Toni Böhme – Das strafgerichtliche Fehlurteil – Systemimmanenz oder vermeidbares Unrecht? – Rezensiert von: Thomas Feltes

Böhme, Toni; Das strafgerichtliche Fehlurteil – Systemimmanenz oder vermeidbares Unrecht? Eine Untersuchung zu den Ursachen von Fehlurteilen im Strafprozess und den Möglichkeiten ihrer Vermeidung; Nomos-Verlag Baden-Baden, 2018, 379 S., Gebunden, ISBN 978-3-8487-5285-0, 99.- Euro.

Einigkeit herrscht in Wissenschaft und Praxis darüber, dass es auch im deutschen Strafverfahren Fehlurteile gibt. Aber was ist eigentlich ein „Fehlurteil“ und wie (und warum) kommt es zustande?

Sabine Rückert hat in einem Beitrag für die ZEIT folgendes geschrieben: „Wie oft es in Deutschland tatsächlich zu Fehlurteilen aufgrund falscher Beschuldigungen kommt, wird nicht erforscht. Im Gegenteil – für Gerichte, Staatsanwaltschaften und sogar für die Wissenschaft sind Fehlleistungen der Strafjustiz kein Thema. …  Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, schätzt in seinem Strafprozessrechtskommentar vom Mai 2011 die Quote aller Fehlurteile auf ein ganzes Viertel. Den Löwenanteil vermutet er bei jenen Fällen, bei denen es wenige oder gar keine Beweise für die angezeigte Tat gibt und „Aussage gegen Aussage“ steht. … Als eine der Hauptursachen für Justizirrtümer hat Eschelbach die Vorverurteilung des Angeklagten durch die – im Schulterschluss mit der Staatsanwaltschaft – agierenden Richter ausgemacht. Diese verließen sich allzu oft auf den Inhalt der Ermittlungsakte und eröffneten im Vertrauen auf die Arbeit der Staatsanwälte das Hauptverfahren. Die Fixierung auf die – den Angeklagten belastende – Akte führe dazu, dass in Deutschland die Freispruchsquote unter drei Prozent liegt. … Am Anfang eines Strafprozesses, der in ein Fehlurteil mündet, steht oft eine nicht erkannte Falschbeschuldigung. Dabei entfaltet die Lüge ihre Wirkung umso durchschlagender, je präziser sie sich den Erwartungen der Belogenen anpasst.“[1]

Obwohl Rückert die Polizei hier nicht explizit nennt, ist jedem klar, dass auch sie gemeint ist und gemeint sein soll, denn das Thema Fehlurteil sollte auch und besonders die Polizei und dort vor allem die Kriminalpolizei beschäftigen – oder man sollte sagen: „muss“, denn tatsächlich dürfte immer noch von vielen ein „Fehlurteil“ vor allem dann angenommen werden, wenn das Gericht trotz der eigenen, doch so akribischen Ermittlungen nicht zu einer Verurteilung des Angeklagten kommt. Im der Realität dürfte die umgekehrte Variante deutlich häufiger anzutreffen sein: Angeklagte werden verurteilt, obwohl die Ermittlungen unzureichend sind, einfach weil das Gericht von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist.

Mit dem „Mysterium“ Fehlurteil beschäftigt sich die Tübinger Dissertation. Was sind die Ursachen von Fehlurteilen im Strafprozess? Wie häufig kommen solche Fehlurteile vor? Und, welche Möglichkeiten, Fehlurteile zu vermeiden bieten sich? Die vorliegende Arbeit untersucht diese Fragen aus dogmatischer und empirischer Perspektive. Neben der Frage der Häufigkeit von Fehlurteilen und einem Überblick über die Möglichkeiten der Fehlerkorrektur im Strafverfahren bildet die empirische Untersuchung der Ursachen und Vermeidungsmöglichkeiten von Fehlurteilen das Herz der Arbeit. In diesem Rahmen hat der Autor zunächst zentrale, allerdings schon ältere Studien zu Fehlurteilen ausgewertet und die gefundenen Ergebnisse kategorisiert und systematisiert. Zur Überprüfung der Aktualität dieser Ergebnisse und zu ihrer Vertiefung hat der Autor Experteninterviews mit zehn Strafrichtern an Rechtsmittelgerichten durchgeführt. Die gewonnenen Erkenntnisse dienten als Grundlage für die Diskussion der Frage, wie Fehlurteile künftig besser vermieden werden können.

Im Ergebnis kommt der Autor zu durchaus erstaunlichen, wenn auch für den erfahrenen Strafprozessrechts-Experten und Verteidiger zu nicht unerwarteten Ergebnissen. Das zentrale Problem des Strafprozesses besteht in der richtigen Sachverhaltsfeststellung – und nicht in der Rechtsanwendung, wie viele Kriminalisten meinen. Die Hauptfehlerquellen sind, so die Studie von Böhme – „die Schwäche des Personalbeweises, die polizeiliche Ermittlung, die gerichtliche Aufklärung und die Beweiswürdigung“ (S. 338).

Richtern fehlen zu oft, auch dies stellt Böhme fest, aussagepsychologische, kriminalistische und forensische Fachkenntnisse. Diese werden zudem in der Ausbildung nicht vermittelt, es sei denn, die Praktiker besuchen unseren weiterbildenden Masterstudiengang „Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft“, www.makrim.de. Zudem konserviere der Strafprozess das „technische Niveau der 50er Jahre, als Schreibmaschinen en vogue waren. Immerhin gelang schon die Umrüstung auf PCs“ (S. 339).  Weitergehende und wichtige technische Möglichkeiten der auditiven Dokumentation aller Aussagen werden aber weder meist im Ermittlungs- noch im Strafverfahren genutzt.

So erscheint vor dem Hintergrund der für die Betroffenen dramatischen Auswirkungen einer Verurteilung fast schon archaisch, dass die Verhandlungen vor Gericht (und damit bspw. auch alle Zeugenaussagen) weder protokolliert, noch aufgezeichnet werden. Ein Verteidiger muss schon sehr gut im Mit-Stenografieren sein, wenn er hier mit den Berufsrichtern mithalten will – und das aus der Psychologie bekannte Phänomen der „selektiven Wahrnehmung“ dürfte hier leider allzu oft anzutreffen sein.

Fehler vermeiden kann nur der, der ihren Entstehungsprozess und die begünstigenden Faktoren kennt und von Vermeidungsstrategien weiß. Fehlurteile sind dem Strafprozess systemimmanent – eine Einsicht, die Böhme wiedergibt, die aber leider viel zu wenig verbreitet ist. Falschaussagen sind dabei die wohl häufigste Quelle von Fehlurteilen – ganz gleich, ob sie bewusst oder unbewusst gemacht wurden. Und wenn diese Falschaussagen dann noch in ein vorurteilsbehaftetes Raster passen (wie z.B. bei einschlägig vorbelasteten Angeklagten), dann wird es nur sehr selten möglich sein, sie zu entlarven. Zumal Richter auch – so Böhme (S. 340) aufgrund der Aktenlektüre im Zwischenverfahren voreingenommen sind. Diese Voreingenommenheit wird eben durch oftmals einseitige polizeiliche Ermittlungen hervorgerufen – so die von Böhme befragten Strafrechtsexperten (Richter an Rechtsmittelgerichten).

Zu den vermeidbaren Fehlerquellen rechnet Böhme „polizeiliche Ermittlungsfehler bzw. Ermittlungsunzulänglichkeiten (insbesondere zu spät einsetzende, ungenügend vorgenommene oder eingleisige Ermittlungen)“ (S. 340). Wenn dann noch die unkritische Übernahme dieser Ermittlungsergebnisse, die Nichtausschöpfung vorhandener Beweismöglichkeiten oder die vorschnelle Ablehnung von Beweisanträgen durch das Gericht hinzu kommen, dann ist das Ergebnis eben ein Fehlurteil – und selbst wenn dieses in einem späteren Rechtsmittelverfahren, meist Jahre nach der Verurteilung, aufgehoben werden sollte, so ist dann das Schicksal des Verurteilten in der Regel längst besiegelt – auch hierauf weit der Autor in seiner beeindruckenden Studie hin.

Im Ergebnis legt Böhme eine Arbeit vor, die die Justiz, die Rechtspolitik, vor allem aber die (Kriminal-) Polizei auf ihre Verantwortung hinweist, die sie den betroffenen Angeklagten gegenüber, aber auch der Gesellschaft, die an ein funktionierendes Rechtssystem glaubt, haben. Die Studie gibt reichlich Anlass zum Nachdenken – oder sollte man besser sagen: sollte geben? Denn dass diese Arbeit tatsächlich etwas in der Rechts- und Polizeipraxis ändern wird, ist (leider) eher unwahrscheinlich.

[1] https://www.zeit.de/2011/28/DOS-Justiz

Rezensiert von: Thomas Feltes