Prof. Dr. iur. Thomas Trenczek, M. A. und Prof. Dr. iur. Brigitta Goldberg, Dipl. Soz.-Arb. – Jugendkrminalität, Jugendhilfe und Strafjustiz. Mitwirkung der Jugendhilfe im strafrechtlichen Verfahren

Trenczek, Thomas Prof. Dr. iur., M. A.[1] und Goldberg, Brigitta, Prof. Dr. iur., Dipl. Soz.-Arb.[2]; Jugendkrminalität, Jugendhilfe und Strafjustiz.[3] Mitwirkung der Jugendhilfe im strafrechtlichen Verfahren[4]; ISBN: 978-3-415-03930-8-1, 555 Seiten, Boorberg Verlag, Stuttgart / München, erschienen im Dezember 2016, 68.- €

Das Buch[5], so Trenczek und Goldberg in ihrem Vorwort, hat zwei Ziel­richtungen, es soll nämlich gleichzeitig als Handbuch und als Praxiskommentar dienen. Es behandelt in erster Linie die fachlichen Standards der Jugendhilfe im strafrechtlichen Verfahren, mithin einen kleinen aber bedeutsmaen Ausschnitt des Leistungsspektrums der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen[6]. Dabei werden die sozial­wissenschaftliche und die juristische Perspektive in idealer Weise transdisziplinär verknüpft. Aufgaben, Ziele, Grundsätze aber auch Grenzen des Arbeitsauftrags sowie der Mitwirkung des Jugendamtes im Jugendstrafverfahren werden in dem Buch vorrangig aus sozial- und jugendhilferechtlicher Perspektive dargelegt. Diese normativ gebotene und nach Ansicht der beiden Verfasser in der Praxis oftmals von Jugendhilfe wie auch der (Straf-)Justiz vernachlässigte Synthese von sozialrechtlichen (vor allem aus dem SGB VII) und (jugend-)strafrechtlichen Regelungen (vor allem des JGG) werden dabei in ihren Wechselwirkungen und gegenseitigen Bezügen sehr ausführlich und sachgerecht dargelegt.

Beide Autoren des Werks „verkörpern“ im Übrigen diesen für ein Fachbuch jugendrechtlicher Sozialkontrolle ungewöhnlichen Perspektivenmix in idealer Weise, denn beide sind sowohl Rechtswissenschaftler, Trenczek daneben auch Sozialwissenschaftler, Goldberg im Erstberuf Diplom-Sozialarbeiterin. Beide sind also ad professionem ausgewiesene Fachleute auf beiden Fachgebieten und beschäftigen sich seit langem in Lehre und Forschung und im Rahmen zahlreicher Veröffentlichungen mit dem Jugendkriminalrecht und der Kinder- und Jugendhilfe.

Das Handbuch verkörpert dabei in beinahe idealtypischer Weise den Liszt`schen Gedanken einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“, denn es gründet auf der „Überzeugung, dass eine rationale Sozial-, Rechts- und Kriminalpolitik unabdingbar (auch) auf den außerrechtlichen, interdisziplinären Erkenntnissen der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen basieren muss.“ Auf dem Medium „Jugendstrafrecht“, in Kombination mit der sozialpädagogisch ausgerichteten Jugendhilfe, ruhen im Besonderen bereits seit Beginn der Jugendgerichts­bewegung besondere Hoffnungen auf eine progressive, sozialrechtlich orientierte, kriminalpolitische Vorreiterrolle. Auch hier begegnet uns wiederum der „alte Franz von Liszt“ mit seinem Diktum „eine gute Sozialpolitik (sei) die beste Kriminalpolitik.“

 

Das Buch gliedert sich im Wesentlichen in zwei Hauptkapitel. Im (Haupt-) Kapitel 2 werden neben einer statistisch unterlegten Lagedarstellung der Lebenslagen von jungen Menschen und ihren Familien (kriminalitäts-) theoretische, sozialwissenschaftliche und pädagogische Grundlagen zum Thema „Jugend und Delinquenz“ unter dem Leitgedanken der Mitwirkungsaufgabe des Jugendamtes im Jugendstrafverfahren gelegt. Dieses Hauptkapitel wird mit einem Zwischenfazit unter dem Sherman`schen Motto „What works, what doesn`t“ geschlossen, wobei hier besonderer Wert auf die empirische Sanktionswirkungsforschung und Wirkfaktoren der Jugendhilfe gelegt wird. Das Kapitel schließt mit einem kurzen Exkurs zu den Perspektiven und der Wirksamkeit kriminalpräventiver Maßnahmen im erweiterten Kontext der Jugendhilfe.

Das (Haupt-)Kapitel 3 reflektiert die rechtlichen Grundlagen der Mitwirkung der Jugendhilfe im gerichtlichen Verfahren. Eingangs wird die überragende Bedeutung der elterlichen Sorge- und Erziehungsverantwortung einzig zum Nutzen, im Interesse und zum Wohle der Kinder, keinesfalls zum eigenen elterlichen Nutzen, und die sich daraus im Besonderen abzuleitende Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei allen hoheitlichen Maßnahmen im Rahmen der Zweispurigkeit der jugendrechtlichen Sozialkontrolle herausgearbeitet. Justiz und Jugendhilfe im Jugendamt haben bei allen ihren Maßnahmen darauf zu achten, dass (auch das mehrfache Begehen von) Straftaten junger Menschen grds. eben nicht ein Symptom eines sich verfestigenden (auffälligen) Verhaltens oder Ausdruck eines irgendwie gearteten elterlichen Erziehungsdefizits darstellt, sondern in aller Regel normal, entwicklungsbedingt und vorübergehend ist (schade allerdings, dass man diese empirisch hinreichend gesicherte Erkenntnis auch bei Fachleuten immer noch besonders herausstellen muss). Gerade deshalb legt der Gesetzgeber im Jugendkriminalrecht besonderen Wert auf den Erziehungsgedanken (§ 2 Abs. 1 JGG) und im Rahmen der Zweispurigkeit jugendrechtlicher Sozialkontrolle auch im Jugendhilferecht primär auf die elterliche Förderung der Entwicklung und auf das Recht junger Menschen auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1 KJHG – SGB VIII). Die Jugendhilfe ist dabei zunächst nur subsidiär nach den Eltern gefordert und wirkt insbesondere, so der Schwerpunkt des Buches, bei Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz – hier allerdings als obligatorische Aufgabe[7] – mit (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 8 KJHG – SGB VIII). Die Autoren reflektieren dabei insbesondere auf das Wechselspiel der sozialpädagogischen Beteiligung des Jugendamtes im Rahmen der Jugendhilfe im jugendgerichtlichen Verfahren (Aufgabenzuweisung und Verpflichtungen vgl.  § 52 KJHG – SGB VIII i. V. m. §§ 38 und 50 Abs. 3 Satz 2 JGG), also auf den den grds. Widerspruch von sozialpädagogisch begründetem Helfen und kriminalrechtlich legitimiertem Strafen (S. 159).  Dieser Gedanke wird mit einer nach wie vor sehr treffenden Sentenz von Friedrich Schleiermacher[8] aus dem Jahr 1820 (!) schon in der Einleitung des Buches deutlich gemacht:

„Kann man nun die Strafe aus dem Gebiet der Erziehung gänzlich verbannen? Sie geht nicht aus dem Interesse der Erziehung hervor; es wird durch sie nichts erreicht, was die Erziehung beabsichtigt; sie hat an und für sich keinen Wert, ja sie scheint dem Zweck der Erziehung immer zu widersprechen und bloß einer Theorie des gemeinsamen Lebens zu dienen.“

Ziele, Aufgaben und Grenzen der Jugendhilfe werden im Rahmen der gesetzlichen Aufgabenzuweisung von den Autoren umfänglich mit Leben gefüllt, die abstrakten Vorschriften mit Rechtsprechung und sozial­pädagogischem Know-how vorbildlich und sehr anschaulich angereichert. Für den Praktiker wird das Werk deshalb zu einem sehr nützlichen Nach­schlagewerk, das Antworten auf oder verarbeitungsfähige Anknüpfungspunkte für die meisten relevanten Fragen in diesem Sachzusammenhang bietet. Die umfangreiche Untergliederung gerade des 3. Hauptkapitels (siehe Inhaltsverzeichnis in der Fn. 3) wird immer wieder durch ein hilfreiches Zwischenfazit aufgelockert, was die Übersichtlichkeit, genauso wie die insgesamt 26 grafischen Übersichten, die über das Buch verteilt sind, deutlich verbessert.

Gleiches gilt für die die Erläuterung der jugendstrafrechtlichen Grundlagen inklusive der Akteure und Beteiligten im Jugendstrafverfahren und der spezifischen Rechtsfolgen, obgleich dieser Teil in zahlreichen fachspezifischen und sehr aktuellen Kommentaren auf dem Markt deutlich umfänglicher behandelt werden kann. Die Anreicherung dieses Teil mit Besonderheiten des Wechselspiels zwischen Jugendkriminalrecht und sozialpädagogisch ausgerichteter Jugendhilfe bringt aber durchaus einen gewissen Mehrwert mit sich. Vor allem wird in diesem Zusammenhang eindringlich auf die Kon­sequenzen der Zweispurigkeit jugendrechtlicher Sozialkontrolle, insbesondere auf das Kooperationsgebot (vgl. § 81 KJHG – SGB VIII – ein Umstand, der sich nach meiner Beobachtung erst seit Mitte der 1990er Jahre im Rahmen umfänglicher gemeinsamer Projekte ohne Verlust des jeweiligen professionellen Selbstverständnisses und auf inzwischen solider gegenseitiger Vertrauensbasis konsolidiert hat und zahlreiche saftige Früchte[9] trägt) und vor allem das „jugendkriminalrechtliche Dreiecks­verhältnis“ im Zusammenhang mit jugendgerichtlichen Auflagen und Weisungen, die in der Praxis immer noch als „Neue Ambulante Maßnahmen“ zum Teil ihren jugendhilferechtlichen Anknüpfungsunkt im 4. Abschnitt des KJHG – SGB VIII, dort in den §§ 27 ff. finden, hingewiesen. Diese ambulanten Erziehungshilfen sind also im Leistungsbereich des Sozialrechts angesiedelt. Wenn das Jugendgericht sicherstellen will, dass diese Maßnahmen im Rahmen von jugendrichterlichen Weisungen nicht ins Leere laufen, ist eine enge Kooperation mit dem Jugendamt und dem Jugendlichen und seinen Eltern („Dreiecksverhältnis“) erforderlich.

Die Autoren bilanzieren in ihrem Fazit (S. 469 ff.) aber trotz aller Fortschritte bei der legislativen und praktischen Fortentwicklung jugendrechtlicher Sozialkontrolle gerade zwischen Jugendhilfe und Strafjustiz nach wie vor ein unaufgelöstes Spannungsfeld. Immer noch erfolge das jugendgerichtliche Verfahren, „vor allem die Praxis der Bestimmung der jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen, ganz überwiegend wie im allgemeinen Strafrecht“ (S. 469). Vor allem seien die Ziele des Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes ( 1. JGGÄndG) vom 30. August 1990 nicht erreicht worden. Die empirische Sanktionsforschung bestätige bspw. dass die „Neuen ambulanten Maßnahmen“[10] (NAM), mit Ausnahme der verordneten Arbeitsleitung, quantitativ nicht über ein Nischendasein hinaus gekommen seien. Die Autoren trauen sich auch nicht abschließend festzustellen, dass die auf der Grundlage des SGB VIII seit 1991 entwickelte, am Kindeswohl orientierte sozialpädagogische Konzeption der Mitwirkung der Jugendhilfe im Strafverfahren den „Auszug aus dem Souterrain“ des jugendgerichtlichen Verfahrens geschafft hätte. Bei der Verwirklichung dieses vordringlichen Ziels seien unter der alten Rechtslage entwickelte und tradierte Meinungen über die Aufgaben und das Verhältnis von Jugendhilfe und Justiz nach wie vor hinderlich (S. 471). So bleibt es also weiterhin ein ambitioniertes Vorhaben, so die Verfasser letztlich im Ergebnis, die unterschiedlichen Logiken und Grundsätze des Jugendstrafrechts und des SGB VIII als Teil des Sozialrechts einander anzunähern.

Das gut gegliederte, optisch wie inhaltlich ansehnliche und sehr umfangreiche Werk wird nicht nur wegen der hilfreichen aufgabenkritischen Ausführungen, der besonderen Behandlung eines bedeutenden Ausschnitts der jugendrechtlichen Sozialkontrolle, sondern auch wegen des bemerkenswerten Preis-Leistungsverhältnisses seinen Platz in den Fachbibliotheken finden und das ist gut so!

[1] Ernst-Abbe-Hochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen, Berufungsgebiet Rechtswissen­schaft, Verwaltungsrecht für die soziale Praxis, vgl. https://www.sw.eah-jena.de/fachbereich/personen/lehrende/thomas-trenczek/ (abgerufen am 05.02.2017).

[2]Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, Professorin für Jugendhilferecht, (Jugend-)Strafrecht und Kriminologie am Frachbereich Soziale Arbeit, vgl. http://www.brigitta-goldberg.de (abgerufen am 05.02.2017).

[3] http://www.boorberg.de/sixcms/media.php/1122/9783415039308_Trenczek_Jugendhilfe_IVERZ.pdf, vgl. Inhaltsverzeichnis des Werks, verlinkt auf der Website des Boorberg-Verlags (abgerufen am 05.02.2017).

[4] http://www.boorberg.de/sixcms/detail.php?id=1665935&hl=Trenczek

[5] Das vorliegende Werk baut auf dem 1996 von Trenczek in der Schriftenreihe der DVJJ als Band 26 veröffentlichten Monographie „Strafe, Erziehung oder Hilfe“ (vgl. http://katalog.ub.uni-heidelberg.de/cgi-bin/titel.cgi?katkey=61513968) auf, in der Trenczek die rechtlichen Grundlagen sozialpädagogischer Unterstützungsleistungen und sogenannter „Neuer Ambulanter Maßnahmen“ erstmals in einer Gegenüberstellung und Synthese von Jugendhilfe- und Jugendstrafrecht erläuterte.

[6] Vgl. hierzu bspw. nur die Informationsbroschüre (5. Auflage 2014) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zum Thema Kinder- und Jugendhilfe (https://www.bmfsfj.de/blob/94106/ae9940d8c20b019959a5d9fb511de02b/kinder–und-jugendhilfegesetz—sgb-viii-data.pdf, abgerufen am 05.02.2017), das 8. Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII), welches die gesetzlichen Grundlagen für die Kinder- und Jugendhilfe liefert, und das Jugendgerichtsgesetz  (JGG) mit besonderen Regelungen unter besonderer Berücksichtigung des alles überragenden Erziehungsgedankens im strafprozessrechtlichen Verfahren für Jugendliche und Heranwachsende.

[7] Sind die gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen erfüllt, besteht auf die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe ein subjektiv-öffentliches Recht auf Leistungsgewährung. Das Jugendamt als Teil der öffentlichen Jugendhilfe und damit als Sozialleistungsträger ist nach § 17 Abs. 1 SGB 1 verpflichtet darauf hinzuwirken, dass alle Berechtigten die ihnen zustehenden Sozialleistungen – auch über die originäre Aufgabe der Mitwirkung im jugendgerichtlichen Verfahren hinaus – in zeitgemäßer Weise umfassend und schnell erhalten und die zur Ausführung von Sozialleistungen erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen.

[8] * 21. November 1768 in Breslau, + 12. Februar 1834 in Berlin, deutscher evangelischer Theologe, Philosoph, Staatstheoretiker und Pädagoge.

[9] Unter anderem in gemeinsamen Projekten oder bspw. in den inzwischen bundesweit verbreiteten „Häusern des Jugendrechts“ bzw. im Rahmen „interdisziplinärer Fallkonferenzen“ (vgl. S. 456 ff.).

[10] Vgl. hierzu Beitrag von Spiess, http://www.uni-konstanz.de/rtf/gs/Spiess-2015-Jugendstrafrecht-und-ambulante-Massnahmen.pdf

Rezensiert von: Holger Plank