Hans-Jürgen Lange / Thomas Model / Michaela Wendekamm (Hrsg.) – Zukunft der Polizei. Trends und Strategien – Rezensiert von: Holger Plank

 Lange, Hans-Jürgen Prof. Dr. [1] / Model, Thomas [2] / Wendekamm, Michaela [3] (Hrsg.); „Zukunft der Polizei. Trends und Strategien“[4]; ISBN: 978-3-658-22590-2, 287 Seiten, Springer VS Verlag, Wiesbaden, Reihe: Forum für Verwaltungs- und Polizeiwissenschaft, Band 2, 2019, 34,99 €

Es handelt sich um den zweiten Band der Reihe „Forum für Verwaltungs- und Polizei­wissen­schaft“.[5] Die Herausgeber haben – neben ihrer Einführung in die Thematik – in den drei Kapiteln

  • gesellschaftliche Trends und Entwicklungen,
  • Lernkonzepte und Organisationskultur,
  • polizeiliche Kompetenzen und Einsatzpraxis,

des aktuellen Sam­mel­bandes 15 unterschiedliche Themenbeiträge / Wortmel­dungen von insgesamt 18 Autoren zusam­men­­­­getragen.[6]

Schon dadurch wird deutlich, dass der Band („Mega“-)Trends und seine Aus­wir­kungen auf die Innere Sicherheit, deren Ausmaß und die damit verbundene Si­cher­heitsarchitektur, Organisation, die Befugnisse der maßgeblichen Akteure und Aspekte der hierzu erforderlichen Änderungen im Rahmen der Aus- und Fortbildung „be­leuchtet“, an­gesichts der gewaltigen gesellschaftlichen, poli­tischen und sozioöko­nomi­schen Herausforderungen naturgemäß aber keine fertigen „Antworten“ oder gar unmittelbar umsetzbare Lösungsansätze liefern kann.

Der Begriff „Mega­trends“, in der Einleitung kategorisiert als „gesellschaftliche Transformationsprozesse“, ist überhaupt eine häufig gebrauchte, facettenreiche Vo­kabel dieses Ban­des und wird inhaltlich z. B. mit den allgemeinen Leit­be­griffen „Globalisierung“ und dadurch (mit-)verursachter „Migration“, „Flexi­bili­sierung“, „gesellschaftlicher Fragmentierung“ und „Digitalisie­rung“ (letztere wird schon aus Grün­den der Häufigkeit ihrer Nennung mitunter auch als der „Megatrend“ des 21. Jahrhunderts bezeichnet) konturiert.

Schon deshalb wäre es vielleicht an­ge­messen, den Titel in Frageform mit einem Fragezeichen zu beschließen, denn die „Zukunft der Polizei“(-arbeit) im Umgang mit derart hervorge­rufenen mannigfaltigen ge­sellschaftlichen, rechtlichen und organisa­torischen / personel­len Heraus­for­derungen im globa­len, supra­nationalen euro­pä­ischen und vor allem in ihrem na­tio­nalen, föderal geprägten Aufbau und Kontext ist zwar grds. normativ sta­tuiert, orga­nisatorisch und hinsichtlich not­wendiger Koope­rations­beziehungen ist eine kon­sis­tente Entwicklung der Si­cher­heitsarbeit durch ge­festigte Strukturen in präventiven wie auch re­pressiven Part­ner­schaften allenfalls auf lokaler / regio­naler, keineswegs jedoch auf na­tionaler bzw. (supra-) nationa­ler Ebene in Sicht. Vielmehr zeigt sich in nahezu allen Bei­trägen der polizeiinternen Fach­lichkeit des Sammelbandes, sei es aus der Voll­zugs­praxis oder dem (Fach-)Hochschulbereich, ein regelrechter „Problemnebel“, hervorgerufen durch mannigfaltige und mitnichten strategisch oder auch taktisch hinreichend durchdachte He­rausforderungen im Bereich der Inneren Sicherheit.

Gleichwohl ist der Sammelband und die in ihm enthaltenen Beiträge hilfreich bei der weitergehenden Anamnese der vielfältigen Implikationen.

Die drei Beiträge des ersten Abschnitts entwerfen zunächst aus soziologischer, aus polizeiwissenschaftlicher-phänomenologischer (v. a. Cybercrime) und aus der Innenperspektive der Polizei (Blickwinkel des BKA) ein Bild der Umfeld­be­dingungen künf­tiger polizei­licher Arbeit, deren notwendiger Neuausrichtung und notwen­diger Priorisierung einzelner Handlungsfelder. Hierbei identifiziert und priorisiert einer der beiden Vizepräsident des BKA, Michael Kretschmer, in seinem Beitrag vier Handlungsfelder, die dringenden (fachlichen und normativen) Veränderungs­bedarf auf institutioneller Ebene der Polizeien erfordern, nämlich

  • die Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus,
  • die gerade aufgrund der Digitalisierung und damit rapide wachsender Daten­mengen erforderliche digitale Ermittlungsunterstützung, notwen­diger­weise begleitet durch „Dienstleistungs- oder Kompetenzzentren“,
  • den vollständigen Neuaufbau der fragmentierten und derzeit wenig effektiven Informationsarchitektur der Sicherheitsbehörden (z. B. im Rah­men der Strategie „Polizei 2020“) sowie
  • den Ausbau bzw. die Verstetigung der internationalen Zusammenarbeit.

Angesichts dieser Handlungsfelder stellt Kretschmer u. a. die Frage, welches An­for­derungsprofil der „moderne Ermittler“ heute und in naher Zukunft erfüllen muss und ob dies polizeiintern mit der bisher bis auf wenige Ausnahmen[7] im Bund und den Ländern angebotenen „Ausbildung zur Einheits- bzw. Generalistenlaufbahn“ gewährleistet werden kann bzw. ob es nicht zusätzlich der weitreichenderen Öffnung der Laufbahnen für externe Expertise bedarf.

Das Thema Personalentwicklung und -management zieht sich deshalb auch zurecht als „Schlüsselthema“ durch den gesamten Sammelband. Schließlich erfordert nicht nur das oben kursiv umrissene Bündel an Heraus­forderungen, sondern auch der Umstand, dass inner­halb der nächsten fünf Jahre rund 30% der Polizeibeamtinnen und -beamten in den Ruhestand eintreten werden, eine abgestimmte Werbestrategie wie auch die Modifizierung der Aus- und Fort­bildungskonzepte auf der Grund­lage neuer, unterschiedlicher „Anfor­derungs-­ und Kompetenzprofile“ für „Spezialisten“ und ggf. modifizierter Grund­kompe­tenzprofile (genannt sei nur das Stichwort „trans- bzw. interkulturelle Kompe­tenz“) für „Gene­ralisten“. Angesichts der demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft wird daher nicht nur das Thema der  Personalgewinnung, also der „Einstellung“, sondern vor allem auch das Thema, wie es der Polizei als Arbeitgeber künftig gelingt, die zur Verfügung stehenden Fachkräfte langfristig an die Organisation zu binden, eine ganz entscheidende Rolle spielen müssen. Hierzu werden in dem Band Themen wie „Diversity und Polizei“, die „Ver­wissen­schaftlichung der Polizeiaus- und -fortbildung“ vs. einer notwendig „praxisgerechten und unterschiedlichen Wegen zugänglichen (Stichwort „E-Learning“) Ver­mittlung von ‚handwerk­lichen‘ Kompetenzen“, ganz allgemein die „Attraktivität des Polizei­berufs“, z. B. aber nicht ausschließlich nur im Rahmen der „Ver­einbarkeit von Familie und Beruf“, für die Alterskohorten der „Generationen Y und Z“ wie auch für die vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und nicht zuletzt ein „modifiziertes Führungsverständnis“ sowie die Entwicklung einer anderen „Feh­lerkultur“ vertieft. Gerade diese Fragestellungen prägen den Band elementar, z. T. mit sehr interessanten Aussagen und Feststellungen, ausschnittsweise z. B.

  • in Bezug auf die vorhandenen und künftig zu erwartenden, erheblich anspruchsvolleren wissenschaftlichen Standards bei der kriminalistischen Spuren­detektion und -auswertung (z. B. mit Vorauswerteprogrammen und -tools vor Ort nach dem Prinzip „lab to the scene“) sowie im Rahmen der forensischen Präsentation derselben, bei der die polizeiliche Zukunfts­fähigkeit auf diesem Gebiet nicht nur in personeller Hinsicht sondern auch wegen notwendiger Standardisierung und länderübergreifender Zertifi­zierungsmaßstäbe sicher auf dem Prüfstand stehen wird,
  • der (Fort-)Entwicklung einer sicherheitsbehördlichen, digitalen (Kri­sen-) Kommunikationskultur, unter dem Diktum „Themen statt Ka­näle“ und ggf. über den Weg eines derzeit noch weitgehend organisations­unüblichen „Corporate Newsrooms“,
  • die wesentliche Herausforderung bestehe nicht so sehr in der Anpassung der Organisationsstrukturen, sondern in der Entwicklung des zur Ver­fügung stehenden Personals.[8]
  • ……..

Problematisch sei vor allem, so Wendekamm und Model weiter, dass die Polizei derzeit personalstrategisch „im Blindflug“ unterwegs sei, wenn es darum gehe, „heu­te die richtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Zukunft einzu­stellen, und wenn es sich dabei nur um die nächsten zehn (und nicht, wie strategisch eigentlich notwendig, die nächsten dreißig) Jahre handele“. Schon des­halb sei es zwingend erforderlich, möglichst schnell „neue Anforderungsprofile des Berufes zu definieren und die Nachwuchs­gewinnung daran auszurichten“. Aus „quantitativen Einstellungsoffensiven müss­ten endlich Bildungsinitiativen“ werden, gerade bei letztgenannter Anforderung sei aber „derzeit ein syste­matischer Stillstand zu beobachten“.

Obgleich mitunter zwischen der derzeit – trotz Erfolg versprechender Einzel­initiativen – üblichen Verwaltungspraxis und den in dem Sammelband definierten Herausforderungen eine „ansehnliche Lücke“ klafft und der Leser dadurch gele­gentlich sogar in ein „düsteres Szenario“ geführt wird, bietet der Sammelband andererseits zahlreiche Ansatzpunkte und Hinweise auf interessante Initiativen und „Best-Practice-Modelle“ (wenn auch z. T. in anderen Ländern), die – den po­li­tischen und administrativen Willen vorausgesetzt – in der Praxis auf fruchtbaren Boden fallen könnten. Aber auch die Praxis selbst hält viele passende Schlüssel bereits in der Hand. Zudem, die Polizei ist und bleibt ein attraktiver und hoch-vertrauenswürdiger Arbeitgeber mit anspruchsvollem, gesellschaftlich akzeptiertem Grundauftrag, der auch dem Werteverständnis der Generationen Y und Z zahlreiche interessante Anknüpfungspunkte bietet, sich künftig zu verpflichten.

Die Beiträge des Sammelbandes bieten durchaus einen erklecklichen Fakten­reichtum, an bestehenden Lücken anzusetzen. Das „Bridging-the-gap“ bleibt allerdings trotzdem eine anspruchsvolle Aufgabe, aber, die Polizei hat in ihrer jüngeren Geschichte zahlreiche große Aufgaben auf allen Führungs- und Vollzugsebenen gemeistert und bewiesen, dass sie vor allem unter Druck mar­kante Innovationskräfte freizusetzen imstande ist. Mir scheint, dass hierzu auch die erforderliche Rückendeckung der Politik und der länderübergreifende Grundkonsens vorhanden ist.

Dennoch, ein wenig bange wird dem aufmerksamen Betrachter dennoch, min­destens wenn er angesichts der Vielzahl der tiefgreifenden strukturellen und organisationskulturellen Herausforderungen an die notwendige wissenschaftliche Begleitung bei der Umsetzung und Evaluierung denkt. Für eine umfassende Begleitung derartig komplexer und anspruchsvoller Planungsschritte fehlt m. E. im Moment die erforderliche akademische Kapazität.

[1] Prof. Dr. Lange, Sozial- und Politikwissenschaftler, Präsident der Deutschen Hochschule der Polizei, Initiator und Sprecher des „Arbeitskreises Innere Sicherheit“ (AKIS) sowie des „Arbeitskreises Politikfeldanalyse Innere Sicherheit“ in der „Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaften“ (DVPW), Herausgeber der Schriftenreihe „Studien zur Inneren Sicherheit“ im Springer Verlag.

[2] Polizeidirektor, Leiter der Akademie der Polizei Hamburg.

[3] Dr. Michaela Wendekamm, Wiss. Referentin des Präsidenten der DHPol.

[4] Vgl. Verlags-Website zum diesem Band.

[5] Band 1, Lange / Wendekamm: Die Verwaltung der Sicherheit, Springer VS Verlag, Wiesbaden, 2018, siehe Inhaltsverzeichnis.

[6] Vgl. Inhaltsverzeichnis des Bandes auf der Website des Verlages.

[7] Vgl. z. B. jüngst Schulz, „Kriminalistik heute – eine Bestandsaufnahme“, in: Kriminalistik (73) 2019, Heft 2, S. 67 – 72. Derzeit gibt es neben dem Bachelorstudium zum Kriminal­kommissar / zur Kriminalkom­missarin beim BKA nur in Berlin, Hamburg, Hessen und Schleswig-Holstein die Möglichkeit, eine solche zielgerichtet für die Kriminali­tätsbekämpfung aufgebaute Ausbildung mit unmittelbarer Erstverwendung bei der Krimi­nalpolizei zu absolvieren. Das Land Brandenburg plant derzeit als erstes Bundesland einen eigenen Masterstudiengang Kriminalistik, der im Jahr 2020 starten soll.

[8] Wendekamm und Model stellen in ihrem Beitrag (S. 261 – 279) sogar fest, dass es derzeit „kein allgemein akzeptiertes, zusammenhängendes und einheitliches polizeiliches Berufsbild gibt“ und fragen sich, ob künftig überhaupt von einem solchen gesprochen werden könne. Sie fragen sich vielmehr, ob „künftig eher von dem Beruf des Polizisten, zu dem unterschiedliche Berufsbilder gehören“ auszugehen sei.

Rezensiert von: Holger Plank