Digitale Polizeiarbeit. Herausforderungen und Chancen – Thomas-Gabriel Rüdiger / Petra Saskia Bayerl – Rezensiert von: Holger Plank

Thomas-Gabriel Rüdiger, M. A.[1] / Dr. Petra Saskia Bayerl[2] (Hrsg.); „Digitale Polizeiarbeit. Herausforderungen und Chancen“; (ISBN: 978-3-658-19755-1, 301 Seiten, Springer VS Verlag, Wiesbaden, Erscheinungsjahr 2018, 44,99 €)

Die beiden Herausgeber (diese genderneutrale Bemerkung sei angesichts der Mitherausgeberin erlaubt, ich verwende hier nur aus Gründen der besseren Lesbarkeit das Maskulinum) richten in dem Sammelband, der neben deren gemeinsamen Vorwort 13 Beiträge von insgesamt 18 Autoren beinhaltet und in vier „Themenfelder“[3] gruppiert ist, einen umfassenden Blick auf die zahllosen Facetten und Herausforderungen der Polizeiarbeit im Zeitalter der Digitali­sierung. Ihr Vorwort, in leichter Abwandlung des Buchtitels mit semantisch positiver Aufladung und mit folgerichtigem Entwicklungsziel getitelt mit „Digitale Herausforderungen: Von Herausfor­derungen zu Chancen“ beginnt dann auch angesichts der Umstände nachvollziehbar mit der Feststellung:

„Die Sicherheitsbehörden in Deutschland stehen in einem ihrer bisher vermutlich umfangreichsten und tiefgehendsten Reform- und Wandlungs­prozesse: Der Neuverortung in einem grenzenlosen, altersübergreifenden, digitalen Raum ohne einheitliches Werte- und Normenkonstrukt, in dem Menschen jeglichen Alters und kultureller Herkunft statistisch gesehen mehr Zeit verbringen als im öffentlichen Straßenverkehr. (…) so würden nicht nur wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge, sondern auch die Umgebung, in der Polizei agiere und ihren Aufgaben gerecht werden müsse (massiv) beeinflusst.“

Die Herausgeber mahnen daher eine grundlegende gesellschaftliche Debatte zum Umgang mit der Sicherheit im digitalen Raum und der dortigen Rolle der Polizei an und wollen mit dem Sammelband einen Anstoß dazu leisten.

In einer notwendig kurzen Besprechung eines Sammelbandes kann der Rezensent unter Verweis auf den weit umfänglicheren Gesamtinhalt des Buches immer nur einzelne Beiträge und Argumentationslinien herausgreifen. Die Auswahl bleibt dabei den individuellen thematischen Vorlieben überlassen und bedeutet keine Geringschätzung der anderen Beiträge, im Gegenteil! Dennoch versuche ich diese „Vorauswahl“ ein wenig zu objektivieren, indem ich unter (beständiger) Bezugnahme auf das Vorwort je einen Beitrag aus den vier Themenfeldern (zugegeben aber trotzdem nach eigenem Gusto) herausgreife und in den größeren Zusammenhang der Digitalisierung und ihrer sicherheits­behördlichen Herausforderungen und Chancen einzuordnen versuche.

Möllers (S. 39 – 62) betrachtet bspw. im ersten Themenfeld die derzeitigen institutionalisierten, serviceorientierten Interaktionsprozesse zwischen Bürgern und Verwaltung und betrachtet hierbei das derzeitige Engagement der Sicherheitsbehörden, v. a. der Polizei fast durchwegs kritisch. Die Polizei müsse sich „gesamtgesellschaftlich integrieren und dürfe kein verwaltungsmäßiges Einzeldasein führen. (…) sie müsse sich (zu diesem Zweck z. B.) in regionale Netze und Stadtportale (auch digital) eingliedern“ und als Dienstleistungsunter­nehmen über die Notrufnummer 110 hinaus, etwa durch eine bundes-, landesweite oder mindestens in regionale Netzwerke eingebettete „Ratgeber-Hotline“, verstehen und für den Bürger leicht zu erkennen und erreichbar sein. Ein wohlgemeinter Hinweis, der schon wegen der engagierten Absichts­erklärung im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 07.02.2018 unter der Rubrik „Auf dem Weg in die digitale Verwaltung“ (vgl.  S. 45 f., Z. 2004 ff.) und des 2016 anl. der Herbstsitzung der IMK in Saarbrücken akklamierten Programms „Polizei 2020“ mit dem Primärziel einer umfänglichen digitalen Vernetzung der Polizeibehörden untereinander und der möglichst zügi­gen Aufgabe von Insellösungen (vielleicht bis hin zu einem Prozessmanagement i. S. qualitätsgesicherten „e-Governments“) zur rechten Zeit kommt. Hierzu bedarf es aber neben der nötigen Infrastruktur zahlreicher im Rahmen der Aus- und Fortbildung zu vermittelnder „neuer“ (nicht nur digitaler) Fähigkeiten, z. B. den Erwerb umfänglicher „Medienkompetenz“ unter „Dienstleistungs­aspekten“. Digitalisierung werde somit auch zum sozialwissenschaftlichen Feld und damit automatisch zum Gegenstand polizeilich-institutioneller Selbstre­flexion, sowohl im „Theorie-Praxis“- wie auch im „Praxis-Theorie“-Transfer.

Sowa und Silberbach (S. 109 – 128) propagieren im zweiten Themenfeld „Kollaborative Ansätze gegen Cyber- und Computerkriminalität“ und versuchen diese in einem übergreifenden Ansatz einer „Cyber Security Intelligence“ zu verbinden. Dies ist schon deshalb interessant, weil beide diesen „kollaborativen Ansatz“ durch ihre unterschiedliche berufliche Provenienz in einem gemein­samen „Public-Privat-Partnership“-Beitrag verkörpern. Cybersicherheit, so die Autoren zusammenfassend, sei für Politik und Wirtschaft inzwischen zum strategischen Thema geworden. Es werde inzwischen intensiv – und zwar im interdependenten Austausch – nach Erfolg versprechenden Ansätzen und Mo­dellen gesucht. „Security Intelligence“ sei eines davon und ein wichtiger Bestandteil dieses übergreifenden strategischen Ansatzes sei die „kollaborative“ Zusammenarbeit und der Aufbau kollektiven Wissens über Unternehmens- und Behördengrenzen hinweg. Dieser Ansatz sei in Facetten bereits jetzt erfolgreich und durchaus im Ausbau begriffen. Dies sei auch auf die klare Haltung der Bundesregierung im Rahmen der Cyber-Sicherheitsstrategie 2016 und zurück­zuführen und korrespondiere im Übrigen mit den Erfahrungen in den USA nach Erlass von Obamas erfolgreicher  „Cybersecurity-Durchführungsverordnung“ aus dem Jahr 2015.

Kunze (S. 161 – 181) beschäftigt sich in einem Beitrag eingangs des dritten Themenbereichs mit dem Erfordernis der Entwicklung von „Basiskompe­tenzen im Bereich Cybercrime und digitale Spuren“ bei der Polizei – und zwar unabhängig von der aktuellen Verwendung der betreffenden Beamtinnen und Beamten. Dabei macht er sich komplementär natürlich auch Gedanken zur erforderlichen (behördlichen) Qualifizierung. Während er die Notwendigkeit dieser Basiskompetenzen in allen Bereichen schutz- und kriminalpolizeilicher Sachbearbeitung und Einsatzbewältigung uneingeschränkt bejaht, stellt er hierbei allerdings fest, dass sich Umfang und Intensität der Kompetenzschulung und -fortentwicklung gerade in diesem Bereich in den polizeilichen Curricula zu jeglichem Erfordernis zueinander umgekehrt proportional verhalten, obgleich doch „digitale Spuren die DNA der Zukunft“ seien. Was sind aber überhaupt Cyber-Basiskompetenzen? Um dies bereichsübergreifend zu erheben, führte der Autor 2015 eine Fokus­gruppendiskussion an der DHPol nach der DACUM-Methode durch und erfasste die in diesem Workshop in den identifizierten Tätigkeiten für notwendig erachteten Fähigkeiten und Kenntnisse in einem DaCUM-Panel (Abb. S. 177) als fachstrategische „Minimalkompetenzen“. Die nordrhein-westfälische Polizei habe ab dem Jahr 2017 daraus wenigstens im Bereich der kriminalistischen Einführungsfortbildung bereits fünf Modulbausteine eingeführt. Für den gesamten Personalkörper der Landespolizei müsse man eine derartige Entwicklung aber zunächst in eine noch zu entwickelnde Gesamtstrategie „verpacken“.

Im vierten Themenbereich fiel meine Artikelauswahl auf den Mitherausgeber Rüdiger selbst (S. 259 – 299), der sich im Rahmen des von ihm kreierten Begriffs „Broken Web“ in „Transmission“ der „analogen Broken-Windows-Theorie“ in den Cyberraum Gedanken zu den „Herausforderungen für die Polizeipräsenz (eben in diesem) digitalen Raum“ macht. Nicht nur aufgrund des exorbitant zu nennenden Dunkelfeldes, welches in unter­schiedlichen Studien immer wieder, wenn auch mitunter aufgrund wenig valider oder gar gänzlich fehlender Dunkelfelduntersuchungen kryptisch umrissen wird, muss man sich nicht nur die Frage stellen, ob die Sicherheitsbehörden den Kampf gegen die vielgestaltige Kriminalität im Cyberraum (in den Kategorien „Tatmittel Internet“, „Computerkriminalität“ jeweils mit den Attributen „im engeren“ bzw. im „weiteren Sinn“ versehen, etc.) bereits verloren haben, bevor sie ihn überhaupt richtig aufnehmen konnten? Außerdem muss man sich fragen, welche Auswirkungen dies auf die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, das „Rechtssicher­heitsparadigma“, als tragende Säule gesellschaftlicher Stabilität und bürgerlichen Zusammenhalts insgesamt haben wird? Angesichts der ubiquitär zu nennenden Erfahrungen mit Betrugs- oder Sabotageversuchen weiter Teile der Nutzergemeinde im Internet kann man auch nicht mehr von der zwar in die Jahre gekommenen aber durchaus immer noch interessanten Popitz´schen Theorie der „Präventivwirkung des Nichtwissens“ ausgehen, nach der es – vereinfacht ausgedrückt – ausreichend wäre, wenigstens ab und zu „ein (ermitteltes) schwarzes Schaf“ (stellvertretend) in öffentlicher Haupt­verhandlung lege artis zu sanktionieren. Die Folge, wenn auf erkennbare Normverstöße nicht oder nicht angemessen reagiert wird (was er an zahlreichen Beispielen in seinem Beitrag eindrücklich nachweist) bzw. den Ordnungsbehörden ggf. sogar nicht einmal mehr die Kompetenz zu einem adäquaten Vorgehen zugeschrieben wird, könnte, so Rüdiger, ein ähnlicher „Kausalverlauf“ wie bei der (im Übrigen nicht unumstrittenen, vgl. nur Keuschnigg und Wolbring, 2015[4]) „Broken Windows Theorie“ von Wilson und Kelling (1982) sein. Ob die Einwände der Kritiker auch im digitalen Raum gelten, der m. E. durchaus eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, wie so manche Studie (wie z. B. die des BKA im Rahmen einer knappen Tätertypologie im Bereich „Hacktivism“) aussagt, müsste erst noch bewiesen werden. So transferiert Rüdiger im Rahmen seiner „Broken Web These“ zunächst „normstabilisierende“ Faktoren zur Erzeu­gung einer Grundform von „digitaler Sicherheit“ einfach vom „analogen“ in den „digitalen Raum“. Dazu gehören z. B. a) die Vermittlung von Regeln und Erfahrungen, b) die Kodierung dieser Regeln, c) ein von jedermann erkennbares Konstrukt der Normdurch­setzung, unabhängig vom analogen oder digitalen Tatort oder -mittel zur d) Erhöhung der Entdeckungs- und Sanktionswahrscheinlichkeit durch eben jene offene und verdeckte Präsenz. Gerade dort sei offene Präsenz schon angesichts des v. a. in sozialen Netzwerken weit verbreiteten und schamlos ausgelebten „digitalen Narzissmus“ aber noch erheblich ausbaubedürftig. Rüdiger misst also unter Verweis auf den ergänzenden ätiolo­gischen Ansatz des „Routine Activity Approach“[5] insbesondere der sichtbaren Präsenz, z. B. mit dem Fokus auf die Strategie des „digital community policing“ (hier ist im Übrigen eine gewisse Parallele zu Möllers, s. o., erkennbar), der Sicher­heitsbehörden im digitalen Raum, neben der Sachbe­arbeitungskompetenz „Cybercrime“, eine zentrale Funktion für eine schlüssige Strategie „digitaler Sicherheit“ bei. Im Kern entwirft er also, durchaus folgerichtig. ein „raumbezogenes“ Konzept, wohingegen man­che Kriminologen (vgl. z. B. Meier, 2012) dem Cyberraum eine eigenständige Raumqualität absprechen und damit das „Zwei-Welten-Problem“ negieren. Abschließend entwirft er noch eine wenn auch kurze Vision einer zukünftigen digitalen Polizeiarbeit, bei der er nicht nur einfach analoge Konzepte in den digitalen Raum transferiert, sondern die passende Frage stellt, wie eine Sicherheitsstruktur eigentlich von den Mechanismen des digitalen Raums selbst profitieren, ja sich sogar künftig in diesen integrieren könne / müsse? Hierzu sei jedoch eine gesamtgesellschaftliche Debatte nötig, die an diesem Punkt noch nicht einmal begonnen habe. An dieser Stelle, wie angekündigt, eine kurze Rückblende zum Vorwort: Die Sicherheitsbehörden können dazu durchaus einen Anstoß leisten und sei es nur durch kritische Selbstreflexion ihrer praktischen Erfahrungen und die Spiegelung der dabei evidenten Erkenntnisse in die Kriminalpolitik. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Der Sammelband ist thematisch vielgestaltig und in seinem inneren Aufbau grds. strukturell schlüssig. Die interdisziplinären, bereichsübergreifenden Beiträge eröffnen einen multidimensionalen Blick auf das Feld der Digitalisierung und der darin verborgenen Chancen für die Sicherheitsbehörden, wenngleich einem angesichts der aktuellen Herausforderungen die praktische Ausgangslage und die strategischen Planungen mancher Organisationseinheiten ein wenig dabei irritieren mögen, ja mitunter sogar einen „Drehnystagmus“ (angesichts der visuellen Eröffnung dieser Passage hielt ich, um im Bild zu bleiben, einen derart erzeugten „Augenschwindel“ für eine angemessene Symbolik) hervorrufen. Ich könnte mir also gut vorstellen, dass aus diesem ersten, inhaltlich ansprechenden Sammelband sogar ein thematisch fortzu­entwickelndes Periodikum, eine Reihe „digitale Polizeiarbeit“ werden könnte – die Verkaufszahlen werden es sicher weisen. An relevanten Themenstellungen mangelt es jedenfalls mitnichten, die Herausgeber­gemeinschaft steht und ein institutionenübergreifender „Redaktionsbeirat“ sollte sich bei dieser progres­siven Thematik unkompliziert finden lassen.

[1] Thomas-Gabriel Rüdiger, M. A., Kriminologe an der Fachhochschule Polizei des Landes Brandenburg, Institut für Polizeiwissenschaft (IfP). Rüdiger, der den Sammelband zusam­men mit Saskia Bayerl herausgibt, steuert selbst auch als Autor einen interessanten Beitrag unter dem Titel „Broken Web“ bei. Er ist einer der wenigen deutschen Kriminologen (u. a. neben Mischkowitz und Meier), die die Notwendigkeit einer (bislang noch nicht institutionell verorteten) eigenständigen krimino­logischen Subdisziplin „Cyber­krimino­logie“ offensiv vertreten.

[2] Dr. Petra Saskia Bayerl, Associate Professor an der Erasmus University Rotterdam, Rotterdam School of Management.

[3] 1. „Kommunikation und Interaktion mit Bürgern“; 2. „Kriminalitätsprävention und -bekämpfung“; 3. „Organisationale Voraussetzungen“; 4. „Rechtliche Fragen“.

[4] Die nach einem Experimentalverlauf in München, in Anlehnung an Keizer et al., 2008, sogar zu der Feststellung kommen, die „Broken-Windows-Theorie“ sei wissenschaftlich  kaum haltbar, vgl. PM der Universität Mannheim vom 23.04.2015.

[5] Unter den theoretischen Bedingungen (verkürzt dargestellt): „Routine activity approach states that when a crime occurs, three things happen at the same time: a) a suitable target is available, b) there is the lack of a suitable guardian to prevent the crime from happening and c) a likely and motivated offender is present” (Cohen / Felson, 1979)

Rezensiert von: Holger Plank