Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur – Andreas Bernard – Rezensiert von: Holger Plank

Bernard, Andreas  Prof. Dr.[1]; „Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur“; ISBN: 978-3-103-97301-3, 240 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main, Er­scheinungsjahr 2017, 24.- €

Ein durchaus ungewöhnliches, gerade für Kriminalisten und Kriminologen interessantes Buch, das daneben einen (wenn auch nur einzelnen und sicher dünnen) Strang des digitalen Nervs unserer Zeit charakterisiert, sollte in einem kriminologisch-polizeiwissenschaftlichen Buch-Blog wie diesem auch einmal auf eine etwas andere Art besprochen werden. Ungewöhnlich deshalb, weil der Autor, Andreas Bernard[2], geboren 1969 in München, Literatur- und Kultur­wissenschaftler, Journalist, inzwischen Professor am „Center for Digital Cultures“ der Leuphana-Universität Lüneburg, „analoge“ kriminologisch-krimi­nalistische Überlegungen und Begriffe (vor allem rund um den des „Profils“, bekannt aus dem krimi­nalistischen Kontext, nämlich der „Signalementslehre“ eines Alphonse Bertillon und von diesem Ausgang des 1900 Jahrhunderts als „Portrait parlé“ konturiert) in die „Selbstverwirklichung“, wie sie für die Nutzer „digitaler Welten“ der Netzwerke heute offenkundig üblich, ja mitunter sogar Gewinn bringend zu sein scheint, überträgt und „digital-ätiologisch“ untersucht. Warum also nicht den Autor einleitend selbst zu Wort kommen lassen?[3]

Wir sprechen im Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten, die sich jedem von uns im Internetzeitalter bieten, von digitalen Errungenschaften. Mit Blick auf die Geschichte entdecken sie jedoch Parallelen, die etwas Bedrohliches haben. Was genau?

„(…) Es ist richtig: Heutzutage haben diese Technologien einen unglaublich durchschlagenden Erfolg. (…) Was durch diese Erfolgsgeschichte aber überstrahlt wird, ist die Herkunft dieser Technologien – die bleibt im Dunkeln. Genau die aber interessiert mich: Woher kommt es, dass wir vor 20 oder 30 Jahren den Begriff „Profil“ ausschließlich in Zusammenhang mit Serienmördern genutzt haben? Wir sprachen in der Kriminologie vom „Täterprofil“, in der Psy­chiatrie beim „Wahnsinnigen“ vom „Patientenprofil“. Oder nehmen wir die Lo­ka­li­sierungsfunktion des Smartphones per GPS. Die Anfänge liegen in der Militärforschung und wir kennen diese Technik auch in Zusammenhang mit Verbrechern, denen Fußfesseln angelegt werden. Betrachten wir zum Schluss die Herkunftsgeschichte von Selbstvermessungstechniken bei Fitnessuhren: Die Daten aus Körpermessungen, die man heute freiwillig hergibt, wurden früher genutzt, um über den Lügendetektor die Wahrheit zu ermitteln. Gebrauch und Ruf dieser Anwendungen haben sich in der zurückliegenden Zeit also unglaublich gewandelt.“

Was aber das Bedrohliche ausmacht, ist doch, dass es in dem ursprünglichen Kontext immer einen Feind als Gegenüber gibt ….

„Genau, deswegen spreche ich auch von „Komplizen des Erkennungsdienstes“. Der Justizbeamte, der den Delinquenten an den Lügendetektor schnallt, steht in einem Verhältnis der Rivalität. Wir aber sind bei unseren Aktionen die Komplizen dieser Technologien. Das kann allerdings jederzeit umschlagen. Dazu ein kon­kreter Fall: Vor etwa zwei Jahren hat eine Frau ihren Chef der Vergewaltigung bezichtigt. Sie gab an, bei ihm übernachtet zu haben, im Schlaf habe er sie dann überwältigt. Für die polizeilichen Ermittlungen stellte die Frau ihr Fitbit-Band zur Verfügung, das sie die ganze Zeit über getragen hatte. Die Datenauswertung ergab schließlich: Sie war die ganze Nacht über aktiv und wach – und hatte damit nicht die Wahrheit gesagt. Im Endeffekt wurde sie wegen Falschaussage ange­klagt. Was ich damit sagen will: Die Errungenschaft kann also jederzeit wieder in den alten polizeilichen Zusammenhang gedreht werden.“

Warum haben wir das Bedürfnis, so viel von uns preiszugeben?

„(…) Ich glaube, dass diese Konjunktur der selbstgestalteten Profile in Zusam­menhang gesehen werden muss mit bestimmten Entwicklungen auf dem Arbeits­markt, die Erwerbsbiographie hat sich stark verändert. Gerade junge Menschen leben heute mit der Unsicherheit, dass sie eine Kette von befristeten Verträgen durchleben. Vor diesem Hintergrund scheint es ihnen wichtig, ein „Profil“ zu pflegen, es ständig zu optimieren und sich attraktiv zu präsentieren. Der zweite Grund hat mit der Verführungskraft jener Erzählung zu tun, die seit den 1980er Jahren von den Computer- und Internet-Pionieren des Silicon Valley ausgebreitet worden ist. Sie beinhaltet, dass „Kommunikation“ und „Vernetzung“ unbedingt erstrebenswerte Kategorien sind, genauso wie der Wunsch, eine „Community“ zu bilden. Diese Erzählungen haben in den letzten dreißig Jahren weltweit eine unglaubliche Macht enfaltet. Ich glaube, dass dieses Versprechen, „Gemein­schaft“ zu erleben, so verführerisch ist, dass die Herkunft der zugehörigen Tech­no­logien und Geräte in den Hintergrund gedrängt wurde.“

Zusammenfassend auf den Punkt gebracht: „Was an den Verfahren heutiger Selbstrepräsentation und Selbsterkenntnis auffällt ist der Umstand, dass sie allesamt auf Methoden zurückgehen, die in der Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erdacht worden sind.“

Bernard konstatiert also, dass das Subjekt offenbar nicht mehr wie früher durch direkte Zwangs- oder versteckte Kontrollmaßnahmen in Schach gehalten werden müsse. Es mache sich im Netz frei verfügbar und verstehe das auch noch als Akt der Selbstermächtigung und der autonomen Vernetzung. Damit macht es sich aber selbst zum „Objekt“. Oder: „Von der Disziplinarmacht des 19. über die Kontroll­macht des 20. scheint der Weg seit der Wende zum 21. Jahrhundert also zu einer dritten Ausprägung geführt zu haben, die man ‚Präventionsmacht‘ nennen könnte oder ‚Internalisierungsmacht‘. Sie sorgt dafür, dass Archive der Erfassung oder Normvorstellungen des Lebens nicht mehr von einer äußeren Instanz durchgesetzt werden müssen, sondern bereits kollektiv verinnerlicht sind. Ein Profil anlegen, den eigenen Standort mitteilen! Gläsern werden! Imperative, die sich inzwischen von selbst verstehen, die sich von Weisungen in Wünsche verwandelt haben“, wie Hubert im Rahmen seiner Buchbesprechung ebenfalls im November 2017 auf WDR 3 schreibt, die er letztlich mit der Bewertung schließt: „(…) Eine über­zeugende Gesamttheorie des digitalen Selbst liefert Bernards Buch nicht. Trotzdem ist es lesenswert. Denn es macht eindringlich bewusst, was sich historisch geändert hat, wenn heute Millionen Menschen nicht die Furcht, sondern die Sorglosigkeit vor der Überwachung verinnerlicht haben.“

Die heutigen Formen der Selbstverwirklichung gehen also auf die Überwachungstechniken von gestern zurück. Das ist doch ein erstaunlicher Befund angesichts der allgegenwärtigen Gefahren des Missbrauchs und der „schieren Allmacht“ von global aufgestellten Internet-Mega-Konzernen wie „Google“, „Facebook“ und Co.. Man kann den Eindruck gewinnen, gerade die „digital natives“ seien in der Bedienung der Technik und Anwendungen bis in die tiefsten Ebenen der Hard- und Software unglaublich fingerfertig. Ihre Sorglosigkeit dabei verhält sich jedoch umgekehrt proportional zu den Fähigkeiten. Gesundes Misstrauen, hier unterscheidet sich wohl die digitale Welt immer noch am deutlichsten von der analogen, fehlt hierbei weitgehend. Letztlich begebe sich aber jeder von uns im Cyberspace (mitunter) unbedacht in einen überwachten Zustand, der nicht nur an George Orwells Buch 1984 erinnere. Allerdings, „bezogen auf die medialen Bedingungen, unter denen wir heute lebten, seien Dystopien wie der Orwell-Roman längst überboten“, wie Welty (Deutschlandfunk Kultur) in einem Interview vom September 2017 mit dem Autor bemerkt.

Wir, die Subjekte des Internetzeitalters, schreibt Bernard in diesem Zusam­menhang in seiner Studie, „verhalten uns also zu uns selbst wie Polizisten und Psychiater zu Delinquenten und Patienten. Wir ermitteln verdeckt gegen uns selbst.“ Und er fährt mit einer weiteren interessanten Aussage fort: „Es gehöre zu den auffälligsten Kennzeichen der Gegenwart, dass Prozesse der Normierung und Regulierung von Menschen, die bis vor wenigen Jahrzehnten von einer staatlichen, wissenschaftlichen oder polizeilichen Instanz gesteuert worden sind, nun auf die betreffenden Individuen übergehen.“ Dies korrespondiert übrigens mit einer nachdenkenswerten Kolumne in der Süddeutschen Zeitung. Wenn nämlich ein namhafter Rechtspolitiker wie der ehemalige Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung vom 10.04.2017[4] feststellt, der „natürliche Gefährder informationeller Selbstbestim­mung des Bürgers, nämlich der Staat, sei längst gebändigt“, lässt das aufhorchen. Andererseits akklamiert er nämlich, der Bürger müsse durch den Staat stärker in seinen Datenschutzrechten gegenüber der Wirt­schaft (also auch den Mega-Internet-Konzernen) geschützt werden! Sehr bemerkenswert, wie ich meine, nicht nur für einen ehemaligen FDP-Justizminister sondern auch inhaltsschwer in der Sache selbst, wenn darunter zu verstehen wäre, der Staat müsse „digital nerds“ in ihrem „digitalen Selbstbestimmungsrecht“ beschränken. Hier lässt sich ein unmittelbarer „wettbewerbsrechtlicher Aufschrei“ prognostizieren.

Wir machen uns also offenkundig selbst – und in Umkehrung der damaligen kriminalistischen Absicht, „deviantes Verhalten durch physiologische Anomalien zu erklären und sich dabei mit empirischen Methoden von den narrativen Formen der Psychoanalyse zu lösen“[5] – inzwischen wieder zum Erkenntnisgegenstand, zum „Objekt“. Dieses Mal seien aber wir selbst die Agenten, das Werkzeug nicht mehr die „phrenologische Schieblehre“ eines Lombroso oder anderer Exegeten falscher kriminologischer „Wahrheiten“ sondern der klandestine Algorithmus.

Die bereits zitierte Marie Schmidt (vgl. Fn. 5) schließt ihre Besprechung mit dem Wunsch nach einer „zweiten, nichtpolizeilichen genealogischen Begrün­dungslinie, um die Anziehungskraft der Selbstkultivierung im Digitalen besser verstehen zu können“. Ihr greift der Ansatz Bernards also zu kurz. Hierzu zitiert sie den Soziologen Andreas Reckwitz. Der habe jüngst[6] nämlich argumentiert, dass die „Besonderheit des Selbst gerade im Internet stark und einseitig mit positiven Affekten aufgeladen werde, dass der Mensch sich im Internet in einem ‚Echoraum des Begehrens‘ aufhalte, ‚der die Wünsche erfüllt, bevor sie überhaupt artikuliert werden‘.“ Diesen Aspekt der Wunscherfüllung müsse man sich dazu denken, um zu begreifen, „warum die vernetzten Subjekte ihr Leben als ‚Komplizen‘ ihrer eigenen Verdinglichung, als Polizisten ihrer Selbst, womöglich gar nicht als Problem empfinden, sondern (vielleicht sogar) sehr genießen.“

Diesem Wunsch kann man durchaus beipflichten, wenn man das Buch nur als soziologischen Analyseversuch versteht und liest. Hierzu ist es zwar formal, aber inhaltlich sicher nicht vollständig abgeschlossen. Dem Kriminologen hingegen bieten sich viele interessante Denkansätze und erstaunliche „Analogien“ zu den Grundlagen der eigenen Wissenschaft. Schon aus diesem Grund bleibt es – ich bleibe bei meiner Eingangsformulierung – ein ungewöhnliches und lesenswertes Buch, welches an dieser Stelle durchaus einmal auf eine etwas andere Art, vorwiegend mit den Worten des Autors selbst und einigen Kommentaren hierzu, besprochen werden darf.

Statistisches zum Abschluss. Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel und leitet mit der Geschichte des „Profils“ ein. Es folgen drei Abschnitte zu den Themen „Ortung“, der „Quantified-Self-Bewegung“ – umschrieben mit „Leibesvisitation und Vermessung des Körpers und zur „Umschichtung eines Menschenbildes“ im Spannungsbogen zwischen „Erfassungsangst und Erfassungslust“. Das kurze Fazit, Kapitel 5, umschreibt Bernard mit „Die Macht der Verinnerlichung“.

[1]  Prof. Dr. Andreas Bernard, Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien der Leuphana-Universität, Lüneburg

[2] Erstaunlich ist im Übrigen, wie sich Bernard an sein Buch „herantastet“, dem Thema über einen längeren Zeitraum nachgeht, wenn man sich nur seinen Beitrag in der FAZ vom 28.05.2015 über „die neue Präventionskultur“ betrachtet.

[3] Hierbei greife ich auf Ausschnitte eines kurzen Interviews, welches Urte Modlich von der Universitätskommunikation der Leuphana-Universität im November 2017 mit dem Autor geführt hat, zurück.

[4] Unter der Rubrik „Außenansicht“ und unter dem Titel „Außer Kontrolle“.

[5] Wie Marie Schmidt am 19.12.2017 in einer Buchbesprechung bei ZEIT online schön formuliert.

[6] Sie meint damit dessen 2017 erschienenes Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“.

Rezensiert von: Holger Plank