Max Hermanutz, Sven Litzcke – Unterscheidung von Wahrheit und Lüge – Vernehmungsexperimente – Rezensiert von: Thomas Feltes

Hermanutz, Max, Litzcke, Sven; Unterscheidung von Wahrheit und Lüge – Vernehmungsexperimente; Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt 2018, ISBN 978-3-86676-549-8, 322Seiten, 34,90 Euro

Ein Experiment, das die Autoren u.a. an der Hochschule derPolizei in Baden-Württemberg und an einem Gymnasium gemacht haben (und das indem Buch vorgestellt wird), zeigte folgendes: „In der Gesamttrefferquote (der Unterscheidung zwischen falschen undrichtigen Aussagen, TF) zeigten sich keine eindeutigen Unterschiede zwischenden Kontrollgruppen und Experimentalgruppen. … die erfahrenen Polizeibeamten(konnten) … insgesamt schlechter die Wahrheit von der Lüge unterscheiden (…)als unerfahrene Testpersonen. … Gymnasiasten … erzielten bessere Trefferquoten als erfahrene Polizeibeamte“ (S. 188). Die Autoren kommentieren dies ebensolapidar wie zutreffend: „Erfahrung ist kein Wert an sich“ (aao.) – auch in besonders nicht bei Polizeobeamten.

Die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge in Ermittlungsverfahren ist immer dann besonders relevant, wenn keine Sachbeweise vorliegen, und man sich ausschließlich auf Aussagen von Zeugen oder Beschuldigten verlassen muss. Viele Anklage, aber auch viele Verurteilungen hängen im wahrsten Sinn des Wortes an diesen Aussagen. Experimente zeigen durchgängig, dass es meist schwer ist, Wahrheit und Lüge korrekt zu erkennen. Dies liegt daran, dass die Unterschiede zwischen Wahrheit und Lüge hinsichtlich verbaler, nonverbaler und paraverbaler Art subtil sind und individuell variieren. Menschen, die lügen, zeigen nicht unbedingt spezifische Merkmale, die sie verraten könnten. Letztendlich gibt es, so die Autoren, keine klaren Kriterien, mit denen man sicher zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann. Allerdings gibt es Merkmale, mit denen wahre und gelogene Aussagen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit voneinander unterscheidbar sind. Zur Erfassung von solchen Merkmalen sind strukturierte Vernehmungsmethoden ein wichtiges Hilfsmittel.

Genau darum geht es in dem Buch.

Eine fehlerhafte Einstufung einer Aussage als Wahrheit oder Lüge im Ermittlungsverfahren kann zu fehlgeleiteten Ermittungsansätzen und im Ergebnis zu Fehlurteilen führen – vor allem dann, wenn diese Ausgangsermittlungen und –bewertungen im Sinne einer „self fulfilling prophecy“ (also einer sich selbst erfüllenden Vorhersage) sich dann durch das gesamte Verfahren ziehen und sich z.B. keine Strafverteidiger finden, die im Stande und bereit sind, solche Ermittlungen zu hinterfragen. Menschen tendieren nun mal dazu, eine einmal getroffene Annahme möglich zu stützen und zu verteidigen. Umso wichtiger ist es, solche Ausgangsannahmen immer und überall mit der nötigen Zurückhaltung zu versehen (und dies bspw. auch in den Ermittlungsakten zu dokumentieren).

Unkritische Bewertungen von Aussagen sind die Hauptursachen für Fehlurteile (S. 12), vor allem, wenn „Ermittlungsfehler oder blinde Flecken, aber auch konstruierte Tatbilder der Polizei durch die Staatsanwaltschaft übernommen und einer Anklage zugrunde gelegt werden“ (aaO.). Wenn dann noch die schlampige „Arbeit“ der Staatsanwaltschaft vom Gericht nicht hinterfragt, sondern übernommen wird (weil man das gemeinsam so eingeübt hat), ist das Ergebnis vorhersehbar.

In dem Buch wird zu Beginn ein Überblick über die Grundproblematik der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge gegeben und die Geschichte sowie die wissenschaftliche Diskussion der Aussagenbewertung beschrieben. Danach stehen eigene und Experimente von anderen Wissenschaftlern im Mittelpunkt, bevor am Ende auf die Trainierbarkeit von richtigen Vernehmungen eingegangen wird. Immer wieder erfolgen praxisnahe Hinweise, welche Fehler man bei Vernehmungen machen kann, aber nicht machen sollte.

Zwar kommen die Autoren am Ende zu dem Ergebnis, dass es schwer ist, Wahrheit und Lüge zu erkennen. Aber gerade dies muss dazu führen, dass z.B. auch die Dokumentation von Vernehmungen mit mehr Sorgfalt durchgeführt wird, als dies leider zu oft der Fall ist und Vernehmungen strukturiert und nicht als Frage-Antwort-Spiel durchgeführt werden. Fehler, die hier im ersten Stadium der Ermittlungen gemacht werden, können später nicht mehr beseitigt werden. Und: Menschen, die lügen, haben eben keine klaren Merkmale, die sie verraten (S. 246), wie dies oft behauptet wird. Die Autoren gehen sogar so weit zu fordern, dass Merkmale wie Mimik und Gestik in der Praxis zu Fehleinschätzungen führen und bei der „Wahrheitsfindung“ ausgeblendet werden sollten – ungeachtet dessen, ob es im Ermittlungsverfahren überhaupt möglich ist, die oder ein „Wahrheit“ zu finden. Ermittler müssen deshalb versuchen, Aussagepersonen durch angemessene Fragen dazu zu bringen, offen und umfassend auszusagen. Wie dies geschehen kann, stellen die Autoren in ihrem Buch vor.

Zu oft würden „Bauchentscheidungen“ von Polizeibeamten getroffen, auch und gerade in alltäglichen Situationen, wo langes Nachdenken nicht möglich ist. Dort, wo sich die Autoren mit dieser Problematik beschäftigen (S. 254 f.) ist die einzige Kritik an dem Werk angebracht: Zu sehr wird diese „schnelle“ Entscheidung als unabdingbar notwendig in bestimmten Situationen dargestellt, ohne deutlich zu machen, dass es sehr wohl in vielen Fällen möglich (und zumutbar) ist, intensiver nachzudenken, bevor schwerwiegende, ggf. Menschenrechte verletzende Entscheidungen getroffen werden. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat diese Unterscheidung zwischen „schnellem und langsamen Denken“ in seinem Buch[1] sehr gut herausgearbeitet (s. dazu auch den Beitrag von Feltes und Jordan („Schnelles und langsames Denken im Polizeiberuf“) im Handbuch für Polizeimanagement (2017)[2].

Das Buch von Hermanutz und Litzke ist zwar primär an Polizeibeamte gerichtet (die lernen sollen, bessere Vernehmungen durchzuführen), es sollte aber auch und gerade von Staatsanwälten und Richtern, wenn nicht gelesen, sondern zumindest zur Kenntnis genommen werden. Dann würden sie ihr oftmals unbeschränktes Vertrauen in die Ermittlungen der Polizei und die (meistens Nicht-) Ermittlungen der StA vielleicht häufiger hinterfragen, auch wenn dies im Justizalltag in der Regel Mehrarbeit bedeutet.

Insgesamt ist diesem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen – im Interesse der Arbeit der Ermittlungsbehörden, aber auch in unser aller Interesse, denn Fehlurteile, die durch falsche Aussagen und Lügen zustande kommen, kann niemand wollen.

Rezensiert von: Thomas Feltes


[1] Schnelles Denken, langsames Denken. München, 2012

[2] https://www.researchgate.net/publication/314159302_Schnelles_und_langsames_Denken_im_Polizeiberuf