Dr. Sven Großmann – Liberales Strafrecht in der komplexen Gesellschaft. Über die Grenzen strafrechtlicher Verantwortung

Großmann, Sven Dr.; Liberales Strafrecht in der komplexen Gesellschaft. Über die Grenzen strafrechtlicher Verantwortung[1]; (ISBN: 978-3-8487-3560-0, 374 Seiten, Nomos Verlag, Reihe: Studien zum Strafrecht, Band 78, Baden-Baden, 2016, 97.- €)

In seiner im Juli 2016 an der Universität in Hamburg angenommenen Dissertation geht Großmann[2] auf den ambivalenten, daher modi­fizierungs­bedürftigen Verantwor­tungsbegriff in modernen, komplexen (Risiko-)Gesell­schaften ein, in denen die – v. a. eben jener Komplexität geschuldete – Unüber­schaubarkeit der Kausalverläufe zur Unsicherheit, mitunter sogar zu irrationaler Angst bei den in ihnen lebenden Menschen beiträgt. „Der Ruf nach Verant­wortung erklinge gerade dort laut, wo deren Bestimmung besonders proble­matisch ist“, so der Autor.

Die kriminalpolitischen Aktivitäten der vergangenen Jahrzehnte zeigen dann auch in Reaktion auf diesen Umstand, „dass der Gesetzgeber in großem Umfang versucht, diesem wachsenden (indifferenten) Bedrohungsempfinden der Gesell­schaft vor kollektiv verur­sachten Gefahren mit dem Mittel des Strafrechts (häufig auch in Form des Schutzes unpräziser „Universalrechtsgütern“, die eher in Gestalt „wolkiger Allgemeininteressen“ daherkommen) zu begegnen.“ Be­sonders hervorzuheben sei dabei auch „die zunehmende Vereinnahmung des klassischen Gefahrenabwehrrechts durch das Strafrecht.“[3] Dies sei aber eben gerade nicht „der für das liberale Strafrecht konstitutive Gedanke, (nämlich) dass der Staat Freiheit nicht nur durch das, sondern vor allem auch vor dem Strafrecht zu gewähren hat“, so der überragende Leitgedanke (S. 47) der Arbeit Großmanns.

Großmann untergliedert seine Arbeit nach einer umfänglich und überaus informativ aufgebauten Einleitung mit den abschließenden Fragestellungen der Dissertation in weitere drei Kapitel, denen er jeweils eine Zusammenfassung, dem vierten Kapitel mit weitgehend noch offenen Fragestellungen zur Verbands­verantwortlichkeit (s. u.) zusätzlich noch einen Ausblick anhängt. Die Anlage der Arbeit ist insofern progressiv, als der Betrachter nach einem umfänglichem Problemaufriss in der Einleitung keine zusammenfassende Ergebnisdarstellung in einem Schlusskapitel, sondern eine auf das jeweilige Kapitel bezogene Darlegung von Schlussfolgerungen erhält. Diese Zusammen­fassungen sind hierdurch allerdings sehr spezifisch.

Zunächst reflektiert er im zweiten Kapitel auf die „Grundlagen liberalen Straf­rechts“ und behandelt in diesem Abschnitt philosophische Fragen. U. a. geht er auf die Theorie der Entstehung des Gesellschaftsvertrages und das „ultima-ratio-Prinzip“ mit seinen zentralen Ausprägungen ein, bspw. das seinem o. g. Leitgedanken folgende Subsidiaritätsprinzip strafrechtlichen Rechts­güter­schutzes und gerade jüngst häufig festzustellender Implikationen des „Miss­brauchs des Rechtsgutes als kri­mi­nalpolitisches Werkzeug“, abseits klassischen Tatstrafrechts in Form des Verletzungsdeliktes. Er erläutert ferner die Bedeu­tung des „Gesetzlichkeits­prinzips“, hierbei insbesondere das Bestimmtheits­gebot und das Analogieverbot und geht, das Kapitel abschließend, auf das Fundament staatlichen Strafrechts, nämlich das Prinzip der individuellen Schuld ein. Hierbei plädiert der Verfasser durchaus für eine dem gesellschaftlichen Wandel geschuldeten, maßvollen Fort­entwicklung des Strafrechts, aber bitteschön auf dem Boden der unsere Gesellschaft auszeichnenden Liberalität! Die Grundsätze liberalen Strafrechts basieren – wie bereits dargelegt – auf der Philosophie des Gesellschaftsvertrages und finden im „Ultima-Ratio-Prinzip“ ihre rechtsstaatliche Grenze. Vor allem – und hier setzt Großmann bereits zur Überleitung auf das dritte Kapitel (s. u.) an – sei „liberales Strafrecht ein an der feststellbaren Rechtsgutbeeinträchtigung orientiertes Tatstrafrecht“. Es dürfe sich bei der Strafbegründung nicht an der Person des Täters orientieren, sondern nur am Ergebnis seines Verhaltens (und dieses nach dessen individuellen – schuld­haften – Tatbeitrag bemessen), denn „Strafrecht als ultima ratio sei das staatliche Mittel zur Bewertung und Bestrafung bereits begangener Rechts­gutbeeinträchtigungen“ und darf demnach „nicht zur konkreten Verhütung ggf. bevorstehenden Unrechts oder einer Kriminalisierung böser Gesinnungen missbraucht werden.“ Nur so könne das „Strafrecht seine friedensstiftende und freiheitssichernde Funktion auch weiterhin erfüllen und damit seiner Rolle in der Grundrechtsordnung unseres Rechtsstaates gerecht werden.“

Im dritten Kapitel widmet er sich intensiv dem Konzept strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes und deutet dabei die Ambivalenz „individualstraf­recht­lichen Rechtsgüterschutzes in Zeiten komplexer Bedrohungslagen“ vs. schützens­werter Universalrechtsgüter bis hin zur kritischen Vorverlagerung des Rechtsgüterschutzes am Beispiel des Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten (GVVG) nebst dessen Änderungs­gesetzen mit seinen Kernbestandteilen der §§ 89 a – c und 91 n. F. StGB aus. Dabei hegt er grds. keine Zweifel an der grundsätzlichen Legitimität und Notwendigkeit eines strafrechtlichen Schutzes überindividueller Rechtsgüter, weist aber zugleich darauf hin, dass ein strafrechtlicher Schutz überindividueller Rechtsgüter nur dann angestrebt werden darf, wenn diese auf konkreten menschlichen Interessen fußen. Wenn diese aufgrund der engen Zurechnungs­strukturen des Individualstrafrechts nicht erreicht werden können, darf schon wegen des Subsidiaritätsprinzips keine Umgehung durch Universal­rechtsgüter erfolgen, so der Verfasser. Besonders kritisch bewertet Großmann gesetzge­berische Tendenzen, den strafrechtlichen Verantwortungsbereich von Individuen in den zumindest nach klassischem Verständnis zwingend straflosen Bereich bloßer Vorbereitungshandlungen auszudehnen und damit auch den Grenzbereich zwischen Strafrecht und klassischem Gefahrenabwehrrecht zu verwischen, wie es zum Teil im jüngeren Terrorismusstrafrecht erfolgt.

Im vierten Kapitel widmet sich der Autor dem weiten und noch lange nicht abschließend ausgedeuteten Feld straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verantwortung von Verbän­den, abseits des individuellen strafrechtlichen Schuld- bzw. Verantwortungs­prinzips.

Dr. Großmann ist ein sehr ansprechendes Werk und ein liberal-rechtsstaatliches Plädoyer für ein eingehegtes, streng an der engen Rechtsgutlehre, dem indivi­duellen Schuldprinzip und an strengen Verhältnismäßigkeitserwägungen ausge­richtetes Strafrecht gelungen. In seiner schlüssigen Argumentation und Abwä­gung gängiger kriminalpolitischer „Herausforderungen“ bleibt er bei ausrei­chender Offenheit für eine dem gesellschaftlichen Wandel geschuldeten, maß­vollen Fortentwicklung und Anpassung des Strafrechts durchgängig seinem Eingangs­zitat vor Kapitel 1 von Friedrich Carl von Savigny treu:

„Alles Recht ist vorhanden um der sittlichen, jedem einzelnen Menschen innewohnenden Freiheit willen.“[4]

[1] Vgl. Inhaltsverzeichnis auf der Verlags-Website des Nomos Verlags: http://www.nomos-shop.de/_assets/downloads/9783848735600_lese01.pdf, zuletzt abgerufen am 11.02.2017.

[2] Zur Zeit als Rechtsreferendar am Kammergericht Berlin tätig (vgl. das Profil des Autors auf der Plattform LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/sven-großmann-9376ba133/).

[3] Unter weitreichender Abkehr des strafrechtseinschränkenden Einzeltatschuldprinzips soll das Strafrecht nunmehr präventiver konkrete Einzelgefahren abwehren bzw. bereits deren Entstehung (z. B.  durch die verstärkte Einführung abstrakter Gefährdungsdelikte und die Kriminalisierung bloßer Vorbereitungsdelikte) verhindern, wie der Autor (S. 48) in diesem Zusammenhang mit Verweis auf Hassemer konstatiert. Dabei zitiert er passender Weise eine Aussage des 2014 verstorbenen ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesver­fassungsgerichts zu diesem Paradigmenwechsel im Strafrecht: „ (…) Plakativ gesprochen, geht es auch im Strafrecht nunmehr nicht mehr um eine angemessene Antwort auf Vergangenheit, sondern um die Bewältigung von Zukunft.“

[4] Savigny, 1840, System des heutigen Römischen Rechts, Zweiter Band, S. 2.

Rezensiert von: Holger Plank