Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft – (Hrsg.) Juliane Karakayali, Doris Liebscher, Karl Melchers – Rezensiert von: Holger Plank

Karakayali, Juliane Prof. Dr. [1] /Kahveci, Çağri Dr. [2] / Liebscher, Doris[3] / Melchers, Carl Dr. [4] (Hrsg.);  „Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft“[5]; ISBN: 978-3-8376-3709-0, 238 Seiten, Transscript-Verlag, Bielefeld, Erscheinungsjahr 2017, 29,99 €

Der NSU-Komplex und seine zahlreichen (z. T. nach wie vor offenen) Fragestellungen hat seit dem öffentlichem Bekanntwerden nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in deren angemieteten Wohnmobil nach einem Banküberfall am 04. November 2011 in Eisenach zahlreiche Institutionen, Ge­richte und Parlamente auf Bundes- und Landesebene intensiv beschäftigt.

Das Hauptverfahren gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, die drei der Beihilfe an den Haupttaten angeklagten André Eminger, Ralf Wohlleben, Carsten S sowie dem Angeklagten Holger Gerlach vor dem OLG München (angeklagt sind zehn Morde, zwei Bombenanschläge und insgesamt 15 Raubüberfälle) befindet sich nach beinahe fünf Jahren Verhan­d­lungs­zeit (seit dem 06. Mai 2013) und inzwischen weit mehr als 400 Verhand­lungstagen auf der „Zielgeraden“. Die abschließenden Plädoyers der Verteidiger der Angeklagten laufen derzeit und dabei offenbart sich abschließend erneut der ganze Abgrund der „Szenerie“.

Derzeit beschäftigen sich noch parlamen­tarische Unter­suchungs­ausschüsse in Brandenburg, Baden-Württemberg (II), Hessen, Meck­lenburg-Vorpommern, Sachsen (II) und Thüringen (II) mit der Thematik. Abgeschlossen sind die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse Bundestag (I & II), Bayern, Baden-Württemberg (I), Nordrhein-Westfalen, Sachsen (I) und Thüringen (I).

Einer der (zögerlichen – wie die Herausgeber im Vorwort konstatieren) Versuche der Wissenschaft, drängende Fragen in diesem Zusammen­hang interdisziplinär zu behandeln, war die Tagung „Blinde Flecken“ an der Humboldt Universität in Berlin im Dezember 2015. Der daraus entstandene und im Jahr 2017 heraus­gegebene Tagungsband vereint zwölf Beiträge, die aus unterschiedlicher Per­spektive auf das Geschehen zurückblicken und die „schwer zu konturierende Gemengelage“ des „NSU-Komplexes“, wie sich die Herausgeber ausdrücken, ein wenig zu ordnen versuchen. Gleichzeitig wagen sie aber auch einen Ausblick auf das, was Politik, Wissenschaft und Sicherheitsbehörden aus den Vorfällen lernen können / sollten. Hierbei werden insbesondere gesellschaftliche, strukturelle und institutionelle Änderungsbedarfe fest­gestellt und -gehalten, an denen auch weiterhin intensiv gearbeitet werden muss.

Auch wenn die Beiträge nunmehr mehr als zwei Jahre „alt“ sind, seither immer wieder neue, bedenkenswerte Tatsachen bekannt geworden sind, berühren sie an vielen Stellen nach wie vor substanziell diskussionswürdige Belange. Die Ta­gungsteilnehmer und Re­ferent(inn)en setzten sich bspw. aus politikwis­sen­schaft­licher, juristischer, soziologischer, rassismuskritischer und linguistischer Perspektive mit der Rolle von Behörden, Justiz, Medien und Gesellschaft in diesem Zusammenhang ausein­ander.

Mit dem Warum? des Mangels an wissenschaftlich gerahmter Aufklärung des „NSU-Komplexes“ beschäftigt sich folgerichtig gleich der einleitende Beitrag der Heraus­geber*innen. Sie bemängeln hierin, u. a. mit Blick auf die Vorlesungs­verzeichnisse der größten deutschen Universitäten (S. 20) z. B., dass Rassismus weder in der Rechts- noch in den Gesellschaftswissenschaften ein etabliertes Forschungsfeld sei, ja dass es überhaupt kaum „empirisch gesättigte kritische Rassismusforschung“ (S. 25) gäbe. Das gelte im Besonderen für Seminare (z. B auf dem Feld der kritischen Polizeiforschung, Sicherheitspolitik und Rechtswissenschaften und -soziologie) mit eindeutigem NSU-Bezug, was sie durch zahlreiche Belege, bspw. auch die Durchsicht (juristischer) Fach­zeitschriften der Jahrgänge 2013 – 2017 zu belegen versuchen

Doris Liebscher hingegen beschäftigt sich an anderer Stelle (S. 81 ff.) mit der Notwendigkeit einer Perspektiverweiterung in der (prozess-)rechtlichen Ausein­andersetzung mit institutionellem Rassismus. Bezogen auf das NSU-Verfahren diskutiert sie u. a. das Spannungsfeld zwischen der normativen Erwartung an die Jurisprudenz, geprägt vom „Bild eines politisch neutralen Rechts“, und den (berechtigten) Opferinteressen, geprägt von einem möglichst umfassenden, alle Akteure einschließenden Blick auf die Geschehnisse, was einer unangemessenen Emotionalisierung (mahnende Stimmen sprächen gar von einer „Politisierung“) und u. U. einer Verletzung von Rechten der Angeklagten Vorschub leisten würde.

Die neue Bundesregierung will offensichtlich nicht nur, aber auch aufgrund der Erfahrungen mit dem NSU-Verfahrens die StPO ändern, um so Strafverfah­ren­zu beschleuni­gen und damit die Justiz zu entlasten. So heißt im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD z. B.: „Wir ermöglichen in besonders umfangreichen Strafverfahren die gebündelte Vertretung der Interessen von Nebenklägern durch das Gericht“ (S. 121, Z. 5694 ff.) Im Klartext würde dies bedeuten, dass bei großen Verfahren mit vielen Geschädigten die Zahl der Opferanwälte eingeschränkt werden würde. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, dass die Gerichte den Nebenklägern Anwälte zuweisen, was aber nach geltendem Recht ein Verstoß gegen das Recht, seinen Anwalt frei zu wählen, wäre. Damit ginge der Verlust einer entscheidenden Komponente opferseitig „situierten Wissens“ im Prozess, eingebracht z. B. über die Nebenklage, wie es Liebscher anmahnt, einher. Angesichts dessen stellt sie mit Dömming et al. die Frage, inwieweit „Recht überhaupt ein geeigneter Ort sein kann, um derartige Taten aufzuarbeiten“, allerdings ohne diese Frage explizit zu beantworten oder einen alternativen Ort zu definieren.

Interessant ist (nicht nur methodisch sondern insbesondere inhaltlich) auch der sprach- und medienanalytische Beitrag von Derya Gür-Şerker et al. auf der Basis von Gerichtsmitschriften und ausgewählten Medien­artikeln über den Prozess (S. 107 ff.), nicht nur wegen der kritischen Bewertung des „medialen verbalen Aussetzers: Döner-Morde“ in der Berichterstattung. Der zusammen­gesetzte Be­griff, „o tempora, o mores““, man erinnert sich leider nur noch vage daran, wurde völlig zurecht im Jahr 2011 als „Unwort des Jahres“ gewählt. Gerade die Linguistik als Wissenschaft der Sprache mit ihren vielfältigen Expertisen, Analysemethoden und Zugängen, das macht der Beitrag deutlich, kann ein für die Gesellschaft wichtiges Thema über den juristischen Kontext hinaus umfassender und systematischer untersuchen und komplementär ver­ständlich machen.

Natürlich darf auch die immerwährende Debatte (vgl. hierzu nur Lüderssen, „V-Leute: Die Falle im Rechtsstaat“, Suhrkamp-Verlag, 1985) über den Einsatz von V-Leuten in dem Band nicht fehlen, hier unter der Konnotation „Staatliche Kollusion im NSU-Komplex“ (Soditt et al., S. 191 ff.).

Dr. Heiner Busch (S. 209 ff.) beklagt im letzten Textbeitrag des Bandes, dass die deutsche Sicherheits­politik und die Sicherheitsbehörden den „NSU-Komplex“ längst auf ihre Weise beigelegt hätten, während Untersuchungsausschüsse und die Öffentlichkeit immer noch um die Aufklärung ringen. Das ist sicher nicht falsch, aber m. E. auch nicht ganz vollständig, wenn man betrachtet, wie akribisch Berichte und Empfehlungen der Untersuchungsausschüsse bei mir bekannten betroffenen Sicherheitsbe­hörden ausgewertet und in Handlungsanweisungen, gemeinsame Dateiformate (z. B. PIAV) und in interne Richtlinien umgesetzt wurden. Schließlich gab es seither auch eine Reihe legislativer Aktivitäten, insbesondere an der Schnittstelle zwischen Polizei und Verfassungs­schutzbehörden. Aber, da mahnt der Autor zurecht, es kann nach einem derart komplexen Verfahren und all den dabei bekannt gewordenen Implikationen nicht von einem auf den anderen Tag „die Akte geschlossen“ werden. Der NSU-Komplex mahnt alle Beteiligten und künftigen Akteure zur dauerhaften Entwicklung eines feinen Sensoriums.

Unter anderem einen Aspekt des Komplexes, die „wehrhafte Demokratie“ (die im Übrigen ja verschiedene, staatliche wie zivilgesellschaftliche Perspektiven bietet), hat einer der Hrsg., Carl Melchers, in einem lesenswerten Interview (August 2016) mit zwei emeritierten Politikwissenschaftlern der FU Berlin (Prof. em. Dr. Ulrich K. Preuß und Prof. a. D. Dr. Hajo Funke), das zugleich den Abschluss des Bandes bildet, nochmals herauszuarbeiten versucht.

Auch wenn einige der Beiträge inzwischen durch eine Reihe neuer Erkenntnisse fortgeschrieben werden könnte (vielleicht müsste), überzeugt der Sammelband durch seine interdisziplinäre Anlage und mit sehr interessanten Beiträgen. Man darf hoffen, dass die bei allen Autoren und den Herausgeber*innen wahrnehmbare Enttäuschung ob des bisherigen Mangels wissenschaftlicher Kontextualisierung des NSU-Komplexes sich nach dem Abschluss des Prozesses vor dem OLG München nicht verfestigt, sondern viele der an der Tagung und dem Sammelband beteiligten Professionen sich an der (weiteren) wissenschaftlichen Aufarbeitung beteiligen werden.

[1] Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit, Berlin.

[2] Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Goethe Universität, Lehrstuhl Prof. Dr. Kira Kosnick, Frankfurt.

[3] Juristin, wiss. Mitarbeiterin an der HU Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Ge­schlechterstudien.

[4] Politikwissenschaftler an der Universität Leipzig, Projekt „German Legal Traditions on Trial“.

[5] Entstanden als Dokumentation der Tagung „Blinde Flecken“ zum Thema NSU-Komplex am 11. Dezember 2015 an der Humboldt-Universität Berlin. Inhaltsverzeichnis auf der Verlags-Website.

Rezensiert von: Holger Plank