Sebastian Zimmermann: Fifty Shrinks. Portraits aus New York. Rezensiert von Thomas Feltes

Sebastian Zimmermann: Fifty Shrinks. Portraits aus New York Kohlhammer-Verlag Stuttgart, 2019, 116 S., 50 Abb., ISBN 978-3-17-036446-2, 49.- Euro

„Die einzig normalen Menschen sind die, die man nicht besonders gut kennt“ (Alfred Adler)

Der großformatige Bildband (30,5 x 23,5 cm im Querformat), der sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch verfügbar ist, stellt 50 New Yorker Psychiater auf eine ganz besondere Art und Weise vor: Ein Bild auf der rechten Seite des Buches mit der Person in seiner/seinem Behandlungsraum bzw. „Analysezimmer“  wird ergänzt durch einen in „Ich-Form“ verfassten Text dazu auf der linken Seite des Buches[1]. So wird vordergründig der Voyeurismus derjenigen befriedigt, die immer schon mal wissen wollten, wie es in so einer Psychiater-Praxis aussieht. Vor allem aber handelt es sich um den  überaus gelungenen Versuch des vielfach preisgekrönten Fotografen Sebastian Zimmermann[2], die Protagonisten dieses Bildbandes, also Psychiaterinnen und Psychiater, nicht nur zu porträtieren (das Wort „Abbildung“ wäre in diesem Kontext absolut unpassend), sondern ihnen auch die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeit, ihre Motive, ihr Leben in eigenen Worten vorzustellen.

Der psychotherapeutische Praxisraum ist ein geschützter Ort, an dem Geheimnisse vertraulich preisgegeben und tiefverborgene Gefühle offenbart werden können. Aber es ist auch ein offener Raum, in dem zahlreiche Menschen ein- und ausgehen. Als exklusiver Arbeitsbereich des Therapeuten dient er dazu, regelmäßig alte und neue Patienten willkommen zu heißen, die Beratung und Behandlung suchen. Nach welchen Erwägungen richtet ein Psychotherapeut seinen Behandlungsraum ein? Inwieweit prägt seine theoretische Ausrichtung dessen Einrichtung und Innendekor? Sebastian Zimmermann verbindet einfühlsame Interviews mit New Yorker Psychotherapeuten mit ausdrucksstarken Fotografien ihrer Personen und Praxisräume und ermöglicht dadurch einen faszinierenden Einblick in deren Seelenleben. Die beeindruckende Vielfalt an Raumstimmungen, Einrichtungsstilen und Ambiente spiegelt sich dabei in einem breiten Spektrum therapeutischer Konzepte und Orientierungen wider. Die von Zimmermann geschaffenen Portraits belegen in ihrer Individualität die Erkenntnis, dass die spezifische Persönlichkeit des behandelnden Therapeuten ein zentraler Faktor im Heilungsprozess ist. Genau diese Persönlichkeit wird in den Fotografien und Texten des Buches deutlich erkennbar. Auf die Frage allerdings, ob die Person entscheidender für den Erfolg der Therapie ist als die gewählte Methode gibt der Band keine Antwort.

Zumindest in der deutschen Version des Buches verwendet der Autor im Übrigen das Wort „Psychiater“ gleichbedeutend mit Psychotherapeut, auch wenn dieser letzte Begriff eine Berufsbezeichnung für psychotherapeutisch tätige Ärzte, Psychologen und Pädagogen mit einer auf dem Studium aufbauenden fachkundlichen Weiterbildung in Psychotherapie ist, Psychiater hingegen immer Ärzte sind. Die englische Version konnte dazu leider nicht überprüft werden, weil der Kohlhammer-Verlag nur die deutsche Ausgabe vertreibt.

Die Idee zu dem Buch entwickelte der Fotograf, der selbst Psychiater ist (sein eigener Behandlungsraum ist übrigens nicht in dem Buch enthalten), als er 2001 in New York mit dem Aufbau seiner eigenen psychiatrischen Praxis begann. „Jede Woche eröffnen sich in meinem Büro neue Welten. An einem typischen Tag kommen die unterschiedlichsten Menschen zur Tür herein, von einem angstgeplagten Wall Street-Broker zu einem überforderten Jazzkomponisten bis hin zu einem depressiven, aber ehrgeizigen Oberstufenschüler und einem manischen Poeten in den Achtziger,“ (S. 5). Die Analysezimmer der Psychotherapeut*innen brauchen nicht mehr als eine Sitzgelegenheit für Arzt und Patient – und genau deshalb können diese Räume so unterschiedlich und so individuell ausfallen, wie sie in diesem Band dargestellt sind.

Neben den Bildern sind die Fallschilderungen, die einige der abgebildeten Therapeuten liefern, überaus lesenswert. Sie machen deutlich, was Psychotherapie und Psychoanalyse leisten können, aber auch, wie schwierig und aufwändig einige der Therapien sein können. Da ist z.B. der Fall des neunjährigen Jungen, der mitansehen musste, wie die Türme des World Trade Center 2001 einstürzten. Seine Therapeutin nannte er „Gefühlsärztin“. Die Therapeutin schreibt dazu: „Trauma-Symptome können über eine lange Zeit andauern. Umso mehr überraschte es mich, dass mein junger Patient nach nur achtzehn Monaten frei von Symptomen war“ (S. 22). Oder da ist der Therapeut, der früher Musiker war und nun als Psychiater vor allem kreative Menschen behandelt. Für ihn ist Lachen die beste Therapie (S. 36 f.). Ein anderer war bei einem bestimmten Patienten immer müde, ohne sich dies erklären zu können. Bis seine Patientin ihm erklärte, er sei eine Schlafmütze. „Ich muss erwähnen, dass diese Therapie Jahre in Anspruch nahm, welche die Patientin auf meiner Couch verbrachte. Leider sind diese Langzeittherapien heutzutage trotz ihrer Wirksamkeit rückläufig. Es dauert sehr lange, bis sich der Unterschied herauskristallisiert, ob man ein übermüdeter Analytiker ist oder ein Schauspieler, der eine vom Unterbewusstsein seiner Patientin vorgegebene Rolle übernimmt“ (S. 24).

Wer neugierig genug ist (und das sollte eigentlich jeder sein), mehr über Psychiater und ihre Arbeitsbedingungen erfahren möchte und dann vielleicht auch noch die Bilder als Anlass und Anregung zum kontemplativen Nachdenken nimmt, wie und warum diese Räume so eingerichtet sind, wie sie es sind, der hat hier ein Buch zur Verfügung, das über den ersten Lese- und Betrachtungsspaß hinweg auch längerfristig Freude bereiten wird.

Ein kleiner Nachtrag: Warum der Verlag den englischen Titel übernommen hat, obwohl der Begriff „shrink“ (umgangssprachlich für „Seelenklempner“) hierzulange selbst unter Fachleuten nicht unbedingt geläufig ist, bleibt sein Geheimnis – zumal „shrink“ als Verb „schrumpfen“ bedeutet. Und auch die Tatsache, dass man die pdf-Version nicht kostenlos bekommt, wenn man die Druckversion kauft, ist ärgerlich. Das können andere Verlage besser.

 

Thomas Feltes, Januar 2020

 

 

[1] Eine Auswahl der Fotos kann man sich hier ansehen: http://www.fiftyshrinks.com/portraits, ein Autoreninterview findet man hier: https://blog.kohlhammer.de/psychologie/autoreninterview-mit-sebastian-zimmermann-new-york-zu-seinem-bild-und-textband-fifty-shrinks-portraits-aus-new-york/

[2] Sebastian Zimmermann, MD (medical doctor), praktiziert als Psychiater in seiner Privatpraxis auf Manhattans Upper West Side und ist nebenberuflich Fotograf. Seine Arbeiten wurden u.a. in der New York Times, Daily Mail, Spiegel Online, Wiener Zeitung, L’Oeil de la Photographie, 20 Minutos, Esquire Russia und Marie Claire Taiwan veröffentlicht und in diversen Galerien ausgestellt. Zimmermann hat Fotografie am International Center of Photography (ICP), New York, sowie privat bei Arlene Collins studiert.