Norbert Konrad, Christian Huchzermeier, Wilfried Rasch: Forensische Psychiatrie und Psychotherapie. Rechtsgrundlagen, Begutachtung und Praxis. 5. Aufl., rezensiert von Thomas Feltes

Norbert Konrad, Christian Huchzermeier, Wilfried Rasch: Forensische Psychiatrie und Psychotherapie. Rechtsgrundlagen, Begutachtung und Praxis. 5., erw. und überarb. Auflage, Kohlhammer, Stuttgart 2019, 582 Seiten, 149.- Euro.

Der im Jahr 2000 verstorbene Psychiater Wilfried Rasch[1] war es, der psychiatrisch-psychologische Begutachtungen im Rahmen von Strafverfahren mit Würfeln verglich: Die Chance, ein „richtiges“ Ergebnis zu bekommen liege bei 50:50. Wilfried Rasch selbst empfand sich immer als Mittler zwischen der klinischen und juristischen Praxis. Er versuchte, die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Jurisprudenz und Psychowissenschaftlern zu überwinden. Rasch hätte, so wird im Vorwort zur 4. Auflage (2013) betont, „den Paradigmenwechsel bedauert, der sich in der letzten Dekade in der deutschen Justizlandschaft vollzogen hat: von der Freiheit zur Sicherheit, vom Schuld-zum Präventionsstrafrecht, von der Resozialisierung zur Gefahrenabwehr um (fast) jeden Preis, und von der entlastenden Bewertung ungünstiger Entwicklungsbedingungen zur Verantwortungszuschreibung“ (S. 13). Als Grund gibt Norbert Konrad aus Berlin (der zusammen mit Christian Huchzermeier aus Kiel das von Rasch begründete Standardwerk fortführt) an, dass der heutigen Sachverständigengeneration ganz überwiegend die Erfahrung des Nationalsozialismus sowie des Zweiten Weltkrieges fehle: „Die persönliche Erfahrung, wie schnell auch der Normalbürger in schuldhafte Verstrickungen geraten kann und ungewollt körperliches und seelisches Leiden zugefügt wird, wurde abgelöst von Friedenszeiten mit gesellschaftlichem Auf- und Abschwung. In wirtschaftlichen Krisenzeiten werden soziale Abweichler vermehrt ausgegrenzt“. Diese persönliche Erfahrung fehlt auch Kriminologen und Polizeiwissenschaftler, sie fehlt vor allem aber Richtern und Staatsanwälten, für die Sachverständige im Strafverfahren oftmals eher ein Hindernis (für eine rasche und eindeutige Erledigung von Verfahren) als eine Entscheidungshilfe darstellen.

Sieht man einmal von den „Haus- und Hofgutachtern“ ab, den viele Gerichte haben[2], so sind es nur die (sehr) spektakulären Verfahren, in denen sich Gerichte tatsächlich wissenschaftlich ausgewiesen Gutachtern bedienen. Im Alltagsgeschäft sind es eher die Gerichtsgeher der aus dem Boden geschossenen Gutachtenbüros, die dem Gericht das „passende“ Gutachten liefern. Kommt dann noch ein (Pflicht-)Verteidiger hinzu, der ebenfalls vom Wohlwollen des Gerichts bzgl. seiner nächsten Bestellung abhängt, dann sind Justizskandale vorprogrammiert, die leider nicht immer (oder sehr verspätet wie in den Fällen Gustl Mollath und Harry Wörtz) ans Licht kommen. Dabei ereignen sich Fehlurteile nach Schätzungen eines Richters am Bundesgerichtshof bei jedem vierten Strafprozess, und bei den meisten dürften Sachverständige mitgewirkt haben[3]. Richter verkennen, dass sie aktuell dabei sind, den enormen Vertrauensvorschuss der Gesellschaft zu verspielen[4], Gutachter verkennen, dass sie dafür eine Mitverantwortung tragen, auch wenn (nicht nur dogmatisch) der Richter bzw. das Gericht für das finale Urteil verantwortlich ist.

Wenn wir früher[5] kritisiert haben, dass sich psychiatrische Sachverständige vor allem bei Rückfallbegutachtungen oftmals beliebiger Methoden bedienen, die sie zudem dem Gericht nicht oder nur unzureichend verdeutlichen, so hat sich die Situation inzwischen gebessert, auch aufgrund der Tatsache, dass entsprechende Richtlinien und Qualitätsstandards entwickelt wurden. Dennoch ist es vor allem im justiziellen Alltagsgeschäft abseits der großen und spektakulären Fälle eher die Ausnahme als die Regel, dass sich Sachverständige die Mühe geben, dem Beschuldigten und dem Gericht gleichermaßen gerecht (!) zu werden. Unausrottbar scheint auch die Angewohnheit vieler Sachverständiger, die in den Akten befindlichen Erkenntnisse aus früheren Begutachtungen fortzuschreiben oder fehlende Informationen auch für die aktuelle Begutachtung nicht zu beachten, obwohl sie vom Probanden vorgebracht wurden. Auf diese Weise werden „Aktenkarrieren“ kreiert, die mit den aktuellen Lebensumständen des Probanden wenig zu tun haben. Selbst bei offensichtlichen Diskrepanzen zwischen früheren Begutachtungen und den eigenen Wahrnehmungen in der Exploration werden die früheren Erkenntnisse des Kollegen allenfalls vorsichtig in Frage gestellt, wenn die Widersprüche nicht gänzlich relativiert werden – getreu dem Motto „eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“.

Umso wichtiger ist das hier besprochene Buch: Es sollte, um das vorweg zu nehmen, nicht nur in jeder Gerichtsbibliothek stehen; noch besser wäre es, wenn jede Strafkammer (gleich ob „klein“ oder „groß“) ein Exemplar zur Verfügung hätte. Dann wäre die Wahrscheinlichkeit, dass doch einmal ein Vorsitzender oder auch ein Beisitzer sich vor einem Verfahren, in dem psychologisch-psychiatrische Gutachten anstehen, angemessen informieren würde, oder spätestens, bevor der Sachverständige sein Gutachten abgibt, damit man dann die richtigen Fragen stellen kann.

In dem hier besprochenen Standardwerk der Forensischen Psychiatrie, „der“ Klassiker unter den forensisch psychiatrischen Lehrbüchern, werden Grundbegriffe an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Rechtswissenschaft systematisch erklärt. Gleichzeitig wird auch ein umfassendes Basis- und Detailwissen vermittelt. Dass sich der Band dabei primär an (zukünftige) Gutachter richtet, sollte aber Juristen nicht davon abhalten, sich näher mit dem Inhalt zu beschäftigen. Denn die Autoren stellen auch die neuesten Entwicklungen in der Prognosebegutachtung und in der Forensischen Psychotherapie sowie die unterschiedlichen forensischen Behandlungsbereiche dar. Das Buch basiert auf den umfangreichen Erfahrungen der Verfasser als forensische Therapeuten und Gutachter in unterschiedlichen Rechtsgebieten – ein Praxisbezug, der mit zahlreichen Fallbeispielen betont wird. Als erstes Forensisches Fachbuch bezieht sich dieses Lehrbuch außerdem auf forensisch relevante Neuerungen durch die ICD-11.

Aufgeteilt ist das Werk in acht Kapitel. Nach den ethischen Grundlagen (Kap. 1) werden die kriminologischen (Kap. 2) und die juristischen Grundlagen (Kap. 3) behandelt, bevor ausführlich die psychiatrischen Grundlagen und dabei die einzelnen Störungen behandelt werden. In dem anschließenden 5. Kapitel geht es dann konkret um die forensisch-psychiatrische Begutachtung im Strafrecht und (im Kap. 6) im Zivilrecht bzw. im Sozialrecht (Kap. 8). Dazwischen wird in einem knappen Kap. 7 die forensisch-psychiatrische Therapie vorgestellt; nicht unwichtig für eine richterliche Entscheidung, denn bei einer (lege artis erstellte) Prognose ist immer auch darauf einzugehen, ob und ggf. welche Therapie notwendig oder sinnvoll ist, um eine etwaige Haftstrafe oder Unterbringung abzukürzen. Denn gerade bei psychisch kranken oder gestörten Straftätern liegt hier die große Chance: Eine passende Therapie kann das Rückfallrisiko (z.B. bei Sexualstraftätern) ganz erheblich senken.

Wilfred Rasch hatte die Idee, der Begutachtungskunde eine deliktbezogene klinische Kriminologie anzuhängen (Vorwort zur ersten Auflage, S. 19). Davon sind in der aktuellen Auflage „nur“ kriminologische Grundlagen (Kap. 2, S. 34 bis 110) übriggeblieben. Dieses Kapitel erscheint an einigen Stellen nicht ganz auf dem aktuellen Stand der kriminologischen Diskussion zu sein; vielleicht wäre es hier hilfreich, bei einer Neuauflage einen „gestanden“ Kriminologen mit ins Autorenboot zu holen – was den Vorteil hätte, dass auch der interdisziplinäre Diskurs zwischen Juristen, Sozialwissenschaftlern, Psychiatern und Neurowissenschaftlern stärker eingebaut werden könnte.

Insgesamt aber verdient dieses Werk tatsächlich ein „summa cum laude“, also ein höchstes Lob – und dem Verlag der Dank, es zu veröffentlichen – wenn auch zu einem Ladenpreis, der deutlich überhöht ist.

Thomas Feltes, Februar 2020

[1] Eine Kurzbiografie findet sich hier: http://www.gerichts-psychiatrie.de/prof-dr-wilfried-rasch.html

[2] Vgl. Michael Alex, Thomas Feltes: „Ich sehe was, was Du nicht siehst – und das ist krank! Thesen zur psychiatrisierenden Prognosebegutachtung von Straftätern. In: Monatsschrift für Kriminologie 2011, S. 280-284.

[3] https://www.cicero.de/innenpolitik/fehlurteile-der-justiz-da-muss-das-kamel-durch-das-nadeloehr/59275

[4] https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/fehlurteile-strafprozess-richter-entscheidungspsychologie/

[5] Thomas Feltes, Michael Alex: Wer gefährlich ist, muss weg. Wer hilft beim Unterbringen angeblich gefährlicher Straftäter?  In: N. Saimeh (Hsrg.), Respekt – Kritik – Entwicklung. Psychiatrie-Verlag Köln 2012, S. 73-87.