Matthias Müller – Vergeltungsstrafe und Gerechtigkeitsforschung. Versuch über die zweckrationale Legitimation der tatproportionalen Strafe – Rezensiert von: Holger Plank

Müller, Matthias[1]; Vergeltungsstrafe und Gerechtigkeitsforschung. Versuch über die zweckrationale Legitimation der tatproportionalen Strafe [2]; ISBN: 978-3-16-155989-1, 211 Seiten, erschienen im Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2019, Reihe: Freiburger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Band 24, 74.- €

Der „Zweckgedanke im Strafrecht“, zugleich Titel der Marburger Antrittsvorlesung Franz von Liszts aus dem Jahr 1882 (bekannter als „Marburger Universitäts­pro­gramm“), hat die Strafrechtswissenschaft verändert. Hieraus entwickelte sich ein „Schu­lenstreit“ zwischen den beiden Polen Schuld- und Präventionsstrafrecht. Die erste, „klassische“ Position betrachtete Strafe als „absolut“[3]. Sie müsse „um ihrer selbst willen sein, weil es Schuld im Sinne eines Kant‘ schen Imperativs auszugleichen“ gelte. Die zweit­ge­nannte, „moderne“ Position verfolgt eine „relative Straftheorie“, nach der Strafe „ab­hängig von Funktionen und Zwecksetzungen der Prävention“ sei.[4] Dieser Schu­len­streit gedieh in der Moderne dogmatisch sogar triadisch und pendelt kasuistisch zwi­schen den Posi­tionen „rechtsstaatliche Grenzziehung, sozial­staatliche Reso­ziali­sierung und gesellschaftliche Selbstverteidigung“[5] aus.

Müller greift mit seiner Schrift (vgl. Inhaltsverzeichnis) diese dogmatischen Über­legungen auf. Er hinterfragt dabei die Kritik am „Prinzip der Vergeltung“ und ver­sucht die Wirkungen einer an der Tatschwere bemessenen Strafe sowohl anhand straf­theo­re­tischer Überlegungen als auch auf der Grundlage empirischer Er­kenntnisse der sozial­psychologischen Gerechtigkeitsforschung interdisziplinär zu erklären. Damit wandelt er forschungsleitend gewissermaßen auch auf den Spuren Franz von Liszts, der mit seinem Modell einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ strafrechtswissenschaftliche Dog­matik durch interdisziplinäre empirische Erkenntnisse der empirischen, nicht-juristischen Kriminalwissenschaften (Sozialwissenschaften) fort­entwickeln wollte. Müller stellt dabei die Frage, ob es nicht „zweckrationale Aspekte gebe, die in einer auf­geklärten Gesellschaft, in der staatliches Strafen (schon aufgrund des massiven Eingriffs in individuelle Grundrechtspositionen) eines legitimen Zwecks bedarf, an die Stelle früherer trans­zendentaler Erklärungsmuster treten und eine funktionale Be­gründung der Vergeltungs­strafe ermöglichen“ könnten. Schließlich sei „zu allen Zeiten und durch alle Kulturen hindurch das Prinzip der Vergeltung die Triebfeder men­schlichen Strafens“[6] (S. 2) gewesen und sei es nach wie vor, denn „Strafe gelte als Ausdruck vergeltender Ge­rechtigkeit und damit Reaktion auf norm­widriges Ver­hal­ten.“[7] Das „Vergeltungs­prinzip“ drücke sich letztlich ja auch aktuell de lege scripta aus, denn „die Schuld des Täters sei Grundlage für die Zumessung der Strafe“ (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB).

Interdisziplinarität heißt bei Müller nicht nur aber vor allem Beiziehung sozial­psychologischer und philosophischer Befunde, u. a. zur Gerechtigkeit und Wirkung der Straftat wie auch der Strafwirkung. Aber darüber hinaus kommt z. B. auch die ver­gleichende Sprach­wissenschaft zur An­wendung, jedenfalls insofern, als die Begriffe „Vergeltung“ und „Strafe“ etymologischer Deutung unterzogen werden. Derart dargelegt „weist der Begriff Vergeltung einen (objektiven) Bedeutungsgehalt auf, der als Herstellung von Propor­tionalität zwischen Tat und Strafe bezeichnet werden könne.“ Müller versucht sodann, diese Befunde disziplinübergreifend in strafrechts­wissen­schaftliche Modelle namhafter Strafrechts­lehrer zur Legitimation der tatpro­portionalen Strafe, z. B. in die „funktionale Straf­begründung“ seines akademischen Lehrers und Doktorvaters Frisch und anderer, wie z. B. v. Hirsch oder Hörnle zu integrieren. Hierbei greift er aber zudem auch auf Zeitgenossen von Liszts, z. B. auf das „Strafkonzept“ des „Crimi­nalisten und Rechts­philosophen“ Adolf Merkel zurück, der in seiner „funk­tionalen Straftheorie“ den Vergeltungs- und den Präventions­gedanken verbunden hatte und dabei hypothetisch davon ausging, „Men­schen hegten den Wunsch und die Über­zeugung, dass ein jeder das bekomme, was er verdiene.“ Diese Hypothese korres­pon­diere, so Müller, mit dem von Melvin J. Lerner (1966) begründeten Ansatz eines „Gerechte-Welt-Glaubens“, wonach „Men­schen das Bedür­fnis haben, an­zunehmen, sie lebten in einer Welt, in der jeder das bekommt, was er verdient und verdient, was er bekommt (Gerechtigkeitsparadoxon).“

Auf der Grundlage dieser konzeptionellen Entlehnungen, im Schwerpunkt beschäftigt er sich mit der Theorie der „positiven Generalprävention“, versucht Müller schließlich abschließend ein eigenes Modell zur zweckrationalen Legitimation der tatpro­por­tionalen Strafe (tpS) zu entwickeln. Er legt hierbei besonderen Wert auf die Begründung eines die tpS tragenden Zwecks, findet ihn in der „Aufrechterhaltung des Rechts­zustandes“[8], und widmet sich sodann der Frage, ob die tpS ein geeignetes und er­forderliches Mittel zur Erreichung dieses Zwecks sei. Hierbei geht er betont interdisziplinär vor und bedient sich sehr tiefreichend sowohl empirischer (sozialpsychologischer, hierzu bedient er sich bei der Entwicklung eines eigenen experimentellen Versuchsszenarios der Arbeiten von Carolyn J. Hafer zur „Gerechte-Welt-Hypothese“, welche die amerikanische Psychologin im Rahmen des „Raub­überfall-Experiments“ getestet hatte) als auch normativer Analysemethoden. Normativ greift er bei der Tatfolgenanalyse v. a. „negativ“ auf Hegel und Fichte zurück. Sein Fazit: „Der auf eine funktionale Strafbegründung angelegte Ansatz der positiven Generalprävention[9] weise in die richtige Richtung: Auch die Vergeltungs­strafe kann nur in Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, insbesondere mit der Sozial­psychologie, zweckrational begründet werden.“ Ein interdisziplinäres Vorgehen sei unerlässlich. Insofern plädiert Müller dafür, die sozialpsychologische Gerechtigkeits­forschung und die rechtswissenschaftliche Strafzweckdiskussion künftig akademisch stärker mit­einander zu verknüpfen. Dieser interdisziplinären Forderung kann man sich nur anschließen, vereinzelt haben Autoren in jüngerer Vergangenheit diesen Ansatz im Rahmen einer Diskussion rund um die „Vergeltung als Strafzweck“ auch schon aufgegriffen, so z. B. Andrissek (2017, vgl. Besprechung im PNL) oder auch Walter (2011).

Müllers Ansatz ist sehr lesens- und beachtenswert. Die interdisziplinären sozial­psy­cho­logischen, experi­mentellen Entlehnungen könnten die Strafrechtsdogmatik insgesamt durchaus befruchten. Schon deshalb wünscht man dem Werk viele Leser!

[1] Dr. iur. Matthias Müller, seit 2013 Leiter des Rechtsamtes der Stadt Freiburg und seit 2018 zudem Geschäftsführer der Stadtwerke Freiburg GmbH.

[2] Zugleich Dissertation, angenommen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2018. Betreut von Prof. em. Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang Frisch, Direktor a. D. des Instituts für Strafrecht und Strafpro­zessrecht – Abt. 1 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Siehe Website des Verlags.

[3] Kubink (Dossier Innere Sicherheit, BpB, 2012) spricht in diesem Zusammenhang von tatbezogenen, „moralisch-ethischen staatlichen Strafansprüchen an die Person“.

[4] Kubink (ebd.) führt hierzu aus, dieser Ansatz könne „einerseits individuell auf den Täter ausgerichtet sein (Spezialprävention: positiv in Gestalt von Resozialisierung oder negativ in Form der Ab­schreckung) und sie kann sich andererseits an die Gesellschaft insgesamt wenden (General­prävention).“

[5] A. a. O.

[6] Unter Verweis auf Frisch, „Vergeltung, Schuldausgleich und Wiederherstellung des Rechts – Zur Idee der Strafe“, in: Koslowski (Hrsg.): Endangst und Erlösung 2. Rechtfertigung, Vergeltung, Vergebung, Erlösung, Verlag Wilhelm Fink, München, 2012, S. 53 – 79 (68).

[7] BVerfGE 109, 133, 168 („Langfristige Sicherheitsverwahrung“), Urteil des 2 Senats vom 5. Februar 2004.

[8] Vielleicht auch übersetzbar mit „Wiederherstellung des Rechtsfriedens“.

[9] Bei der Generalprävention in Feuerbach`scher Prägung, ist die Wirkung der Strafe auf die Allgemeinheit entscheidend. Positiv interpretiert dient Strafe hierbei dazu, das Rechtsbewusstsein und das Vertrauen der Allgemeinheit zu stärken. In einer Gesellschaft, welche Rechtsbrecher bestraft, werden sich die übrigen Mitglieder wohl fühlen und selbst die Gesetze einhalten.

Rezensiert von: Holger Plank