Tobias R. Andrissek – Vergeltung als Strafzweck. Empirisch-soziologische Begründung und kriminalpolitische Folgerungen.

Andrissek, Tobias R. Dr. [1]; Vergeltung als Strafzweck. Empirisch-soziologische Begründung und kriminalpolitische Folgerungen [2]; ISBN: 978-3-16-155325-7, 258 Seiten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, Reihe: Studien und Beiträge zum Strafrecht, Band 13, 2017, 74.– €

Die wirklich spannend aufgebaute und inhaltlich sehr herausfordernde, dem nach wie vor verbreitetem strafrechtlichen Präventionsdenken in weiten Teilen kontradiktorisch begegnende Dissertation, präsentiert eine empirisch begrün­dete, (modifiziert) vergeltende[3] Straf­zweck­theorie im neuen Gewand, denomina­tiv gekleidet in den Begriff der „retri­butiven General­prävention“. Für eine strafrechtswissen­schaftliche Arbeit ungewöhnlich „geht sie mit Blick auf Soziologie und Psychologie so interdisziplinär vor, wie man es von der Rechtswissenschaft immer wieder mit gutem Grund verlangt und doch nur selten erlebt“, schreibt Andrisseks „Doktorvater“ in seinem Geleitwort und greift damit indirekt und ohne nominell den Bezug herzustellen den seit Franz von Liszt existierenden aber nach wie vor unscharfen Begriffsinhalt einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ auf. Gleichzeitig würdigt er darin weite Teile der modernen präventiven Strafzwecklehre ob ihrer strafrechts­expan­dierenden Wirkung (recht) weitgehend kritisch[4], gerade weil ihre angenommenen Wirkungen, bei aller legislativen Gestaltungsfreiheit (Prärogative) des Gesetzgebers, nach wie vor in der Literatur ob ihrer eingeschränkten Nachweisbarkeit zurückhaltend kommentiert werden.

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste widmet sich der „Legiti­mation von Strafe“ und hierbei insbesondere dem menschlichen „Vergeltungs­bedürfnis“, das der Autor in Anlehnung an den amerikanischen Rechts­wissenschaftler und -philosophen Robinson passender als „Gerechtigkeits­intuition“ bezeichnet, und spürt dieser („rechts“-)philosophischen Frage auf verschiedenen Pfaden empirisch (v. a. soziologisch, kriminologisch und  psy­chologisch), aber auch evolutions­biologisch, neurowissenschaftlich, historisch und rechtsdogmatisch nach. Im zweiten Hauptteil zieht der Autor „kriminal­politische Folgerungen“ aus dem empirisch begründeten Entwurf einer gerechtigkeitsintuitiven Vergeltungslehre. Dabei hält er, m. E. sehr zutreffend und den weiteren Ausführungen schon an dieser Stelle vorangestellt, rein „symbolische“ und / oder „expressive“ Ansätze zur Rechtfertigung des „Strafübels“ für nicht gerechtfertigt.[5]

Das Werk schließt mit 12 Thesen in Kurzform, die ich anschließend (jedenfalls ausschnittsweise) in der gebotenen Kürze zusammengefasst habe:

Klassische, metaphysisch begründete Vergeltungstheorien, wie bei Kant oder Hegel beschrieben, seien zur Rechtfertigung staatlicher Strafe nicht geeignet. Dennoch gebe es tief verwurzelte menschliche Intuitionen von Gerechtigkeit, die bei bestimmten Formen des Fehlverhaltens[6] nach Strafe verlangten. Die Öffentlichkeit lege bei ihrer diesbezüglichen Beurteilung eine intuitive Deliktshierarchie und Abstufung der relativen Strafhöhe an. Hierfür seien vor allem Absichtsgrad, Schaden und wiederholte Tatbegehung entscheidend.

Positiv generalpräventive Strafzwecktheorien[7] bieten jedenfalls dann recht gute strafrechtsrechtfertigende Ansätze, wenn sie sich tiefgehend mit den Wirkungen der Strafe auseinandersetzen.

Die in der Arbeit entwickelte Theorie einer „retributiven General­prä­ven­tion“ sei ob ihres empirisch-soziologischen Ansatzes eine Variante der positiven Generalprä­vention. Sie betrachte Strafe dann als legitim, wenn es eine große gesellschaftliche Übereinstimmung hinsichtlich der moralischen Verwerflichkeit eines Verhaltens sowie ein Bestrafungsbedürfnis gebe und hierbei die subjektiv moralische Proportionalität beachtet werde. So sichere der Staat die Kooperation[8] seiner Bürger und damit auch den eigenen (gesellschaftlich legitimierten) Fortbestand. Der Autor belegt anhand zahl­reicher For­schungsvorhaben, allerdings vorwiegend aus dem anglo-amerikanischen For­schungs­kontext, dass sich diese Wirkungen mindestens ansatzweise empirisch nachweisen lassen.

Andrissek legt bei seinem Ansatz großen Wert auf eine breite diskursive öffentliche Auseinandersetzung, die Offenlegung der bereits dargestellten Zusammenhänge, um einen rationalen Umgang mit Kriminalität und Strafbedürfnissen zu sichern.

Hinsichtlich der Strafrahmen empfiehlt er „einen konsensfähigen absoluten Endpunkt der Strafskala, die Kategorisierung der Delikte nach ihrer relativen moralischen Schwere und die Abstufung der Strafrahmen innerhalb dieser Kategorien.“ Danach sei eine Festlegung einer Regelstrafe und die Unterteilung der Strafrahmen nach Ebenen auf der Grundlage allgemeiner und besonderer Strafzumessungsfaktoren sinnvoll. Bei der Strafzumessung sei auf die „Gleichmäßigkeit gerichtlicher Entscheidungen und weniger auf die Einzelfallgerechtigkeit zu achten, da die Schuld des Täters nicht absolut bestimmt“ werden könne. Tatrichter bräuchten allerdings gewisse Spielräume, innerhalb derer allerdings präventive Überlegungen, jedenfalls in Bezug auf die Strafhöhe, aufgrund in der Praxis fehlender empirischer Grundlage und darauf basierender relativer Anwendungsungleichheit nicht zulässig seien.

Die Freiheitsstrafe sollte schon wegen ihrer „entsozialisierenden Wirkung nur als Antwort auf die schwersten Delikte oder bei besonders hoher Gefährlichkeit des Täters eingesetzt werden.“ Andrissek schlägt deshalb neben einer „eigenständigen und ggf. verschärften Bewährungsstrafe“ hierzu auch die „gemeinnützige Arbeit“ vor. Im Einzelfall sei grundsätzlich „diejenige Sanktion vorzuziehen, die am besten zur Resozialisierung des Täters und zu einem vielleicht notwendigen Schutz der Allgemeinheit geeignet erscheint.“

Mit dem Entwurf Andrisseks, so abschließend zitiert aus dem Geleitwort Tonio Walters, wird dem Strafrecht bei der Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte eine „bescheidenere Aufgabe“ als bisher zugewiesen. Strafrecht habe „nur noch jene Mindestzustimmung der Bürger zu ihrem Staat zu sichern, die für ein geordnetes und friedliches Miteinander erforderlich“ sei. Das gebe im Übrigen auch „der Ultima-ratio-Regel eine andere Richtung, denn das Strafrecht sei jetzt nur noch erforderlich, wenn das Gerechtigkeitsgefühl der Bürger sonst in einem für sie nicht mehr hinnehmbaren Maße beleidigt würde“, somit auch der Staat bei Nichttätigkeit als anerkannter Gewaltmonopolist legitimativ bedroht werden würde. Damit wird, dem interessanten Gedankengang konsequent folgend, auch kein Staatsgebilde nach dem Prinzip des strafrechtlichen „laissez faire“ entworfen, sondern eine Strafzwecklehre, bei der nicht „die maximalen Bestrafungswünsche das Ziel vorgeben, sondern (nur) die Mindestbedürfnisse“, die sich im Übrigen „empirisch besser und rationaler ermitteln lassen“ als die vermeintlichen Wirkungen allgemein kritisierter Präventionstheorien.

Die Arbeit Andrisseks ist sehr lesenswert, schon weil sie – sprachlich anspruchsvoll und wirkmächtig, weil auf den ersten Blick nur schwer zu widerlegen – herausfordernd und „provokant“ gängige zweckorientierte Begründungsmuster in den Fokus nimmt. Man kann ihr nur zahlreiche Leser, weit über die Erstauflage hinaus, und eine breite Rezeption innerhalb der dogmatischen Strafrechtslehre wünschen.

 

[1] Jurist, z. Zt. als Notarassessor in Regensburg tätig, im Jahr 2016 Promotion an der Universität Regensburg bei Prof. Dr. Tonio Walter, Lehrstuhl für Strafrecht, Straf­prozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht, alle Quellen zuletzt abgerufen am 21.08.2017.

[2] Vgl. Website des Mohr Siebeck Verlags, Tübingen: https://www.mohr.de/buch/vergeltung-als-strafzweck-9783161553257, zuletzt abgerufen am 21.08.2017.

[3] Andrissek versteht seinen Ansatz aber keinesfalls als „reines Vergeltungskonzept (…), sondern allein als Variante der positiven Generalprävention im weiteren Sinne“, wonach „die positiven Wirkungen der Strafe tragender Teil der Begründung“ seien, es also vielmehr um „Prävention durch Vergeltung“ gehe (S. 148).

[4] Andrissek vertieft diese Sicht (S. 53) indem er die „klassischen Präventionstheorien als mit den ‚Gerechtigkeitsintuitionen’ unvereinbar“ erklärt. Sie seien verantwortlich für die „Ex­pan­sion des modernen Strafrechts, das durch sein Sicherheitsdenken die strafrechtlichen Normen weit in das Vorfeld tatsächlich schädigender Handlungen verlagert“ habe, „teilweise auch nur zur Erweiterung polizeilicher Ermittlungsmöglichkeiten.“ Ein derartiges „Risikostrafrecht werde als Allheilmittel für fast alle gesellschaftlichen Konflikte angesehen; man wende sich ab vom Rechtsgüterschutz und hin zu rein symbolischen Strafrechtsnormen und man überschätze (…) die Bedeutung des Strafrechts für die Entwicklung der Kriminalität.“ Gerade durch diese „Expansion und die zugleich fehlenden nachweisbaren Erfolge habe sich das klassische Präventionsdenken selbst den Boden entzogen.“

[5] So sollte sich der Gesetzgeber bei der „Kriminalisierung einzelner Verhaltensweisen und bei der Bestimmung der relativen Strafhöhen in erster Linie an empirisch ermittelten gemeinsamen Intuitionen orientieren.“ Dies ermögliche eine „rationale Kontrolle der Ergebnisse.“ Schwierige kriminalpolitische Abwägungsentscheidungen, die ein „Abweichen von verbreiteten Vorstellungen“ (Intuitionen) bedeuten, sollten für die Bürger regelmäßig „nachvoll­ziehbar begründet“ werden.

[6] Der Einsatz des Strafrechts zur Veränderung moralischer Überzeugungen oder zu jeder sonstigen externen Beeinflussung abweichenden Verhaltens ist schon aufgrund zweifelhafter Wirksamkeit und des „Ultima-Ratio-Gebotes“ sehr kritisch zu sehen.

[7] Andrissek geißelt aber (unter Berufung auf Böllinger) vor allem die „negative Gene­ralprävention“ (S. 53). Sie sei „von messianischen Politikern und Kriminalisten mittlerweile global zum Katechismus des Kampfes gegen das Böse an sich erkoren worden“ und löse „außerdem ein Kernelement der Strafe auf: die (notwendige und gesellschaftsstabilisierende) sozialethische Missbilligung.“

[8] Der Autor geht ferner davon aus, dass die Begriffe Schuld und Fairness – im Übrigen dabei inhaltlich recht konvergent – von gesamtgesellschaftlichen Überzeugungen getragen werden. Orientiere sich Strafe daran, sei darüber hinaus auch mit weitgehender Akzeptanz durch den Täter zu rechnen.

Rezensiert von: Holger Plank