Schmeken, Regina: „Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU“. Rezensiert von Holger Plank

Schmeken, Regina[1]: „Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU“[2]

ISBN: 978-3-7757-4158-3, 144 Seiten, 80 Abbildungen, Halbleinen, Hatje Cantz Verlag, Berlin, 2016, 15.– €

Der „NSU-Komplex“ und seine zahlreichen offenen Fragestellungen hat seit seiner Selbstoffenbarung mit dem Selbstmord der beiden Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem angemieteten Wohnmobil nach einem Banküberfall am 04. November 2011 in Eisenach zahlreiche Institutionen, Ge­richte und Parlamente auf Bundes- und Landesebene intensiv beschäftigt. In beeindruckender Weise trägt der Bildband der Ausstellung von Regina Schmeken zu eben jener unbedingt notwendigen zivilgesellschaftlichen Aufarbeitung bei.Das öffentliche Hauptverfahren gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, die drei der Beihilfe an den Haupttaten angeklagten André Eminger, Ralf Wohlleben, Carsten Schultze sowie den Angeklagten Holger Gerlach vor dem OLG München (angeklagt waren zehn Morde in sieben deutschen Städten, zwei Bomben­an­schläge in Köln und insgesamt 15 Raubüberfälle) fand nach mehr fünf Jahren Verhandlungszeit (seit dem 06. Mai 2013) und 438 Verhandlungstagen am 11.07.2018 mit dem bekannten Urteil seinen Abschluss. Die schriftliche Be­gründung der Schuldsprüche durch die Staatsschutzkammer des OLG München steht noch aus.[3] Erst dann kann das von verschiedenen Seiten[4] bereits an­gekündigte Revisionsverfahren beginnen. Dennoch sind nach wie vor viele Fragen zu dem Trio, möglichen Unterstützern und zur Rolle der Nach­richtendienste, Strafverfolgungs- und Justizbehörden in diesem Verfahren offen!

Zahlreiche parlamentarische Untersuchungsausschüsse, u. a. des Bundestages (I & II), Bayern, Baden-Württemberg (I), Nordrhein-Westfalen, Sachsen (I) und Thüringen (I) sowie in Brandenburg, Baden-Württemberg (II), Hessen, Meck­lenburg-Vorpommern, Sachsen (II) und Thüringen (II), beschäftig(t)en sich mit der Thematik und sehen weiteren Aufklärungsbedarf. Daneben arbeiten zahlreiche zivilgesellschaftliche Recherchenetzwerke und -verbünde nach wie vor an der Aufarbeitung des Geschehens.

In beeindruckender Weise trägt nun auch der Bildband der Ausstellung[5] von Regina Schmeken mit dem Titel „Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU“, die derzeit (vom 19.09.2019 – 23.02.2020) in Nürnberg läuft, zu eben jener unbedingt notwendigen zivilgesellschaftlichen Aufarbeitung bei. Gerade in Nürnberg, hier wurden drei der zehn feigen, rassistisch motivierten menschenverachtenden Morde begangen:

  • Enver Şimşek, erschossen an seinem mobilen Blumenstand am 09. September 2000 (1. Opfer),
  • Abdurrahim Özüdoğru, erschossen in seiner Schneiderei am 13. Juni 2001 (2. Opfer) und
  • İsmail Yaşar, erschossen in seinem Imbiss am 9. Juni 2005 (6. Opfer)

und auch das boshaft-perfide Bekenner-Video („Paulchen Panther“) dem ört­lichen Pressehaus zugespielt, hat es sich Nürnberg, die „Stadt der Menschen­rechte“, mit der Ausstellung zur Aufgabe gemacht, den Opfern und ihren Familien neben dem dauerhaften[6] auch einen zeitweiligen Erinnerungsort zu schaffen.

Die großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien, die Regina Schmeken in den Jahren 2013 und 2015/2016 an den Tatorten in acht Städten aufgenommen hat und die in der Ausstellung in „düsterer Umgebung“ des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg präsentiert werden, rufen unmittelbar ein Gefühl der „Beklommenheit“, ja der Scham beim Betrachter hervor. Schließlich konnotiert der Ausstellungstitel bewusst mit der nationalsozialistischen Propa­gandaformel „Blut und Boden[7] und spielt damit auf die Überzeugung der mit Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage, eng verbundenen Nationalsozialisten an, ein „gesunder Staat“ könne sich nur auf der Einheit von „eigenem Volk und Boden“ gründen. Die unbegreifbare Ungeheuerlichkeit sinnloser rassistischer und menschenverachtender Gewalt gegen arglose Menschen ergreift einen ebenso, wie das Mitgefühl für die Opfer, die mit der Wanderausstellung wenigstens einen zeitweiligen Erinnerungsort finden. Für die Mehrzahl der Menschen war es Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs undenkbar, dass wieder Menschen in Deutschland methodisch ermordet wurden, weil ihnen eine neonazistische Terrorgruppe die Menschlichkeit absprach, wie der Hrsg. des Bandes, Gorch Pieken, im Vorwort des wirkmächtigen Bildbandes schreibt. Als ob uns nur die Nationalität dieses unveräußerliche Merkmal verleihen könnte – wie krank ist eine solche Ideologie! Die Würde des Menschen (nicht des Bürgers!) ist schließlich unantastbar, sie ist das Wesen, der Kern menschlicher Existenz an sich!

Schon deshalb waren die Morde, wie Pieken völlig zurecht feststellt, „nicht allein ein Angriff auf Ausländer, sie waren ein Angriff auf unser Land!“

Der Ausstellungsband liefert nicht nur beklemmende Eindrücke der scheinbaren Normalität der Tatorte. Nichts „Böses“ schien hier möglich und dennoch ist es dort geschehen. In Anlehnung an Hannah Arendt erinnert man sich angesichts der Bilder an deren Diktum von der „Banalität des Bösen“.

Hans Magnus Enzensberger, der ebenso wie der Schriftsteller Feridun Zai­moğlu, die Gerichtsreporterin der Süddeutschen Zeitung und Mitherausgeberin der NSU-Prozessprotokolle[8], Annette Ramelsberger, die Ombudsfrau für die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds, Barbara John und die Kuratorin der Dresdener Ausstellung, Katja Protte, bewegende kurze Wortbeiträge zu dem Bildband beisteuern, spricht in seinem sehr lesenswerten Essay von einer be­denklichen „Mangelerscheinung“, unter der immer mehr „Bewohner des Pla­neten zu leiden scheinen“. Er beklagt den „auffallenden Niedergang des Com­mon Sense“. Dieser sei eine „eiserne Ration“, als „Notgepäck unentbehrlich“, nicht nur als ein „empfindlicher Detektor für so ziemlich alles, was gespreizt, verstiegen, aufgeblasen und unglaubwürdig“ sei. Der „Common Sense“ sei ein „geborener Skeptiker“, die politische Propaganda pralle an ihm ab, mit Ideologien wisse er wenig anzufangen und gegenüber dem Fanatismus verziehe er angeödet das Gesicht.

Seine Abwesenheit lasse sich an einer Reihe von Indizien durchaus gut „sichtbar machen“. Diesen „blinden Fleck“ könne man aber mit dem beklemmenden Bildband von Regina Schmeken regelrecht „ins Auge fassen“. Auf den Fotos seien weder „die Mörder noch die Mordopfer zu sehen.“ Auf den Aufnahmen wirke gerade „das Unauffällige, Banale und Gewöhnliche unheimlich.“ Ge­spenstisch sei gerade die scheinbare Normalität, aus der „jede Spur von Common Sense verschwunden ist“. Besser kann man die Wirkung des Bandes auf den Betrachter kaum beschreiben!

Der Bildband ist ein weiterer Teil notwendiger Aufarbeitung des NSU-Komplexes, setzt den Opfern und ihren Familien ein Denkmal und ermahnt uns alle, die Zivilgesellschaft (nicht nur in Nürnberg und den weiteren Aus­stellungsorten mit Bezug zum NSU-Komplex), die Augen stets aufmerksam offen zu halten und jedwedem Rassismus und menschenverachtender Intoleranz die Stirn zu bieten. Das gilt gerade in Zeiten, in denen hasserfüllte, beleidigende oder unerträgliche rassistische / antisemitische Beiträge regelrecht aus den virtuellen Kommentarspalten „tropfen“.

Man darf trotz angesichts dieser Umstände beklemmender Gefühle aber keines­falls die Hoffnung aufgeben. „Die Demokratie“, so hat es Harald Welzer während der letztjährigen BKA-Herbstkonferenz eindrucksvoll betont, „sei (nämlich) nicht durch ihre Feinde in Gefahr, sondern durch zu wenige Freunde!“

Holger Plank, im Februar 2020

[1] Künstlerin und Fotografin, 1955 in Gladbeck geboren, seit 1977 widmet sie ihr künstlerisches Schaffen der Schwarz-Weiß-Fotografie und stellt ihre Arbeiten seit 1980 regelmäßig aus. Sie lebt in Berlin und arbeitet u. a. seit 1986 für die Süddeutsche Zeitung.

[2] Siehe Verlags-Website des Hatje Cantz Verlags, Berlin

[3] Man nennt dies die „Urteilsabsetzungsfrist“, geregelt in § 275 StPO. Aufgrund der Dauer des Verfahrens hat die Kammer insgesamt 93 Wochen, also theoretisch noch bis Ende April 2020 Zeit, die schriftlichen Urteilsgründe zu formulieren.

[4] Kurz nach der Urteilsverkündung angekündigt von den Verteidigern der Angeklagten Zschäpe, Wohlleben, Gerlach und Eminger. Die Bundesanwaltschaft hat nur den Teilfrei­spruch des Angeklagten Eminger angefochten. Die Nebenkläger haben sich hierzu noch nicht eingelassen.

[5] Ausstellungswebsite der Museen Nürnberg, zuletzt abgerufen am 01.02.2020. Die „Wan­derausstellung“ begann im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, wo sie vom 04. November 2016 – 07. Mai 2017 stattfand (17. Juli – 14. Oktober 2018 in München, 12. Juni – 08. September 2019 in Kassel) und findet nun in Nürnberg im Dokumentationszen­trum Reichsparteitagsgelände statt. Ein vor dem Hintergrund der rechtsterroristischen Motivation der Täter „passender“, geschichtsträchtig-düsterer Ort.

[6]NSU-Mahnmal“ am Nürnberger Kartäusertor, eingeweiht am 21.03.2013, dem „Interna­tionalen Tat gegen Rassismus“

[7] Entlehnt aus Oswald Spenglers Buch „Der Untergang des Abendlandes“ aus dem Jahr 1922.

[8] Ramelsberger, Schultz, Stadler und Ramm (Hrsg.), „Der NSU-Prozess. Das Protokoll“, Kunstmann Verlag, München, 2018.