Strafrecht: Reformvorhaben der Großen Koalition (2013 – 2017) kontrovers diskutiert – Hendrik Wassermann, Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.) – Rezensiert von: Holger Plank

Wassermann, Hendrik / van Ooyen[1], Robert Chr. Prof. Dr. (Hrsg.); „Strafrecht: Reformvorhaben der Großen Koalition (2013 – 2017) kontrovers diskutiert“; ISBN: 978-3-428-15438-8, 143 Seiten, Recht und Politik (Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik), Beiheft 2, Verlag Duncker & Humblot, Berlin, Erscheinungsjahr 2018, 49,90 €

Die Koalitionäre der CDU / CSU und SPD in der 18. Legislaturperiode waren (straf-)rechtspolitisch außerordentlich aktiv, wie die beiden Herausgeber im Beiheft 2 der Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik „Recht und Politik“ (die seit 2017 im 54. Jahrgang im Berliner Verlag Duncker & Humblot erscheint[2]) eindrucksvoll nachweisen. Nach dem gemeinsamen Vor­wort vereint der Sammelband 11 Beiträge von insgesamt 14 Autoren (vergleiche hierzu das Inhaltsverzeichnis des Bandes).

Einleitend (S. 9 – 32) kommt Dr. Mario Bachmann von der Universität Köln zu Wort. Er bilanziert die insgesamt 28 (!) bis zum 24.09.2017 in der 18. Legis­laturperiode in Kraft getretenen Änderungen im Strafgesetzbuch und weist auf weitere fünf Re­form­vorhaben (z. B. die Abschaffung des § 103, die Reform des § 203 [Ein­schränkung der Strafbarkeit von Berufsgeheimnisträgern]  und die Ein­führung des § 315 d – Verbotene Kraft­fahr­zeugrennen) hin, die bis zum Stichtag der Bundestagswahl noch nicht in Kraft getreten waren. Der Betrachter, unab­hängig ob er mit der Materie praktisch oder in Wissenschaft und Forschung verbunden ist, blickt angesichts der dicht gewebten Chronologie des Bandes wiederum beeindruckt auf die außergewöhnliche kriminal­poli­tische „Produk­tivität“ des Gesetzgebers in dieser Wahlperiode zurück und wägt zu­weilen auch kritisch deren Auslöser ab. Wie viele andere Kommentatoren kri­tisiert Bachmann bei seinem Parforceritt durch die jüngste Strafrechtsgeschichte bspw. die allgemeine Tendenz des Gesetzgebers zu weiträumiger (Vorfeld-)Krimi­nali­sierung, die zuneh­mende Abkehr von ausreichend griffigen Rechtsgütern und auch vom allgemein anerkannten Prinzip des Strafrechts als „ultima ratio“. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminologie der Universität zu Köln kritisiert er qua professio, die „Kriminalpolitik überschätze grundsätzlich die kriminal­präventive Wirkung von Strafver­schärfungen.“ Er beklagt darüber hinaus die zu­nehmende „Symbolik“ und auch die (ausbaufähige handwerkliche) „Qualität“ der Gesetzesänderungen, hierbei insbesondere die Verwendung vieler „wenig griffiger Termini“ und ferner, in einigen Fällen sogar explizit (bspw. beim Terroris­musstrafrecht oder bei den §§ 184i und 217), evidente Mängel bei den Verhältnismäßigkeitserwägungen. Er empfiehlt dem Gesetzgeber abschließend, sorg­fältiger und vor allem evidenzbasiert zu agieren und künftig stärker Er­kenntnisse der Kriminal­wissenschaften zu beach­ten, die sich die Koalitionäre der 19. Legislaturperiode ja auch über die Formulierung „Wir treten für eine evidenz­basierte Kriminalpolitik ein. Wir wollen, dass kriminologische Evidenzen sowohl bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen als auch bei deren Evaluation berücksichtigt werden (…)“ in den Koalitionsvertrag vom 07.02.2018 geschrie­ben haben (dort S. 133, Zeilen 6313 – 6315). Der institutionell „schwächelnden“ Kriminologie dürfte diese „kriminal­politische Vitaminspritze“ zu neuer Lebens­kraft und Bedeutung verhelfen, sofern diese Leitlinie kriminalpolitisch auch tatsächlich belebt wird.

Der „Paradigmenwechsel“ im Sexualstrafrecht (es gab in der 18. Legislatur­periode zwei Reformvorhaben[3] hierzu) wird in zwei Beiträgen behandelt. Reiht man den kurzen Artikel zum Tatbestand der „Verstümmelung weiblicher Geni­talien“, § 226a StGB, im weitesten Sinne ebenfalls noch in den erweiterten Phänomenbereich der „Sexual­straftaten“ ein, sind es sogar drei Wortbeiträge. Exemplarisch heraus­zugreifen sind zum einen der gemeinsame Beitrag von Dr. Eva Högl, einer profilierten Innen- und Sozialpolitikerin und Birgit Neumann zur Verankerung des Grundsatzes „Nein heißt Nein!“ (S. 111 – 123) und der Artikel von Thea Christine Bauer (S. 97 – 110) zu möglichen Implikationen des „Grup­pen­tatbe­standes“ § 184j StGB. Die Auswirkungen der beiden (insbesondere aber der letzteren der beiden) Reformen auf die polizei­liche und justizielle Praxis sind aber (noch) nicht abschließend seriös zu beurteilen, zumal die neu formulierten Tatbestände parallel zunächst nicht aus­reichend spezifiziert in die Poli­zei­­liche Kriminalstatistik (PKS) eingepflegt wurden. Die Folge waren (augenscheinlich) enorme Steigerungsraten im Straftaten­aufkom­men, die – jedenfalls zum Teil – aber auch auf eine Verschiebung der Akzen­tuierung, bspw. von der bisherigen Beleidigung mit sexuellem Hintergrund (§ 185 StGB) hin zum neu ins StGB aufgenommenen Tatbestand der „Sexuellen Belästigung“, § 184i StGB, zurück­zuführen sein dürften. Nicht nur hierüber hat übrigens Elisa Hoven (Jun.-Prof.`in an der Universität zu Köln) in der KriPoZ, Ausgabe 1/2018, S. 2 ff. eine lesenswerte Meta-Analyse von 60 veröffentlichten Textbeiträgen über die Reform des Sexualstrafrechts und deren Wirkungen vorgelegt.

Polizeiwissenschaftlich und strafrechtsdogmatisch interessant ist der Beitrag von Dr. Michael Wagner-Kern (Prof. für Straf-, Strafprozess- und Eingriffsrecht an der Hochschule für Polizei und Verwaltung Hessens) zur „Schutzbedürftigkeit der Staatsgewalt“ und zur Ausweitung der Strafbarkeit für Gewalt gegen Polizei­beamte in den §§  113 und 114 (inklusive der neuen „Gleichstellungs­vorschrift“ des § 115) StGB, nicht zuletzt wegen der Profession des Autors als Hochschul­lehrer an einer Polizeihochschule. Als „zentralen Impuls“ sieht der Autor die „seit Jahren gestiegene Gewalt gegen Polizeibeamte(innen), im Wesentlichen aber  nachgewiesen durch die 2011 eingeführte Opferkategorie in der PKS, was er aufgrund hinreichend bekannter allgemeiner statistischer und perzeptioneller Unschärfen durchaus kritisch betrachtet. Seine Argumentation ist in Bezug auf die Gesetzesgenese nachvollziehbar, er würdigt die Erkenntnisse der inzwischen flächendeckend vorhandenen ergänzenden Lagebilder zur Gewalt gegen Polizei (vgl. nur das Bundeslagebild 2017) m. E. allerdings nicht ausreichend. Das gilt unabhängig von der Frage evidenzbasierter Zweckmäßigkeit der Neuregelung, die in der Literatur vielfältig und überwiegend kritisch kommentiert wird. U. a. verweise ich hierzu nur auf die Anhörung des Autors selbst im Innenausschuss des Landtages RLP am 09.05.2017, in der er seine Kritikpunkte, insbesondere eine „unscharfe Rechtsgut­politik“ und die „Ausweitung eines punitiv angelegten bzw. wirkenden Normen­programms entgegen [empirisch-]wissenschaftlicher Vorbehalte“ ausführlich und pointiert dar­legt. Er bemängelt ferner die spezifische Form der Opferorien­tierung, die – aus seiner Sicht verfassungsrechtlich bedenk­lich – Vollstreckungs­beamte ggü. der Allgemeinheit privilegiere und somit einen gesteigerten Unrechts­gehalt der relevanten Tathandlungen zum Nachteil von Vollstreckungsbeamten im Vergleich zur Allgemeinheit zum Ausdruck bringe.

Der Band ist gesetzesgenetisch nicht durchgängig chronologisch aufgebaut. So werden durchaus auch legislative Spielräume „de lege ferenda“ entwickelt. Bspw. fordert Bleckat (S. 75 – 82) in seinem Aufsatz zum Thema „Mobbing und Cyber­mobbing – Eine Strafbarkeitslücke?“ nach einer Analyse der für dieses vielge­staltige analoge wie auch digitale Phänomen anwendbaren strafrechtlichen Vorschriften einen neuen Tatbestand § 185a StGB in analoger Gestaltung zu         § 107c des österreichischen Strafgesetzbuches – „Fortgesetzte Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems“.

Sehr kritisch setzen sich Christin Armenat und Sebastian Kretzschmann (S. 45 – 58) mit der Ausweitung des Maßregelrechts und dessen Adäquanz zur Verhin­derung terroristischer Straftaten auseinander. Das Maßregelrecht sei hierfür nicht der probate Regelungsrahmen, so die Autoren. Der Gesetzgeber sei im Rahmen des Strafrechts nur zur Sanktionierung und Verhinderung von Unrecht, nicht von reiner Gefährlichkeit berufen, soweit sich diese nicht ausreichend auf tatsächlich bereits begangenes Unrecht stützen könne. Weitergehende Maßnahmen seien ausschließlich dem Rechtskreis des Gefahrenabwehrrechts zuzuordnen, soweit sich nicht im Einzelfall maßnahmen­typisch „Überscheidungen“, wie z. B. bei der elektronischen Aufenthalts­überwachung, die sich auch im Katalog möglicher Weisungen im Rahmen der Füh­rungsaufsicht (§ 68b Abs. 1 Nr. 12 StGB) findet.

Es sind hier nur einige wenige der zahlreichen in dem Sammelband behandelten Reformvorhaben in der gebotenen Kürze inhaltlich angerissen. Im Rahmen eineer kurzen Besprechung habe ich eine individuelle Auswahl vorgenommen. Gleichwohl sind die weiteren Beiträge ebenso lesenswert. So beschäftigen sich z. B. Lüthge und Klein mit dem „Paradigmenwechsel“ im Sanktionen­system des StGB am Beispiel der reformierten, strafrechtsdogmatisch und sanktionsrechtlich mitunter kritisch kommentierten Ausgestaltung des Fahrver­bots als Neben­strafe in § 44 StGB  neu. Ferner kommentiert Jungbluth die expli­zite Aufnahme der „Hasskriminalität“ in die Strafzumessungsvorschrift des § 46 Abs. 2 StGB. Nicht zuletzt setzt sich Generalstaatsanwalt a. D. Klaus Pflieger mit der höchst aktuellen Frage des Straferlasses gem. § 154 StPO für verurteilte RAF-Terroristen auseinander und schließt den Band gleichzeitig auch mit diesem Beitrag.

Der Sammelband erinnert in kompakter, dennoch trotz überschaubarer Seitenzahl akri­bischer und sehr sachgerechter Darstellung und Kommentierung an eine kriminal- und strafrechtspolitisch bedeutsame Legislaturperiode. Man kann die Zeitschrift daher als strafrechtsgeschichtliches Kompendium sowohl zum Gedankenanstoß als auch zur Weiterent­wicklung der hierin entwickelten kritischen Reflexionen und darüber hinaus durchaus auch als „kurzweilige“ strafrechtsdogmatische Lektüre em­pfehlen.

[1] Regierungsdirektor an der „Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung“

[2] Vorher erschienen im Berliner Wissenschafts-Verlag .

[3] 49. Gesetz zur Änderung des StGB – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstraf­recht vom 21.01.2015, BGBl. Teil I, Nr. 2, ausgegeben am 26.01.2015, S. 10 ff. und die große Novelle, der eigentliche „Paradigmenwechsel“, das 50. Gesetz zur Änderung des StGB – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 04.11.2016, BGBl. Teil I, Nr. 52, ausgegeben am 09.11.2016, Seite 2460 ff..

Rezensiert von: Holger Plank