat in Seoul eindrucksvoll fotografiert.

Rezensiert von Lena Jordan & René Pohlmann