Miriam Yildiz – Hybride Alltagswelten.

Yildiz, Miriam; Hybride Alltagswelten. Lebensstrategien und Diskriminierungserfahrungen Jugendlicher der 2. und 3. Generation aus Migrationsfamilien; transcript-Verlag Bielefeld, 232 Seiten, ISBN 978-3-8376-3353-5, 29,99 Euro

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Auf dem Backcover des Buches wird der Inhalt wie folgt zutreffend und knapp beschrieben: „Migrationsbedingte Vielfalt und durch Mobilität geprägte hybride Lebenswelten sind Teil der gesellschaftlichen Normalität. Dennoch werden Jugendliche zweiter und dritter Generation oft im Zusammenhang mit Sicherheitsproblemen, Integrationsfragen und sogenannten ›sozialen Brennpunkten‹ thematisiert.Wichtige Handlungs- und Deutungsressourcen – sowohl für die Soziale Arbeit als auch für die kulturelle und pädagogische Praxis – bleiben aus diesem einseitigen Blickwinkel jedoch unerschlossen. Miriam Yildiz kehrt die Perspektive um: Sie rückt Ressourcen, Lebenspraxen und Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen systematisch in den Mittelpunkt und bietet damit erkenntnisreiche Einblicke jenseits von Stereotypisierungen.“

Es geht also darum, dass der Blick (endlich einmal!) weg von dem „Ethnischen“ (oder, wie es aktuell wieder in geschichtlicher Ignoranz genannt wird, dem „völkischen“) zu wenden und der in der Kriminologie längst bekannten, in der Kriminalpolitik leider immer wieder bewusst „vergessenen“ Frage nachzugehen, was denn die tatsächlichen Ursachen für Kriminalität, Fundamentalismus und Terrorismus sind. Das sind nämlich nicht die „ethnischen Eigenschaften“ (sofern es diese überhaupt gibt), sondern die sozialen Bedingungen, unter denen diese Menschen aufwachsen und leben. Der Mainzer Pädagoge Franz Hamburger hat dies 2006 so umschrieben: „Die Mechanismen einer sel-fulfilling prophecy in dem Sinne, dass schon längst integrierte Migranten in ihrer doppelten Zugehörigkeit verunsichert werden, sind unübersehbar“ (zitiert auf S. 55 des Buches).

„Ethnisierung und Kriminalisierung“ (S. 61) gehen daher einher, und wir täten gut daran, uns weniger auf die „Ethnie“ (die oftmals auch weniger genau bestimmt werden kann, als sich mancher Bio-Deutsche denkt) zu konzentrieren, sondern darauf, welche Lebenschancen wir diesen Menschen einräumen – oder eben nicht. Biographien sind „sperrige Hybriden, die für Eindeutigkeiten nicht taugen“ – so zitiert die Autorin auf S. 75, und beschreibt auf den folgenden Seiten die Überlebenskunst der „Migranten“.

Der empirische Teil ihrer Studie ist in Köln-Chorweiler angesiedelt, einem Stadtteil, der es sogar zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht hat[1] und der immer wieder einmal im Zusammenhang mit den angeblichen „rechtsfreien Räumen“ genannt und zu den „11 gefährlichen Gegenden“ in Köln[2] gerechnet wird. Die Interviews, die Yildiz dort führt, und die Beobachtungen, die sie beschreibt, machen deutlich, wie sich die Bewohner dieses Stadtteils einerseits permanent diskriminiert und von der Polizei aus rassistisch verfolgt fühlen und wie sie andererseits ihre eigenen „hybriden Alltagswelten“ aufbauen, ihre Lebensstrategien entwickeln, um zu überleben.

Wir brauchen, und dieses Fazit zieht Yildiz am Ende ihres Buches (S. 204 f.), „einen Blickwinkel, der das Leben in solchen Stadtquartieren und die individuellen Lebenspraktikern der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im gesamtgesellschaftlichen und globalen Kontext vorortet, diskutiert und unterschiedliche Aspekte wie institutionelle, lebensweltliche und zivilgesellschaftliche Bedingungen zusammenführt“. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Jugendlichen dort besondere (Über-) Lebensstrategien und neue „urbane Kompetenzen“ entwickeln. Unsere Aufmerksamkeit sollte mehr auf das Positive und die „banalen Handlungen des alltäglichen Lebens“ gerichtet sein. Nur, wenn wir dies tun und die Personen als eigenständige Individuen wahrnehmen, werden wir ihnen gerecht. Und darum sollte es doch gehen – oder?

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Chorweiler dort liest man, dass 1989 bis 1997 eine Trägergesellschaft aus Stadtplanern, Architekten und Sozialarbeitern, die Gesellschaft für Stadterneuerung mbH (GfS) eingesetzt wurde. Neben der Verbesserung des Wohnumfeldes standen vor allem auch die Arbeitsplatzbeschaffung und die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Situation im Mittelpunkt. Als Maßnahme gegen die vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit des Stadtteils wurde ein Handwerkshof gegründet, in dem neben Handwerksbetrieben auch verschiedene Programme der Berufsvorbereitung, Weiterbildung und Qualifizierung stattfanden; außerdem gab es soziale Beratungsstellen. Der Handwerkshof wurde zu einem Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen. Die GfS wurde 1996 aufgelöst. Im Jahr 1997 wurde die Sanierung des Stadtteils in das NRW-Landesprogramm Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf – Soziale Stadt einbezogen, das einen starken Fokus auf die Kinder- und Jugendarbeit legt.

[2] S. die Nachweise bei http://www.piratenpartei.koeln/2014/07/07/rechtsfreier-raum-strasse-elf-gefaehrliche-gegenden-in-koeln/

Rezensiert von: Thomas Feltes